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Lisa Mainetti hatte Frau Fischer untergefaßt und schleppte sie halb durch den Schnee. Sie ist ja noch selbst ein Kind, dachte sie. Mit zwanzig Jahren Witwe — ob sie überhaupt begreift, wie gemein das alles ist? Das verlogene Geschwätz vom >süßen Heldentods von der >stolzen Trauer<, vom >Opfer für das Vaterland<? Und wenn sie gleich, wie alle Mütter und Frauen, die vor ihr hier gestanden haben, hilflos fragen wird:»Warum?«, dann wird man wie immer antworten müssen:»Ich weiß es nicht. Vielleicht ist der Krieg ein unheilvolles Fieber, das immer wieder in die Menschen fährt!«

Dann standen sie am Grabe des Leutnants Rudolf Fischer. Ein frisches Birkenkreuz, noch ohne Schild. Das wurde gerade graviert. Ein Tannenkranz. Ein frischer Erdhügel, fleckig durchsetzt mit verharschtem Neuschnee.

«Hier ist es«, sagte Lisa Mainetti leise und trat hinter die junge Frau.

Frau Fischer senkte den Kopf, und wieder legten sich ihre Hände mit gefalteten Fingern auf den runden Leib. Sie spürte, wie das Kind sich rührte — ein neues Leben, ein Teil des Toten unter dem Bir-

kenkreuz.

«Rudolf«, sagte Frau Fischer leise.»Rudi — mein Rudi.«

Sie senkte den Kopf und weinte still, lautlos. Mit der rechten Hand tastete sie nach hinten und zur Seite, suchte Lisa Mainetti, und als sie deren Hand ergriffen hatte, klammerten sich ihre Finger darum, Halt und Hilfe suchend.

So stand sie lange und weinte lautlos, eine tapfere, im Schmerz gewachsene Frau. Auch Lisa Mainetti schwieg. Wie zwei Schwestern, Hand in Hand, standen sie im Schnee und spürten weder die Kälte noch das Vergehen der Zeit.

«Was hat er gehabt, Frau Doktor?«fragte Frau Fischer nach langen Minuten.»Bitte, sagen Sie mir alles. Bitte.«

Lisa Mainetti dachte an das völlig zertrümmerte Gesicht, an das wache, allein übriggebliebene Auge, das jeden ihrer Schritte verfolgte, an die gelbweißen Finger, die mit zittrigen, eckigen Buchstaben schrieben:»Bitte, meine Frau nicht rufen. «Und an den glücklichen Tod, der auch das eine Auge wegsinken ließ ins Nichts.

«Er hatte einen Kopfschuß«, sagte Lisa Mainetti.»Er brauchte nicht lange zu leiden.«

Frau Fischer beugte sich vor und streichelte das rauhe Birkenkreuz. Soviel Liebe lag darin, soviel Hingabe und Verbundenheit, daß Lisa spürte, wie sich ihr Hals zuschnürte vor wilder Ergriffenheit.

«Er hat sich so auf das Kind gefreut«, sagte Frau Fischer.»Sein letzter Brief kam vor zehn Tagen. Er sollte über Neujahr Urlaub bekommen. Nur zwei Tage. Wissen Sie, wie wunderbar zwei Tage sein können, Frau Doktor?«Sie sah wieder auf das Birkenkreuz.»Kann ich ihn überführen lassen?«

«Ich werde es für Sie beantragen.«

Dann standen sie wieder stumm vor dem Grab und nahmen Abschied. Frau Fischer weinte nicht mehr. Eine merkwürdige Starrheit war über sie gekommen. Sie lehnte sich gegen den Schmerz auf. Sie spürte die Regungen des Kindes und ihre große Aufgabe, für dieses Kommende stark zu sein.

Später saßen sie wieder bei Lisa Mainetti im Zimmer. Die Ober-schwester hatte aus dem eisernen Vorrat eine kleine Kanne Bohnenkaffee gekocht. Ein Stück Kuchen, das daneben lag, rührte Frau Fischer nicht an. Das Bewußtsein, ihren Mann nie wiederzusehen, wurde von Stunde zu Stunde stärker und würgte ihr fast das Herz ab.

«Ich bringe Sie zu Bekannten nach Bernegg«, sagte Lisa Mainetti.»Dort können Sie sich ausschlafen. Wollen Sie morgen zurück nach München?«

«Ja. «Plötzlich sah die junge Frau auf, und es war eine so merkwürdige Frage, die sie stellte, daß Dr. Mainetti einige Sekunden brauchte, um ihre Verblüffung zu überwinden:»Gewinnen wir den Krieg, Frau Doktor?«

«Nein!«sagte Lisa.

«Dann war ja alles umsonst.«

«Es ist immer vieles umsonst gewesen, was wir Deutschen tun. Nur merken wir es immer erst zu spät.«

Der Famulus Baumann brachte Frau Fischer mit einem, Kübelwagen des Lazaretts hinunter in den Ort Bernegg. Lisa Mainetti sah ihnen nach, wie sie langsam und vorsichtig mit dem Fahrzeug über den glatten, festgefahrenen Schnee die Straße hinunter in das Städtchen glitten.

Das Leben auf der Station ging weiter. Dr. Urban kam stiefelknarrend in den Raum.

«Wieder Unterricht in Defätismus gegeben?«fragte er hämisch. Der Vorfall im OP war für ihn vergessen. Nach seiner Ansicht hatte sich der Chefarzt durch Unterdrückung einer Meldung nur noch mehr in seine Hand gegeben.

«Es sterben immer die Falschen!«antwortete Lisa grob.»Wollten Sie sich ein Lehrbuch der kleinen Chirurgie bei mir ausleihen?«

«Nicht so hochnäsig, Kollega! Ich wollte Ihnen nur berichten, daß soeben eine Sondermeldung durchgekommen ist: Die deutschen Truppen sind in breiter Front zur Offensive nördlich Straßburg angetreten und haben die amerikanischen Linien aufgerollt! Es geht wieder vorwärts!«

Lisa Mainetti griff in ihr Bücherregal und holte ein dickes Buch heraus. Sie warf es Urban auf den Tisch.»Es ist doch besser, Sie studieren noch einmal die Grundzüge der Medizin! Es gibt ein Phänomen, daß bei einem Sterbenden der Puls noch einmal heftig schlägt.«

«Man sollte Sie einfach umbringen!«sagte Dr. Urban dumpf und verließ das Zimmer.

Während die Rote Armee die deutsche Ostfront aufriß und über die Warthe hinaus nach Frankfurt/Oder und Küstrin vorstieß, während die letzte deutsche Offensive unter dem heulenden Beschuß amerikanischer Jabos im Elsaß steckenblieb, während ständig neue Verwundete nach Würzburg eingeflogen und auf dem schnellsten Wege nach Bernegg gebracht wurden und das Schloß mehr und mehr zu einem Frontlazarett wurde, begann die erste große Operation am zerstörten Gesicht Erich Schwabes. Lisa Mainetti hielt ihr Versprechen.

Von Anfang Februar an gab es keine Zeiteinteilung mehr, Tag und Nacht rollten die Transporte heran, und nur an dem Zittern der Beine und dem Zufallen der Augenlider merkte man, daß eine Nacht vorüber war und der Körper nach Ruhe schrie. Dann nahmen die Ärzte eine Tablette Pervitin, tranken starken Kaffee, wuschen sich in eiskaltem Wasser Gesicht und Puls und eilten zurück in den OP, zu den Bahren mit röchelnden, blutenden, zuckenden Leibern. Zu den Männern ohne Gesicht, in deren gräßlichen Wunden jetzt auch noch die Erdklumpen klebten, die Splitter und die zerfetzten Knochenstücke steckten, denn sie kamen jetzt ohne Vorversorgung in den Verbandsplätzen nach Bernegg.

In den Stuben des Blocks B zog eine gewisse Ratlosigkeit ein. Die verhältnismäßig geruhsame Zeit, in der man die Funktionen eines Gesichts durch große und viele kleine Operationen wiederherstell-te, Autoplastiken vornahm, knöcherne Nasengerüste baute, transplantierte Fettgewebe als Unterlagerung benutzte, aus Rippenbögen entnommene Knorpelstücke verpflanzte und Augenwimpern durch einen Millimeter breiten Kopfhautlappen ersetzte, diese geduldige Arbeit an der Neuformung eines Gesichts war vorbei.

Bei der großen Zahl der täglichen Neuzugänge mußten die >alten Knaben<, wie sie Dr. Urban nannte, warten. Es galt jetzt, Leben zu retten, das bloße Weiteratmen zu ermöglichen, die Schmerzen zu dämpfen und das zerfetzte Gesicht zu den notwendigsten Funktionen zu bringen.

«Als Titelbilder kommt ihr sowieso nicht mehr in Frage«, sagte Dr. Urban zu den bedrückt wartenden alten Patienten des Lazaretts.»Und wenn man die Rente bedenkt, die ihr bekommen werdet! Eigentlich ein gutes Geschäft, was? Die anderen arbeiten sich krumm, und ihr streckt die Händchen aus, und schon klimpert's!«

Es waren wieder jene Reden Urbans, die wie Messer durch die Herzen der Gesichtsverletzten schnitten.»In warmer Eulenscheiße sollt1 man ihn ersticken!«schrie der Wastl Feininger nach einer solchen Tirade Urbans.