«Warum brüllen Sie die Leute eigentlich so an?«fragte der Professor.»Muß das sein?«
«Ich kann Schlappheit nicht vertragen, Herr Oberstabsarzt!«
«Immerhin sind dies Menschen, die kein Gesicht mehr haben!«
«Na und? Ist das ein Grund.«
Oberarzt Dr. Urban machte in diesem Augenblick einen Satz zur Seite und schrie» au!«Dann starrte er entgeistert Dr. Lisa Mainetti an. Sie hatte eine lange Nadel in der Hand und lächelte ihm fast freundlich entgegen.
«Sehen Sie, lieber Kollege. Sie schreien >au!<, wenn man Sie in den Hintern sticht. Den anderen da draußen aber hat man das Gesicht weggerissen. Es kann sein, daß sich bei Ihnen das Gefühl vom Gesicht in den Hintern verlagert hat.«
Dr. Urban verzichtete auf eine Antwort. Mit vorgestrecktem Kopf rannte er aus dem Verbandsraum und schnauzte einen Sanitäter an, der nicht zur Seite sprang und ihn auch nicht grüßte. Professor Rusch schüttelte den Kopf.
«Du provozierst seine Feindschaft, Lisa. Er kann gefährlich werden. «Dann überzog ein Lächeln auch sein Gesicht.»Und eine Sprache hast du.«
«Ihr habt sie mich ja zwei Jahre lang gelehrt. «Dr. Lisa Mainetti ging hinüber in den OP. Die erste Trage wurde im Vorraum abgesetzt. Es war Erich Schwabe, der regungslos dalag und alle Geräusche in sich aufnahm und sie zu Bildern ordnete. An der Tür blieb Lisa stehen.»Mir ist oft, als sei ich selbst ein Mann geworden.«
Rusch sah sie an, und sie spürte in seinem Blick Wärme und Innigkeit.»Du brauchst nur einen Spiegel, um dir zu bestätigen, wie sehr du eine Frau bist.«
Die Sankas waren ausgeladen. Die Mehrzahl der Fahrzeuge fuhr zu Block A und C, der allgemeinen Chirurgie. Im großen OP lag ein Verwundeter auf dem Tisch. Oberarzt Dr. Urban wickelte die Verbände von seinem Kopf. Als die durchbluteten Zellstofflagen kamen, sagte er laut:»Hoppla, jetzt sei ein Mann, mein Junge!«und riß die Lagen mit einem Ruck ab. Der Verwundete schrie gellend auf und hieb mit Armen und Beinen um sich. Sein halber Unterkiefer war weggeschossen, er hatte keine Nase mehr und kein linkes Ohr. Blut sickerte wieder aus den aufgerissenen Wunden, der Verletzte wimmerte und wand sich in den Lederriemen, die man ihm schnell überwarf. Sehen konnte er nichts, ein riesiges Hämatom schloß ihm beide Augen.
«Man kann's auch anders machen!«sagte die Stimme Lisas hinter Dr. Urban. Der drehte sich nicht um, aber er schielte zu den beiden Sanitätern, die geflissentlich weg sahen.»Nun haben wir eine frische Blutung. Sollten Sie nicht wissen, daß Verbandmull an nässenden Stellen festklebt, weil das Wundsekret eintrocknet? Es wäre einfacher gewesen, mit einem Mullappen und einer wäßrigen Lösung mit H2O2 den Verband aufzuweichen und dann abzulösen.«
«Was man nicht alles verlernt hat«, sagte Dr. Urban spöttisch.»Wirklich… jetzt erinnere ich mich daran. Steht das nicht auch sogar im Handbuch für Erste Hilfe.?«
Dr. Mainetti wandte sich ab und ging zu der Trage, auf der Erich Schwabe lag. Dr. Urban fuhr herum, als er die Sanitäter grinsen sah.
«Mull, Tupfer und eine Schere, ihr traurigen Säcke!«brüllte er.»Stehen hier herum wie Bettnässer, die auf eine trockene Matratze warten!«
Lisa Mainetti beugte sich über den klebrigen, verbundenen Kopf Schwabes. Sie tastete nach seiner Hand, fühlte den Puls und las den Laufzettel, der Schwabe auf der Brust lag.
«Können Sie mich verstehen?«fragte sie. Schwabe nickte und drückte ihre Hand. Eine Frau, dachte er. Gott sei Dank, es ist nicht dieses Aas mit der kalten Stimme.
«Haben Sie Schmerzen?«
Schwabe nickte.
«Sie werden gleich eine Morphin-Injektion bekommen. Dann spüren Sie nichts mehr. Und haben Sie keine Angst. Es wird alles wieder gut werden. Ich werde mir jetzt Ihren Kopf ansehen.«
Schwabe fühlte, wie man etwas Nasses über sein Gesicht legte. Es durchdrang den Mull und kühlte wohlig seinen brennenden Kopf. Dann spürte er einen Einstich. die Injektion, dachte er. und dann glitt er weg in Schwerelosigkeit. So muß das Sterben sein, dachte er noch. Es ist gar nicht so schlimm.
Der Verband war durchweicht. Die Sanitäter hoben Schwabe auf den frei gewordenen OP-Tisch. Auch eine Ordensschwester war jetzt zugegen, in einem weißen Gewand und einer weißen Gummischürze. Dr. Urban hatte das Zimmer verlassen. Er kümmerte sich jetzt im Verbandsraum I um die weniger schweren Fälle und schnauzte sie an, wenn sie sagten:»Bitte Vorsicht, Herr Oberarzt. es klebt doch alles fest.«
Langsam wickelte Lisa Mainetti den Verband ab. Die Ordensschwester und ein Sanitäter hielten Schwabe an den Schultern in schwebender Lage und unterstützten seinen Kopf.
Gleich werde ich sehen können, dachte er. Gleich wird die Binde von den Augen kommen, und ich werde zum erstenmal wieder die Sonne sehen, ein menschliches Gesicht. ein Gesicht.
Als die durchbluteten Lagen kamen, weichte Lisa Mainetti sie noch einmal ein und kontrollierte vorsichtig, ob die Flüssigkeit durchgedrungen war.
Ich werde sehen können, dachte Schwabe. Ein Zittern durchlief seinen Körper. Ich werde feststellen, ob man mich belogen hat, ob ich meine Augen noch habe oder ob es nur leere Höhlen sind, aus denen die Tränen kommen. Wenn ich sehen kann, ist es ja gut. Mein Gott, dann ist ja alles nicht so schlimm. Wenn ich nur meine Augen habe… bitte, bitte… nur die Augen noch.
Lisa Mainetti nickte. Die blutigen Zellstofflagen waren aufgeweicht. Mit einem Ruck hob sie sie schnell ab.
Kapitel 2
Das Gesicht Schwabes lag frei vor Dr. Lisa Mainetti. Sie starrte auf das, was einmal ein Mensch gewesen war, und schluckte ein paarmal. Hinter ihr stand Professor Rusch, sie merkte es erst, als sie seinen Atem in ihrem Nacken spürte.
Sie wußte, daß er sie in diesem Augenblick ansah. Seit zwei Jahren behandelte sie in Bernegg die Gesichtsverletzten, seit zwei Jahren stand sie dreimal in der Woche im Operationssaal und flickte die zerstörten Gesichter zurecht, schuf neue Unterkiefer, neue Nasen, neue Wangen und Kinne, neue Lippen und Stirnpartien. Sie verpflanzte Rollappen und gestielte Lappen, sie setzte Knochenspäne ein und rang in millimetergroßen Stücken dem Körper neues Lippenrot ab, sie hatte Fettgewebe zur Polsterung von Kinn und Wangen transplantiert. Aber immer war es ein Schock für sie gewesen, wenn die >Neuen< kamen, und wenn sie blutige Höhlen sehen mußte, die einmal ein Gesicht waren, das lächeln konnte, das geliebt worden war, in dem sich die Seele spiegelte und Glück und Leid sich gleichermaßen eingezeichnet hatten.
So war es auch heute. Sie blickte in ein Gesicht, in dem nur noch die Augen standen, und etwas Dickes, violett Rotes schwamm in einer mit Blutklumpen angefüllten Höhle: die Zunge.
Lisa Mainetti biß die Zähne aufeinander. Dann hatte sie sich aber sofort wieder gefangen, sie legte beruhigend beide Hände auf die Brust Erich Schwabes.
«Sie bleiben auf meiner Station«, sagte sie, und eine merkwürdige mütterliche Zärtlichkeit war in ihrer Stimme.»Es ist alles halb so schlimm. Sie können mich sehen?«
Erich Schwabe nickte. Undeutlich, wie durch einen Schleiervorhang, nahm er das schmale Gesicht der Ärztin wahr und dahinter den blonden Kopf des Chefarztes. Er sah den Zipfel einer Schwesternhaube, und ganz in der Ferne einen weißen Schrank mit blitzenden Instrumenten.
Ich kann sehen, dachte er unendlich glücklich. Sie haben mich nicht belogen! Meine Augen leben! Nun ist wirklich alles nicht so schlimm… ein paar Narben im Gesicht, wen wird das stören? Ursula bestimmt nicht. Es gibt so viele Männer mit Narben… und bei den Akademikern heißt's sogar: Er ist interessant.