Später standen sie auf der Straße, und Walter Hertz weinte in die vor das Gesicht geschlagenen Hände.
«Wo wohnst du?«fragte Rusch.
«In einem verlassenen Keller.«
«Aber — «, Dr. Mainetti schwieg, als Rusch ihr abwinkte.
«Das, was geschehen ist, erzählst du uns alles später. Hier hast du Geld. Damit fährst du nach Bernegg und sagst zu Major Braddock, ich schickte dich, und er möchte dich wieder hinauf aufs Schloß bringen. Du bleibst von jetzt an bei uns, hast du verstanden?«
Walter Hertz schüttelte den Kopf.»Ich will nicht mehr, Herr Professor«, stammelte er.»Ich kann einfach nicht mehr — das war das letzte, heute. Ich mach' Schluß!«
«Unsinn! Wir unterhalten uns über alles in Ruhe in Bernegg.«»Ich will nicht mehr!«schrie Hertz.»Ein Mensch ohne Gesicht ist kein Mensch mehr!«
«Ach so«, sagte Lisa Mainetti leise.»So ist das. «Sie legte den Arm um Hertz' zitternde Schulter und vermied es dabei, Rusch anzusehen.»Morgen früh fahren wir alle drei zurück nach Bernegg, was? Es wäre gelacht, wenn ein Walter Hertz an der Umwelt zugrunde ginge!«
«Es geht nicht mehr«, stöhnte Hertz. Dr. Mainetti ließ ihn los.
«Noch einmal eine solche Antwort, und es donnert!«brüllte sie. Hertz zuckte zusammen und hob das tränenüberströmte Gesicht.»Morgen fahren wir nach Bernegg — oder wollen Sie mir einen Korb geben, Sie Flasche?«
«Ne — nein, Frau Doktor. «Walter Hertz legte die Arme an.»Ich komme. Auf Ehrenwort.«
Und er lächelte sogar, ganz schwach. Aber es war ein sichtbarer Hauch der Geborgenheit.
In der Nacht zuckte Rusch wieder hoch. Er sah, daß auch Lisa nicht schlief und mit offenen Augen neben ihm lag.
«Lisa«, sagte er leise. Seine Stimme war merkwürdig heiser.
«Ja, Walter. Was, Liebster?«
«Jetzt weiß ich es. Amerika.«
«Und.?«
«Ich werde nicht fahren. Man braucht mich hier nötiger.«
«Ich wußte es, Walter. «Lisa Mainetti ergriff seine schlaffe Hand und küßte sie.»Es wäre auch gar nicht anders möglich gewesen. Denn ich wäre nie mitgefahren.«
Am Morgen fuhren sie ganz früh mit dem ersten Zug zu dritt nach Bernegg.
Kapitel 17
Major Braddock hatte bereits gepackt und wartete und wartete auf die Nachricht, wann, sein Schiff von Genua aus nach New York führe, als Professor Rusch und Dr. Mainetti wieder in Bernegg eintrafen.
«Willkommen«, rief Braddock und schielte dabei zu Lisa hinüber. Er sah das Glück aus ihren Augen sprühen und verbiß sich die Bemerkung, daß zwischen der Entlassung aus Darmstadt und der Rückkehr nach Bernegg einige Tage vergangen seien und diese Zwischenzeit trotz Maisgrieß und Brotaufstrich aus roten Rüben offenbar äußerst belebend gewirkt hätte.»Es ist schön, daß Sie zurück sind, Professor. Hat man Ihnen in Darmstadt noch nichts gesagt?«
«Gesagt? Nein.«
«Was denn gesagt?«fragte Dr. Mainetti.
«Das Interesse für Sie ist auf unserer Seite da, Professor. Mein Land ist bereit, Ihnen.«
«Ehe Sie weitersprechen, Major — «, Rusch setzte sich und nippte an dem Whisky, den ihm Braddock gleich bei seinem Eintritt eingegossen hatte.»Wie auch immer das Angebot lauten wird — ich bleibe in Deutschland.«
«Was wollen Sie in Deutschland, Professor?«Major Braddock nickte mehrmals wie eine Puppe mit einem Spiralhals, deren Kopf man angestoßen hat.»Eine Antwort, von unserer Miß Doktor inspiriert.«
«Ich bin selbst zu dem Entschluß gekommen.«
«Was wollen Sie in Deutschland, Professor?«Major Braddock setzte sich auf die Tischkante und ließ die Beine vor Lisas Nase hin und her pendeln. Früher hatte Dr. Mainetti dies als eine Mißachtung angesehen und hatte einmal sogar Braddocks Beine mit beiden Händen festgehalten. Der Major hatte gelacht, war vom Tisch gesprungen aber am nächsten Tag saß er wieder auf der Kante und ließ die Beine pendeln. Es gehörte eben zu Braddock wie sein Whisky.»In Old Germany geht alles drunter und drüber.«
«Eben das ist es, was mich hier hält.«
«Der stille Held im weißen Kittel. Ein Hollywood-Stoff. Der Krieg hat Deutschland um Jahrzehnte zurückgeworfen. Auch in der Medizin. Während ihr Deutschen vom Nordkap bis nach Tunis die Rolle der siegreichen Germanen spieltet, hat unsere Wissenschaft unser Jahrhundert überrundet. Wir haben das Penicillin entdeckt — um nur das Wichtigste zu nennen —, und auch in der Chirurgie haben wir neue Methoden entwickelt, die schneller und heilungssicherer sind auch in der Gesichtschirurgie.«
Professor Rusch sah auf seine langen, schmalen Hände.»Ich glaube Ihnen das alles, Major. Ich weiß, daß ich in die USA nicht als Lehrer, sondern als Lernender kommen müßte, und es wäre eine große Chance für mich. Aber da ist noch etwas. Sie sprachen eben von Old Germany. Es liegt am Boden, es ist ein Kranker, der im Koma liegt. Ob durch eigene Schuld oder nicht — ist das jetzt so wichtig? Fragen Sie als Arzt einen Kranken, ob er sein Leiden selbst verschuldet hat? Nein, Sie helfen. Sie wollen heilen. Dazu sind Sie auf der Welt. Und dieses kranke Deutschland braucht mich und Lisa Mainetti. Auch wenn wir und unsere Methoden veraltet sind, wie Sie eben sagten — irgend etwas ist doch noch an uns dran, womit wir die ärgste Not lindern können.«
Major Braddock starrte Rusch und Dr. Mainetti fast ungläubig und sogar mit einer Spur von Entsetzen an.»Er betrachtet dieses widerliche Deutschland als einen Kranken«, sagte er entgeistert.
«Als einen Gesichtsverletzten.«
«Professor, Sie sind verrückt.«
«Deutschland hat durch seinen zwölfjährigen Wahnsinn und seinen Krieg vollkommen sein Gesicht verloren. Niemand erkennt es wieder, jeder schaudert vor ihm, alle ekeln sich vor ihm, überall stößt es auf Abscheu. Wie meine Patienten dort oben auf dem Schloß. Nun, da der Kranke, der sinnlos Verstümmelte, vor uns liegt, sollen wir die Handschuhe ausziehen, die Masken abbinden und weggehen vom OP-Tisch? Sollen wir dieses verlorene Gesicht einfach vernarben lassen, damit es eine schreckliche Fratze bleibt? Nein, Major — gerade jetzt beginnt unsere Arbeit, eine Herkulesarbeit, gewiß, aber nun haben wir ein Ziel, ein deutliches Zieclass="underline" Oben im Schloß geht es um Nasen und Lippen, um Kiefer und weggerissene Weichteile. Im großen aber geht es jetzt darum, dafür zu sorgen, daß man eines Tages auch das Deutschland wiedererkennt, dem man ohne Ekel die Hand reichen kann.«
«Worte, wie für ein Lehrbuch über Nationalstolz. «Major Braddock winkte lässig ab, als Rusch wieder etwas erwidern wollte.»Sparen Sie sich alle heldischen Metaphern, Professor. Deutschland liegt auf dem Rücken wie eine halbtote Fliege. Man braucht jetzt nur den Fuß zu heben und krrr — ist diese Fliege endgültig zertreten. Niemand hindert uns daran, es zu tun. Jederzeit, wann es uns paßt. Und Deutschland wird immer diese auf dem Rücken liegende, halbtote Fliege bleiben. Dafür gibt es den Morgenthau-Plan, den wir noch immer in der Schublade schlummern haben. «Braddock lächelte zufrieden, als er das blasse Gesicht Lisas sah und die verhärtete Miene Professor Ruschs. Endlich sind sie sprachlos, dachte er.»Was wollen Sie denn noch in Deutschland?«hakte er wieder ein.
«Es mag dumm klingen«, sagte Rusch laut,»aber wenn ich schon in Ihren Augen nur eine Fliege bin, möchte ich auf keinen Fall zu einer Wanze werden.«
«Sehr gut. «James Braddock lachte und klopfte Rusch auf die Schulter.»Ehrlich gesagt — es hätte mich enttäuscht, wenn Sie in die Staaten gekommen wären — jetzt schon.«
«Sie sind ein Teufel, Braddock«, sagte Lisa ehrlich.
«Wenn Sie >lieber Teufel< gesagt hätten, würde ich es akzeptiert haben. «Er sah aus dem Fenster und bemerkte Walter Hertz, der zwischen zwei riesigen MP-Soldaten stand und hinaufstarrte zum Schloß.»Wer ist denn das? Den muß ich doch kennen?«