«Sie sind eine wunderbare Frau, Frau Doktor!«sagte Fritz Adam. Man sah, wie er unter seiner verschrumpelten Haut rot wurde.
«Keine Komplimente. Die machen Sie Ihrer Dora Graff, Adam. Nur halte ich es für Blödsinn, Ihrer Frau von Ehebruch zu schreiben.«»Damit es schneller geht, nur darum.«
«Mann Gottes — wollen Sie zu allem auch noch die Alleinschuld auf sich nehmen?«
«Ja. Wenn es sein muß.«
«Es muß nicht. Ich werde auch das für Sie regeln.«
«Sie? Wie können Sie denn das?«
«Mein Lieber!«Lisa Mainetti gab Adam den Brief zurück.»Hat es sich noch nicht herumgesprochen, daß ich zu allem anderen auch noch zaubern kann?«
Die Amüsiergruppe der Stube B/14 zog wieder aus. Der Berliner, der Wastl Feininger und drei andere. Sie hatten bereits bei ihrer Aus-quartierung in Sachen >Heldenklau< in Würzburg Hotelzimmer bestellt und hatten bis zum Silvestertag in einem heroischen Kampf mit der Schreibstube um einen neuen Urlaubsschein gestanden.
«Nichts!«hatte der Schreibstubenfeldwebel gebellt.»Nichts leg' ich dem Chef vor! Nachher sind wir für die Alimente verantwortlich!«
«An Schmarrn bist!«schrie der Wastl.»Mei Vaterschaft trag' i al-loa!«
Es war wieder Lisa Mainetti, die die Urlaubsscheine unterschrieb. Sie durfte es nicht, aber für eine Kontrolle genügte es, wenn neben einem Stempel eine Unterschrift stand.
Dann zog die große Stille über Schloß Bernegg. In den Zimmern saß man um die Radios und hörte die Neujahrsbotschaft von Goebbels und ein schönes Konzert, man trank dünnes Bier und hob sich das Glas Wein für den Zwölfuhrtrunk auf. Man las oder schrieb, spielte Schach oder Skat, und es war eigentlich genauso wie jeden Abend, nur ein wenig stiller, wehmütiger, nachdenklicher.
Ein neues Jahr. Das letzte des Kriegs?
Und was kam dann?
Was wird aus uns, den Menschen ohne Gesicht?
Vielleicht gab es im neuen Jahr gar kein Deutschland mehr. Aber irgendwie mußte es doch weitergehen. Man konnte doch 60 Millionen nicht einfach auslöschen.
Professor Rusch und Lisa Mainetti saßen zusammen im Chefzimmer und tranken still eine Flasche Wein. Sie hatten das Licht gelöscht und saßen sich im Dunkeln gegenüber, Schatten in den Polstersesseln, die Rusch aus seiner Wohnung hatte kommen lassen.
«Wann heiraten wir, Lisa?«fragte er unvermittelt in die Stille hinein.
«Welche Frage! Erst schreist du mich vor allen Ärzten und den Sanis an.«
«Ist meine Frage nicht eine einzige große Entschuldigung?«
«Laß erst Frieden sein, Walter. Wir wissen alle nicht, was uns noch bevorsteht. Vielleicht wird jeder glücklich sein, der dann allein steht, weil er nur sein Leid tragen muß und nicht auch noch das eines anderen.«
«Du bist die merkwürdigste Frau, die ich je gekannt habe«, sagte Rusch. Er stand auf, beugte sich über Lisa und küßte sie. Sie legte den Arm um seinen Nacken und drückte seinen Kopf an sich.
So blieben sie beieinander, bis die Tischuhr zwölf schlug. Sie hoben die Gläser, stießen an und tranken das Glas leer.
«Gott steh' uns bei!«sagte Lisa leise.
Und plötzlich weinte sie.
Überall klangen die Gläser zusammen, in den Zimmern, in der Wachstube, bei den Bereitschaftsärzten. Unten in Bernegg in einem Hotelzimmer, aus dessen Fenster Dora Graff und Fritz Adam in die Silvesternacht blickten.
In Köln, in dem muffigen Keller des Hauses Horst-Wessel-Straße
4, wo Frau Hedwig Schwabe drei Pfannen voll Reibekuchen buk und Ursula den aus einer Sonderzuteilung von schlechtem Rum gemachten Grog mit einem säuerlichen, roten Heißgetränk verlängerte.
In Würzburg, in einem geschlossenen Bordell, wo Wastl Feininger um 12 Uhr einen Watschentanz vorführte. Und in der Villa Wolfach auf dem Hügel von Bernegg, vor einem flammenden Kamin, ohne Walter Hertz, den einzuladen der Fabrikant Hubert Wolfach seiner Tochter verboten hatte.
Von Bernegg herauf läutete die letzte Glocke, die der totale Krieg übriggelassen hatte. Die kleinen Dorfkirchen im Umkreis fielen mit dünnen, hellen Stimmen ein. Das Glöckchen der Schloßkapelle von Schloß Bernegg bimmelte dazwischen, im Chorraum der Kapelle zog ein Mann an dem alten, morschen Seil, auf und ab, einatmend, ausatmend im Rhythmus des Ziehens.
Er hatte nur noch ein halbes Gesicht. Die rechte Seite war weggerissen worden. Breite Hautlappen bedeckten die schreckliche Wunde.
Der Glöckner von Schloß Bernegg wünschte ein gutes neues Jahr.
Fünf Tage nach Jahresanfang traf Frau Irma Fischer in Bernegg ein. Lisa Mainetti hatte ihr ein Telegramm geschickt.»Ihr Mann schwer verletzt. Bitte kommen. «Sie war sofort in den nächsten Zug nach Würzburg gestiegen, hatte hinter München einen schweren Luftangriff auf die Bahnlinie überstanden und war nun zwei Tage unterwegs, von Zug zu Zug umsteigend, Umwege fahrend, weil die Gleise zerstört waren, auf freier Strecke wartend, weil neue Alarme das Weiterfahren unmöglich machten. In Würzburg endlich hatte sie Glück. Ein Wehrmachtswagen nahm sie mit nach Bernegg, nachdem sie vier Stunden in eisiger Kälte an der Straße gestanden und den wenigen Fahrzeugen gewinkt hatte. Die meisten fuhren in eine andere Richtung.
Lisa Mainetti wurde von der Hauptwache angerufen, als Frau Fischer dort eintraf. Mit großen, fragenden Augen saß sie auf dem harten Stuhl vor dem alten Tisch und wartete geduldig, was mit ihr geschehen würde.
Nur einmal fragte sie den Wachhabenden, und es klang schüchtern und verzagt:
«Kennen Sie einen Leutnant Rudolf Fischer?«
Der Unteroffizier schüttelte den Kopf.»Nee. Ihr Mann?«
«Ja. Er soll schwer verwundet sein.«
«Davon haben wir hier in Block B über 150. Die kann man nicht
alle kennen.«
«Nein, gewiß nicht, nein«, sagte die junge Frau und wartete weiter.
Im Block B hatte Lisa Mainetti den Befehl durchgegeben: Alle Mann in die Zimmer! Die Stubenältesten hatten dafür zu sorgen, daß niemand die Zimmer verließ. Erst als die Flure wie ausgestorben waren, ging Lisa hinunter zur Wache und holte Frau Fischer in das Schloß. Sie ging mit ihr zu ihrem Zimmer, ohne daß sie jemanden sahen bis auf den Famulus Baumann, der eine MO-Spritze zu einem Frischoperierten brachte.
«Wie geht es meinem Mann, Frau Doktor?«fragte die junge Frau.»Ist er wirklich schwer verletzt? Hat… hat er ein Bein verloren? Oder einen Arm?«
«Sie müssen ganz tapfer sein, Frau Fischer«, sagte Lisa und drückte die junge Frau auf einen Stuhl.»Sie sind nicht allein, Sie tragen jetzt das Leid von Tausenden von Frauen und Müttern mit. Ich weiß, das sind alles dumme, leere Worte, abgedroschen und unpersönlich. Aber es gibt keine Worte, die man hier noch sagen könnte.«
Die junge Frau bekam große, runde, starre Augen. Sie legte die Hände auf ihren Leib und atmete ein paarmal schnell und laut.
«Rudolf. Rudi… ist er tot?«
«Ja.«
«Kann ich ihn sehen?«Es war ein Hauch.
«Er ist schon begraben. Ich werde Ihnen alles erzählen.«
«Kann. kann ich sein Grab sehen?«
«Wir gehen zusammen hin. «Lisa legte den Arm um die andere.»Er hat nicht zu leiden brauchen«, log sie, und so schrecklich es war, sie spürte, daß es wie ein Trost war.
Kapitel 9
Langsam ging Dr. Lisa Mainetti mit der jungen Frau Fischer durch den tief verschneiten Schloßpark, um die kleine Kapelle herum, in Richtung des Teichs, in dessen Wasserspiegel Erich Schwabe zum erstenmal sein zerstörtes Gesicht gesehen hatte. Zwischen Kapelle und Teich lag, von hohen Buchen und einer Nußhecke umschlossen, der kleine Friedhof des Lazaretts Bernegg.
Eine Reihe von Birkenkreuzen stand im Schnee, auf schwarzen Blechtafeln waren von einem Graveur die Namen der Toten eingeritzt und mit gelber Farbe grundiert worden. Von Weihnachten her lagen noch einfache Tannenkränze und Gebinde vor den Kreuzen. Dahinter lag ein großer Felsstein im Schnee. Später einmal, nach dem Krieg, würde auf ihm ein Spruch eingehauen. Eine Mahnung an die Lebenden, von denen die meisten dann doch achtlos daran vorbeigehen und wie ihre Vorväter nichts gelernt haben würden.