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Auf der Straße brummten die Sankas heran. Der U.v.D. rannte von Wagen zu Wagen und kontrollierte die Klosetts. Zweimal war es vorgekommen, daß sich jemand dort versteckte und mit dem Lazarettzug zurückfuhr, nur des Essens wegen.

Erich Schwabe lauschte auf die Geräusche. Er hörte Stimmen vor dem Fenster, er hörte das Poltern und Knirschen der aus dem Zug geschobenen Tragen, Kommandos flatterten zu ihm hin, einige Flüche, ein plötzliches Lachen und die Stimme eines Bayern:»Mei Haxn is koa Glander, du Hirsch!«

Schwester Erna legte ihre Hand an den Hals Schwabes, dort, wo der Verband aufhörte. Sie spürte an dem Pulsieren der Halsschlagader, wie aufgeregt Schwabe war. Sein Herz flatterte.

«Kopf hoch«, sagte sie fast zärtlich und zwang sich, nicht daran zu denken, wie dieser arme, hilflose Mensch unter dem Verband aussehen mochte.»Es dauert vielleicht gar nicht so lange. Was man heute alles kann in der Chirurgie. Sie werden staunen. Und die Hauptsache ist ja, daß Sie leben.«

Erich Schwabe nickte. Es war das Nicken eines großen, weißen Bindenkloßes auf zwei breiten Schultern und einem dünnen Hals.

Ich lebe, dachte er. Aber wie lebe ich! Keiner wird mich mehr ansehen können, ohne zu schaudern, ohne sich zwingen zu müssen, nicht entsetzt wegzulaufen. Und keine Frau wird es mehr geben, die mich lieben kann, die dieses Scheusal von Mensch in die Arme nimmt und streichelt. Auch Ursula nicht. nein, auch sie nicht.

«Ich danke Ihnen, Schwester«, sagte er. Da sie ihn nicht verstand, nahm er ihre Hand und drückte sie und führte sie dahin, wo früher sein Mund gewesen war und jetzt eine Kanüle aus den Verbänden ragte.

An dem Zittern der Hand merkte er, wie mühsam Schwester Erna ihr Grauen bezwang. Da ließ er sie los und drehte den Kopf zur Seite.

So lud man ihn aus und fuhr ihn nach Schloß Bernegg, und keiner achtete darauf, wie heftig seine Brust zuckte.

Oberstabsarzt Professor Dr. Walter Rusch, der Chefarzt der Gesichtsversehrtenklinik Bernegg, wartete im kleinen OP, dem allgemeinen

Verbandsraum, auf das Eintreffen der ersten Sankas. Er saß vor einem weißlackierten Tisch und sah hinüber zu den Waschbecken. Dort stand eine Frau in einem langen, weißen Arztkittel, hatte die Ärmel hochgerollt und seifte sich die Hände und die Unterarme gründlich ein. Ihr schwarzes lockiges Haar hatte sie hochgesteckt und in ein halbsteriles Dreieckstuch eingebunden. Wenn es nötig war, nachher zu operieren, würde sie einfach die weiße OP-Mütze überstülpen. Nur an den Augen und dem schmalen südländischen Gesicht würde man dann sehen können, daß es eine Frau war, mit dem Profil einer florentinischen Renaissancefürstin.

Dr. Lisa Stephanie Mainetti hielt die Unterarme unter den warmen Wasserstrahl und ließ den Seifenschaum über ihre langen schmalen Hände in das Becken spülen. Dabei wandte sie den Kopf zu Professor Rusch um, und ihre Blicke trafen sich. Ein leichtes Lächeln glitt über das bräunliche Gesicht der Ärztin.

«Warum siehst du mich so an?«fragte sie und schüttelte den letzten Schaum von den Armen.

«Ich versuche zu ergründen, was du jetzt denkst. «Die Stimme Ruschs war tief und melodisch. Wer sie zum erstenmal hörte, war fasziniert von dem Wohlklang. Später aber, wenn der erste Eindruck wich, hörte man einen Unterton heraus, einen Sarkasmus, eine Bitternis, die sich hinter Burschikosität und oft auch Kaltschnäuzigkeit versteckte.

«Ich denke, daß in wenigen Minuten wieder eine Fuhre Leid zu uns kommt. «Lisa Mainetti tauchte die Hände in eine antiseptische Lösung und hielt sie dann von sich, um sie abtropfen zu lassen. Nebenan, im großen OP, sah sie zwei Sanitäter — Studenten im vorklinischen Semester — und einen Unterarzt bei den Vorbereitungen zu den Operationen. Man hatte Erfahrung bei diesen Neuzugängen. Meistens kamen sie ohne Aufenthalt von einem Frontlazarett oder gar einer Krankensammelstelle nach Bernegg und sahen erschreckend aus. Vor allem die Gesichtsverletzten. Außer einer groben Wundversorgung taten die Frontärzte nichts an ihnen. Was sollten sie auch tun! Wie in einem Schlachthaus standen sie vor Hun-derten aufgerissenen Leibern, und die Sturmflut aus Blut spülte über sie hinweg.

Professor Dr. Rusch nickte mehrmals.»Eine Fuhre Leid, sagst du. Gewiß. Und diese Fuhren kommen jetzt von allen Seiten, die Transportwege werden immer kürzer. Wir schrumpfen zusammen, Lisa. Und deshalb denke ich, es müßte für dich ein Triumph sein, daß alles so gekommen ist. Daß wir Deutsche am Ende sind, daß wir einen Krieg verlieren, wie noch nie ein Volk einen Krieg verloren hat. Daß all das eingetroffen ist, was du einmal gesagt hast: Ihr seid wahnsinnig geworden in eurer Selbstüberschätzung.«

Dr. Mainetti sah ihn nachdenklich an.

«Warum sollte ich mich freuen?«

«Weil du recht hattest.«

«Recht? Was ist Recht, Walter? Mein Vater starb in Dachau, weil er glaubte, es sei sein Recht, gegen den deutschen Wahn zu sprechen. Mich wollten sie nach Flossenburg als KZ-Ärztin bringen, um mich mitschuldig werden zu lassen an den Verbrechen. Damals hast du mich davor gerettet und hierher geholt… und es ist manches seitdem geschehen… auch zwischen uns, Walter. Nun habe ich recht behalten, und es kommt alles so, wie es kommen mußte… aber dieses Recht wird eines Tages auch dich mitnehmen, und das wird ein Tag sein, wo ich mein Recht verfluchen werde!«

Sie hob den Kopf. Vor dem Tor rollten die ersten Sankas vor. Kommandos ertönten, aus dem großen OP rannten die beiden Sanitäter zum Eingang, um zu helfen. Am Ende des Ganges erschienen zwei Ordensschwestern mit wehenden weißen Hauben und bei jedem Schritt klappernden langen Rosenkränzen am Gürtel der Gewänder.

«An genau das habe ich gedacht, Lisa. «Der Professor schloß seinen weißen Kittel. Er trug darunter nicht seine Uniform, sondern eine weiße Leinenhose und weiße Gummischuhe über nackten Füßen. Es war heiß unter den altmodischen Operationslampen, und wer eine halbe Stunde gebeugt über dem OP-Tisch stand, dem floß der Schweiß in Strömen vom Körper.

Über den Flur wurden die ersten Bahren getragen. Eine helle, scharfe Stimme tönte durch das Scharren der Füße und das leise Stöhnen der Verwundeten.

«Wer wird denn hier Arien singen, was?«schrie eine Stimme.»Ein deutscher Soldat bleibt stumm, und wenn ihm der halbe Kopf wegfliegt!«

Lisa Mainetti deutete zum Ausgang hin.»Sie waren euer Untergang, Walter. Diese NS-Schreier.«

«Wo gehst du hin, wenn alles vorbei ist.?«

«Noch ist es nicht vorbei. Noch sind wir mitten drin.«

«Aber es wird nicht mehr lange dauern. Die Amerikaner stehen vor Aachen, die Russen marschieren an der Grenze im Osten. Es kann plötzlich kommen, Lisa. Wo wirst du hingehen, weißt du es schon?«

«Warum fragst du das jetzt, gerade jetzt? Draußen laden sie neue Menschen ohne Gesichter aus.«

«Sie sollten ein Anlaß sein, hart zu denken.«

Über den Flur kam eine große Gestalt im weißen Arztkittel. Auch sie trug Leinenhosen und weiße Gummischuhe, aber sie wirkten wie Reithosen und Stiefel. Ein schmaler Kopf mit kurzgeschorenen, braunen Haaren und blauen, kalten Augen.

«Zweiundzwanzig Neuzugänge für uns!«meldete der Arzt ein wenig lässig und sah Professor Rusch an.»Zwei von ihnen sind ganz schön 'rangenommen! Die sparen für ein Jahr das Rasieren. «Er lachte, aber verstummte sofort, als er den abweisenden Blick Lisa Mai-nettis sah.»Humor kennt man hier wohl nicht«, brummte er und steckte die Hände in die Taschen seines Kittels.

Oberarzt Dr. Fred Urban hatte eine gute und glatte Karriere hinter sich. Als HJ-Führer machte er sein Abitur, als Führer im NS-Stu-dentenbund studierte er Medizin, und als SA-Sturmführer absolvierte er seine Pflichtassistenzzeit in der Klinik. Von da ab ging es schnell aufwärts, er wurde im Polenfeldzug und im Frankreichkrieg Unterarzt und Assistenzarzt, bekam das EK I, weil er einen eingeschlossenen Hauptverbandsplatz verteidigte, bis ein Gegenstoß ihn wieder befreite, und wurde später dann als Spezialist nach Bernegg kom-mandiert. Hier führte er sofort für alle Verwundeten wöchentliche politische Schulungen ein und entdeckte, daß der Chefarzt Professor Rusch nur ein >Neu-Nazi< war und die Ärztin Dr. Mainetti ein schweres Kaliber von innerem Widerstand. Das alles festigte seine Position, und was ihm an ärztlicher Qualifikation fehlte, ersetzte er durch Forschheit und vaterländische Parolen.