In seinem Kopf summte es. Die Schwerelosigkeit, die nach der Injektion seinen Körper wie auf einer Schaukel trug, flimmerte in seinen Augen und ließ die Konturen der Gestalten verschwimmen. Nicht ohnmächtig werden, dachte Schwabe. Nein, nicht weggehen aus diesem herrlichen Zustand, sehen zu können.
Dr. Mainetti nahm den Laufzettel, den der Sanitäter ihr hinreichte. Dann blickte sie wieder auf die blutverkrustete Fläche, in der einsam, als einziges Leben, die Augen standen, umgeben von dicken Säcken eines schon blaugelben Hämatoms.
«Sie sind verheiratet«, sagte Lisa Mainetti und gab den Zettel an den Sanitäter zurück.»Übermorgen, wenn wir uns hier eingelebt haben, werden wir Ihrer Frau schreiben, nicht wahr?«
Schwabe winkte mit der Hand ab.»Zuerst meiner Mutter, Frau Doktor«, sagte er.
Professor Rusch und Lisa sahen auf die dick geschwollene Zunge, die sich zuckend hin und her bewegte. Dort, wo einmal die Lippen gewesen waren, zuckte das zerfetzte Fleisch. Er spricht, dachte Lisa, und plötzlich schauderte es sie. Und seine nicht mehr vorhandenen Lippen formten die Worte, aber es war nur ein Röcheln und Zischen, das aus der Mundhöhle quoll, ein tierhaftes Lautgeben, zu dem die Zunge den Takt schlug.
Erich Schwabes Augen wurden weit. Jetzt, ohne Verband, hörte auch er die schrecklichen Töne. Er starrte den Chefarzt an, und plötzlich weinte er wieder hemmungslos wie ein Kind, bis ihn die Besinnung verließ.
Lisa Mainetti säuberte die Wunden und legte dann neue Lagen Mull auf das zerstörte Gesicht. Sie machte einen Verband, der die Augen freiließ. Es war nur ein kleiner Sehschlitz, denn auch die Stirnpartie war wegrasiert worden bis auf den blanken Knochen.
«Zimmer 3«, sagte sie, als man Schwabe zurück auf die Trage hob. Während er hinausgeschafft wurde, schob man einen neuen Verwundeten auf den OP-Tisch. Einen Kieferschußbruch mit zerfetztem Gaumen und halb abgerissener Zunge.
«Da hast du aber noch einmal Glück gehabt, mein Junge«, sagte Professor Rusch und kontrollierte die Zerstörung der Knochen.»In ein paar Monaten kannst du wieder Eisbeine kauen.«
In der Nacht noch wurden die wichtigsten Fälle geröntgt, die Platten entwickelt und zum Professor gebracht. Die Sanitäter wußten das. Bei Neuzugängen gab es keine Nachtruhe.»Sie haben für uns die Köpfe hingehalten!«schrie Rusch einmal, als sich die Schwestern beschwerten.»Ich kann erwarten, daß ihr dafür einmal eine Nacht opfert!«
Der einzige, der sich störrisch zeigte, war Dr. Urban. Mißmutig saß er vor den Röntgenplatten, trank einen Cognac und hörte nur halb zu, was Rusch nach dem Studium der Aufnahmen anordnete.
«Als ob die nicht einen Tag Zeit hätten«, brummte er und gähnte.»Nachher liegen sie doch jahrelang herum, bis ihre Visage gerichtet ist.«
«Bei manchen gelingt es nie«, sagte Lisa Mainetti.»Es gibt Menschen, die haben von Geburt an kein Gesicht.«
Wortlos erhob sich Dr. Urban und verließ das Chefzimmer. Professor Rusch wartete, bis er die sich schnell entfernenden Schritte auf dem Gang hörte.
«Du machst so lange, bis er dich der Gestapo meldet«, sagte er.
«Hast du Angst?«fragte Lisa zurück.
«Ja«, sagte er ehrlich.
«Aber wir haben den Krieg doch bald verloren.«
«Bald! Ja!«Rusch atmete schwer.»Aber bis dahin. Manchmal kann ich nicht mehr, Lisa. manchmal denke ich.«
Er verstummte, legte den Kopf zurück an die Sessellehne und bedeckte die Augen mit beiden Händen.
Ganz still war es im Raum, so still, daß man deutlich das saugende Geräusch hörte, als Lisa Mainetti an ihrer Zigarette zog.
Durch seine Sehschlitze erkannte Erich Schwabe, daß es Morgen war. Er lag in einem kleinen Zimmer, das Fenster war offen, und die Gardinen blähten sich im Luftzug, der in den Raum drang. Drei Blumentöpfe standen auf der hölzernen, weiß lackierten Fensterbank. Zwei Alpenveilchen und eine große Kaktee, die kleine Knospen angesetzt hatte.
Schwabe bewegte vorsichtig den Kopf zur Seite und richtete sich auf. Er war allein im Zimmer. Ganz dicht hob er den linken Arm an die Sehschlitze des Verbandes und sah auf seine Armbanduhr. Sie tickte noch und zeigte die neunte Morgenstunde.
Langsam hob er die Beine aus dem Bett, setzte sich auf. Sein Herz klopfte wie wahnsinnig. Als er glücklich stand, nach über einer Woche zum erstenmal wieder stand, zitterten ihm die Knie und knickten ein. Er mußte sich auf den Nachttisch stützen. Die ersten Schritte waren wie ein Taumeln, er ruderte mit den Armen, um das Gleichgewicht zu halten, und tastete sich dann an der Wand entlang.
Eine ungeheure Energie trieb ihn, ein Wille, der so übermächtig war, daß er die Schmerzen kaum merkte, die in seinem schwachen, pendelnden Kopf wieder aufstachen.
Ich will wissen, wie ich aussehe! Dieser eine Gedanke beherrschte Schwabe. Irgendwo mußte hier doch ein Spiegel sein oder etwas anderes Blankes, in dem ich mich spiegeln kann.
Als er an keiner der Wände einen Spiegel gefunden hatte, selbst nicht über dem Waschbecken, schwankte er zum Fenster. In einer Scheibe mußte er sich erkennen können.
Aber auch das Fenster spiegelte nicht. Die Scheiben waren aus Milchglas.»Sie denken an alles«, sagte Schwabe und beugte sich aus dem Fenster. Auf den Wegen gingen einige Verwundete spazieren, ein Arbeitskommando kehrte mit Reisigbesen das Herbstlaub von den Wiesen und fuhr es mit Handwagen ab. Die Gesichter waren mit Leukoplaststreifen überklebt, sie sahen eher clownhaft als ekelerregend aus, eher wie eine Erinnerung an eine fröhliche Kirchweih.
Sie haben recht, es ist nicht so schlimm, dachte Schwabe und wandte sich ins Zimmer zurück. Eine freudige Hoffnung war in ihm. Er legte sich wieder ins Bett und nahm im Liegen Haltung an, als Dr. Lisa Mainetti zur Morgenvisite kam.
«Das lassen Sie mal sein«, sagte sie und deutete auf die angelegten Arme Schwabes.»Für Sie ist der Krieg aus. Sie haben genug gegeben für Führer und Vaterland.«
Sie setzte sich an sein Bett, kontrollierte den Verband und sah Schwabe nachdenklich und fragend an. Dann nahm sie einen Block und Bleistift und schob beides Schwabe hin.
«Sie sind aufgestanden, nicht wahr?«
«Frau Doktor, ich… ich wollte nur.«, kritzelte Schwabe auf das Papier. Seine Hand zitterte.
«Sie wollten nur einen Spiegel suchen oder in die Fensterscheibe sehen.«
«Ja«, schrieb er.
«Aber warum denn? Haben Sie noch nie einen verbundenen Kopf gesehen?«
«Und was ist unter dem Verband, Frau Doktor?«
«Ihr Gesicht.«
«Aber nicht mehr ganz, nicht wahr?«
«Natürlich nicht. Sonst trügen Sie ja keinen Verband.«
«Und was. was fehlt, Frau Doktor?«
«Fehlt? Wer spricht hier von fehlen! Ein bißchen ramponiert ist alles. Haben Sie schon einmal einen Boxer gesehen, der 15 Runden lang Dresche bekommen hat?«
«Ja, aber.«
«Na also. Was heißt hier aber?«
«Eine Mine unter einem Schlitten ist kein Boxkampf, Frau Doktor.«
«In sechs Wochen werden Sie in ein anderes Zimmer kommen, zusammen mit sechs Kameraden. Sie müssen nur Vertrauen haben und fest daran glauben, daß wir alles tun, um Sie für das spätere Leben wieder zurechtzuflicken. Alle anderen Gedanken sind Mist.«
Schwabes Augen lächelten.»Sie reden wie ein Landser. Sicherlich können Sie auch fluchen.«
«Und wie!«sagte Lisa Mainetti.»Daß die Wände wackeln, mein Lieber! Und nun setzen Sie sich hin und schreiben Ihrer Frau ein paar Zeilen, da es mit dem Schreiben so gut geht. Oder möchten Sie erst Ihrer Mutter schreiben?«
Schwabe schrieb.
«Aber niemand soll kommen!«
«Auch Ihre Mutter nicht?«
Erich Schwabe wehrte mit der Hand ab. Erst muß ich wissen, wie ich aussehe, dachte er. Sie sollen nicht erschrecken, wenn sie mich sehen. In zwei oder drei Monaten werden es vielleicht nur noch ein paar Narben sein, und Ursula wird mit den Fingerspitzen darüberstreicheln und sagen: Mein armer, armer Erich… hat es weh getan.? Und er würde lächeln und sagen: Nicht der Rede wert. Macht doch ein Gesicht interessant, was, die Narben?