Als er allein war, schrieb er an seine Mutter.
«Mein liebes Muttchen!
Ich bin wieder einmal verwundet. Nun ist's das achtemal. Aber Du siehst: Unkraut vergeht nicht. Ich bin in einem deutschen Lazarett, es geht mir gut, ich esse kräftig.«
Hier stockte er und dachte an die intravenösen Traubenzuckerinjektionen und Nährklistiere, die er täglich bekam.
«.und in zwei Monaten werde ich so weit hergestellt sein, daß ich zu Euch auf Urlaub komme oder Ihr zu mir kommen könnt. Macht Euch gar keine Sorgen um mich. An Ursel schreibe ich extra. Ich küsse Dich, Muttchen, Dein Erich.«
Als er den Brief geschrieben hatte, legte er sich zurück und starrte an die Decke. Ein Zwiespalt war in ihm. Wenn es nicht so schlimm war, warum haben sie dann alle Spiegel weggenommen, dachte er. Warum haben sie Milchglasscheiben? Wir haben im Krieg schon anderes gesehen als ein verschrammtes Gesicht. Irgend etwas stimmt doch hier nicht.
Sechs Zimmer weiter saß Dr. Lisa Mainetti mit ihrem ersten Untersuchungsprotokoll dem Chefarzt gegenüber. Professor Rusch hörte zu, wie sie mit knappen Worten berichtete.
«Wie lange, denkst du, wird es dauern, bis wir den Schwabe wieder menschlich machen?«fragte er, als sie schwieg.
«Das wird kaum möglich sein.«, sagte sie leise.
«Ich meine, bis er so aussieht, daß kein Hund mehr vor ihm erschrickt.«
«Mit allen Deckungen und Plastiken, die nötig sind, mit allen Korrekturen und Ausscheidungen — mindestens vier Jahre. «Sie nahm das Protokoll und legte es zurück in ihre Stationsmappe.»Und auch dann wird er noch immer aussehen wie eine Alraunwurzel.«
«Du hast mit ihm gesprochen?«
«Ja. Aber er weiß es nicht. ich konnte es ihm nicht sagen. Nicht jetzt schon.«
«Und seine Angehörigen? Willst du mit seiner Mutter reden? Mit seiner Frau?«
«Ich werde es einmal müssen. Vor allem mit ihm natürlich. Nur nicht sofort. Er ist einer von den Menschen, die in ihr Unglück hineinwachsen müssen, um es ertragen zu können. Ich weiß noch nicht, wie ich ihm die Wahrheit beibringen soll.«
Professor Rusch ergriff beide Hände Lisas und zog sie näher zu sich heran.
«Wir kennen uns so gut«, sagte er stockend.»Und im Grunde kennen wir uns so wenig. Bitte, beantworte mir ehrlich eine Frage: Könntest du noch einen Mann lieben, der. der so aussieht wie Schwabe.?«
«Warum willst du darauf eine Antwort?«
«Sie ist wichtig, Lisa.«
«Gut. - Ja, ich könnte einen solchen Mann lieben. wenn du es wärst.«
«Danke. «Professor Rusch erhob sich abrupt. Es war, als sei eine unruhige, treibende Kraft über ihn gekommen.»Setzen wir morgen schon Schwabe auf den OP-Plan! Es war gut, was du gesagt hast… ich war einen Augenblick im Zweifel, ob man dem Mann noch helfen könnte. Jetzt weiß ich, daß alles sinnvoll ist, wenn eine Frau wirklich lieben kann.«
In der Stube B/14 hatte man endlich eine Sensation.
Der Gefreite Theodor Baum entwickelte sich unter den Augen seiner fünf Stubenkameraden zu einem medizinischen Phänomen.
Es hatte zunächst ganz harmlos angefangen. Theodor Baum kam auf Schloß Bernegg mit einem zerstörten Kinn. Ein Granatsplitter hatte ihm einen Teil glatt wegrasiert. Vor der Knochenspantransplantation überpflanzte Dr. Lisa Mainetti ihm zur Deckung des Knochens einige Weichteile. Sie nahm dazu einen schönen, kräftigen Brustlappen Baums.
Der eingepflanzte Lappen wuchs sehr gut an, aber dann zeigte sich etwas, was sowohl Lisa wie der Chefarzt mit Verwunderung beobachteten: Das transplantierte Stück schwoll dermaßen an, daß Theodor Baum nach sechs Wochen mit einem mächtigen fleischigen Kinn herumlief, das aussah wie eine verpflanzte Frauenbrust. Die Stube B/14 verfolgte die Verwandlung mit Staunen und Entzücken.
«Dös is a Ding!«sagte der Unteroffizier Wastl Feininger aus Berchtesgaden.»Dös könnt' mei Resi direkt neidisch machen.«
Paul Zwerch aus Berlin stellte mit wissenschaftlichem Ernst Beobachtungen über das Wesen eines Zwitters an.
«Halt's Maul!«schrie Theodor Baum. Er wickelte einen Schal um seinen Kopf, aber die rapide Vergrößerung des Kinns ließ sich nicht eindämmen.
In der siebten Woche schlug die Stube B/14 aus diesem Phänomen reiches Kapital. Man hatte dafür gesorgt, daß die Verwandlung des Gefreiten Baum im ganzen Lazarett bekannt wurde. Von Block A und
C kamen die Gehfähigen herüber und durften gegen einen Eintritt von zwei Zigaretten pro Mann einen Blick auf >Titten-Theo< werfen.
Waren genug Zuschauer in der Stube, löste Theodor Baum seinen Schal und ließ sein Kinn frei in der Luft baumeln. Für fünf Zigaretten durfte man es anfassen und sich an zu Haus erinnern.
«Mensch, det is ne Wolke!«rief einer, der auch durfte.
Die Stube B/14 schwamm in Zigaretten.
Da wurde Theo erneut von Dr. Lisa Mainetti in den OP befohlen.
«Nun werden wir das radikal angehen, lieber Baum!«sagte die Ärztin vergnügt.»Ich nehme an, Sie haben jetzt mindestens für ein halbes Jahr zu rauchen.«
Bei dieser Operation wurden die wuchernden Fettzellen des Brustlappens gestutzt. Das Kinn wurde aufgeschnitten, das ödematöse Fettgewebe zum Teil mit der überschüssigen Epidermis entfernt. Dann wurde das Kinn wieder geformt und vernäht. Wie ein normaler Mensch kam Theodor Baum zurück in die Stube B/14.
«Ich hab' immer so schön g'träumt, wenn ich den Theo kurz vorm Einschlafen g'sehn hab'«, sagte der Unteroffizier Feininger.»Nix gönnen s' einem im Lazarett.«
Aber der Brustlappen Theos trotzte dem chirurgischen Messer. Das Fettgewebe schwoll erneut an, und in der vierten Woche hatte Theo Baum wieder sein hängendes, brustähnliches Kinn, ein wenig kleiner und straffer, aber deshalb für die interessierten Betrachter um so attraktiver.
Der Berliner Paul Zwerch befühlte es und nickte zufrieden.
«Jugendfrisch und kräftig!«stellte er fest.»Wir müssen den Eintritt erhöhen, Kameraden!«
Diesmal kam ihnen Lisa Mainetti zuvor. Sie holte sich Theo wieder und operierte ein drittes Mal, so radikal, daß Professor Rusch kopfschüttelnd daneben stand und bemerkte:»Jetzt hat er überhaupt kein Kinn mehr!«
Aber es gelang. Der eingewachsene Brustlappen verhielt sich fort-an neutral. Das Kinn Theo Baums wurde schön und rund. Als er zur ambulanten Behandlung nach Hause entlassen wurde, kam sich die Stube B/14 verwaist vor.
«Immer reißt et uns de Besten von da Seite«, sagte Paul Zwerch melancholisch.»Wer wird uns unseren Theo ersetzen.? Jetzt fehlt uns eener, dem se ne Hinterbacke als Wange verpflanzt haben. Kinder, der war' 'n Geschäft. Einmal tätscheln — fünf lange Kippen!«
Sie wurden enttäuscht. Erich Schwabe kam auf die Stube.
Sechs Wochen hatte Schwabe auf den Augenblick gewartet, in dem er außer den Schwestern, Ärzten und Sanitätern anderen Menschen begegnen würde. An ihren Mienen würde er erkennen, wie er aussah, und sie würden ihm auch sagen, wenn er sie darum anbettelte: Das fehlt in deinem Gesicht, und da siehst du noch verbogen aus. Und er konnte sie fragen: Sagt, Kameraden — würdet ihr an meiner Stelle, so wie ich jetzt aussehe, jetzt schon meine Frau kommen lassen?
Nun war es endlich soweit. Nach fünf Operationen, in denen Professor Rusch und Dr. Lisa Mainetti ihm Weichteillappen in das Gesicht transplantiert hatten und Oberarzt Dr. Urban die Bemerkung fallenließ:»Rassisch gesehen, ist Ihre Physiognomie eine Novität in Günthers Rassenalbum.«, was Schwabe nicht verstand, wurde er von der neuen Stationsschwester Dora Graff, einer blonden 23jährigen Rote-Kreuz-Schwester, aus seinem Einzelzimmer abgeholt und durch einen langen Flur in die Stube B/14 geführt.
Wie bei den anderen Gesichtsverletzten, die er schon vom Fenster aus hatte im Garten arbeiten sehen und deren Anblick ihn beruhigt hatte, war auch sein Gesicht jetzt mit Leukoplaststreifen überklebt. Nur über das linke Ohr hatte man noch Binden gewickelt, weil die Stelle, wo die Ohrmuschel abgerissen war, näßte.