Mit heulendem Motor fuhr Petsch davon. Der matschige Schnee spritzte hinter den rasenden Hinterrädern hoch und übergoß Ursula mit Schmutz und schlammigem Wasser.
Langsam wischte sie es ab, nahm den Kessel aus dem schmutzigen Schnee und stieg in den Keller.
In zehn Tagen kommt das Kind, dachte sie, und es war wie ein stilles, ergreifendes Flehen. Wie schön wäre es, dieses Leben zu geben und selbst dabei zu sterben. Wie schön — und wie einfach wäre die Lösung aller Probleme.
Sofort nach seiner Entlassung aus dem Nazilager Darmstadt wollte Professor Rusch zurück nach Bernegg.
«Ich muß Braddock noch einmal sehen, bevor er zurück in die Staaten fährt«, sagte er.»Und die Verwundeten brauchen mich auch. Wir haben schon zuviel Zeit verloren.«
Aber Lisa Mainetti schüttelte den Kopf.»Nein«, sagte sie.»Und ich sage dieses Nein als Frau. Du hast es nicht anders gewollt, Walter — nun zieh die Konsequenzen und füge dich! Nein, wir fahren nicht sofort nach Bernegg. Ich habe noch neun Tage Urlaub, und die verleben wir allein in aller Stille.«
«Das fängt gut an!«Rusch drückte Lisas Arm fester an sich.»Noch nicht verheiratet, und schon wird kommandiert!«
«Du kannst es dir immer noch überlegen.«
«Lieber Himmel. «Rusch legte den Arm um Lisas Schulter.»Ich füge mich. Wohin willst du mich verschleppen?«
«Dorthin, wo ich dich ganz allein habe und wo ich vor langen Jahren einmal — das letztemal — wirklich glücklich war, als junges Mädchen — in Heidelberg.«
«Auch ich habe in Heidelberg studiert.«
«Ich weiß es. Darum fahren wir.«
In einem der wenigen von den Amerikanern nicht beschlagnahmten Hotels fanden sie ein kleines Zimmer. Der Besitzer erinnerte sich noch an den Dozenten Dr. Rusch, der jeden Donnerstag mit einem Stammtisch im Hinterzimmer gesessen hatte.»Das waren Zeiten«, seufzte er.»Damals hatten wir als Speisekarte ein Buch mit sechs Seiten… heute steht da: >Maisgrießsuppe mit Einlage und Schmorbraten mit Maisknödel.< Aber fragen Sie mich nicht, was >Einlage< bedeutet.«
Es war alles unwichtig, was um sie herum geschah. Der Krieg war vorbei, das Untersuchungslager — nun gab es nur noch eins: sie ganz allein, ihre Liebe, die reif und schwer war wie alter, abgelagerter Wein, und ihre gemeinsamen glücklichen Gedanken, die nüchtern die Tatsachen durchdachten und die >unsere gemeinsame Zukunft< hießen.
«Soll ich wirklich nach Amerika gehen?«fragte Rusch immer wieder. Ja, er schreckte mehrmals hoch, mitten aus einer zärtlichen Geste Lisas, stützte sich auf, sah ihr tief in die weiten, glücklichen Augen und fragte unsicher:»Sollen wir wirklich nach Amerika?«
«Ich weiß es nicht, Walter. Ich weiß es wirklich nicht«, sagte sie jedesmal, aber er hörte aus ihrer Stimme heraus, daß sie an ein Nein dachte.
«Wir hätten keinerlei Sorgen mehr, Lisa. Man würde mir alle Möglichkeiten der Weiterentwicklung der Gesichtsplastik einräumen. Es gäbe keinen Hunger mehr, keine finanziellen Überlegungen, man würde uns ein Haus zuweisen, das wir abzahlen könnten, ich würde ein-mal amerikanischer Staatsbürger werden. Es wäre wie ein erfülltes Schlaraffenland — es wäre wirklich ein neues Leben.«
«Ich weiß. «Lisa legte den Kopf auf seine Brust und umschlang seine Schultern. So lag sie, eng an ihn gepreßt, und hörte auf den schnellen Schlag seines Herzens.»Ich weiß gar nichts mehr. Ich weiß nur, daß ich glücklich bin… glücklich… glücklich.«
«Wie ein kleines Mädchen.«
Sie nickte und rieb ihre Nase auf seiner Brust.»Ich fange dort wieder an, ich habe so viele Jahre nachzuholen.«
«Und diese Frau hat einmal die Landser angeschnauzt wie ein ostpreußischer Feldwebel.«
«Das kann ich auch jetzt noch. «Sie richtete sich auf, kniete neben Rusch und drückte das Kinn an den Hals.»Rusch, Sie ewiger Denker, können Sie nicht endlich mit diesem Blödsinn aufhören?«Ihre Stimme war hart und laut wie im Lazarett.»Sie sollen nicht denken, Mann — Sie sollen lieben! Verdammt noch mal, daß man Ihnen alles zweimal sagen muß!«
Rusch lachte und zog sie zu sich hinab.»Liebe Dr. Mainetti«, flüsterte er in ihr Ohr.»Ihre therapeutischen Fähigkeiten sprengen alle Lehrbücher.«
Aber später richtete sich Rusch unvermittelt wieder auf und saß wie erschrocken im Bett. Lisa schlief, selig lächelnd die Fäuste geballt wie ein träumendes Kind.
«Amerika«, sagte Rusch leise.»Mein Gott, sollen wir wirklich nach Amerika?«
Am Abend gingen sie wieder durch Heidelberg. Die amerikanischen Uniformen herrschten vor, nur ab und zu sah man einen deutschen Zivilisten, blaß, eingefallen, vom Krieg gezeichnet, verschüchtert, ohne Hoffnung in den Augen.
Vom Bahnhofsviertel herüber hörten sie Lärm und das Schreien eines Menschen. Dort war ein Auflauf. Zwei Polizeiuniformen tauchten in der wogenden Menge auf, zwischen ihnen ein Mann, der um sich schlug, der gegen die Beine der Beamten trat und dessen Stimme über den stillen abendlichen Platz gellte.
«Ihr Bande!«brüllte der Mann.»Noch kein Jahr vorbei, und schon kommen die Götter in Uniform wieder. Ihr kriegt euer Gehalt, ihr habt zu fressen, aber wer sorgt für mich? Loslassen, sag' ich, loslassen. Ihr Hunde. Helft mir doch, Leute! Verdammt — überall nur Feiglinge. Feiglinge! Das Gesicht haben sie mir weggeschossen — und nun soll ich dafür verhungern!«
Dr. Mainetti krallte die Finger in Ruschs Arm.»Hast du das gehört, Walter?«
Professor Rusch nickte heftig.»Komm«, sagte er.»Das sehe ich mir an.«
Sie rannten über den Bahnhofsplatz, auf die dunkle Menschentraube zu und kamen an, als die Polizisten den tobenden Mann im Polizeigriff auf die Knie zwangen.
Er hatte einen alten, blauweiß gestreiften Anzug an, sein blondes, langes, ungeschnittenes Haar hing wirr und verschwitzt über ein schiefes, von Narben und Kerben zerklüftetes Gesicht, in dem ein hängendes Auge tränte, während das zweite vor verzweifelter Wut sprühte.
«Hunde«, kreischte der Mann.»Ihr feigen Schweine!«
«Hertz!«schrie Lisa Mainetti auf, als sie das zerstörte Gesicht sah.»Walter Hertz!«
Der Mann riß an den Fingern der Polizisten, sein Kopf schnellte hoch. Mit weiten Augen starrte er auf Lisa und auf Professor Rusch, die in den Kreis getreten waren.
«Frau — Frau Doktor«, stammelte Walter Hertz.»Herr Professor. «Dann verließ ihn alle Kraft, alle Auflehnung, alle Wut. Schlaff hing er in den Händen der Polizisten und ließ sich willenlos aufrichten.
«Sie kennen den Mann?«fragte einer der Polizeibeamten.»Wer sind Sie?«Es war wie ein Anpfiff.Professor Rusch sah sich langsam um.
«Merkwürdig«, sagte er so laut, daß es alle hörten.»Ich habe immer geglaubt, der deutsche Kommiß sei am 9. Mai 1945 endgültig gestorben. War wohl ein Irrtum.«
«Das bringt die Uniform so mit sich«, sagte Lisa ebenso laut.»Ein buntes Tuch über einer deutschen Brust, und ein Halbgott ist ge-boren!«
Der dunkle, sie umringende Menschenkreis lachte. Die beiden Polizisten sahen Rusch und Dr. Mainetti mit verkniffenen, wütenden Gesichtern an.
«Ihre Kennkarte«, rief einer von ihnen.
«In der deutschen Sprache gibt es das Wort >bitte<. Auch wenn es für eine Beamtenzunge schwer auszusprechen ist«, sagte Lisa.
«Sie kommen mit?«
«Genau das war unser Wunsch. «Professor Rusch trat auf Walter Hertz zu und hob seinen Kopf hoch, indem er die Hand unter das Kinn legte.»Mein Junge, keine Angst«, sagte er gütig.»Das kriegen wir alles hin, genau wie wir dein Gesicht hingekriegt haben.«
Walter Hertz nickte. Dann sah er die Polizisten an, und es war fast Triumph in seinem Blick.»Das ist Professor Rusch, ihr Idioten!«sagte er.»Mein Chefarzt.«
Auf der Polizeiwache wurde alles schnell geklärt. Walter Hertz war aufgegriffen worden, als er eine Stange Camel-Zigaretten verkaufen wollte.
«Wir wollten nur die Stange beschlagnahmen«, sagte der Polizist.»Das kennen wir ja, ist nichts Neues. Aber der Kerl schlug gleich um sich und brüllte. Da mußten wir eben notgedrungen.«