Karlheinz Petsch beobachtete still und interessiert die Veränderung Schwabes. Er sagte nichts. Er half, wo er konnte, er flößte Schwabe die Narkotika ein, wenn er vor Schmerzen selbst dazu nicht mehr in der Lage war, er machte die vielen Wege zu den Lieferanten Schwa-bes geduldig mit und setzte die Scheiben ein, die ihm Schwabe zu Hause zugeschnitten hatte. Nur einmal sagte er zu Ursula, als Schwabe in der Apotheke ein neues Rezept einlöste und Frau Schwabe seit drei Stunden wegen einer Sonderzuteilung Frischfisch anstand:»Wer hat recht gehabt, Mädchen? Es geht nicht mehr lange, es wird nie mehr gehen. Ein solches Gesicht bekommt kein Arzt mehr hin. Und wenn es wirklich so weitergeht — was wird dann? Der Erich wird Morphinist.«
«Es ist nicht seine Schuld. «Ursula sah Petsch fast flehend an.»Und du — du laß mich in Ruh'.«
Petsch nickte.»Ich kann warten, Mädchen.«
Anfang Februar, eine Woche vor der errechneten Geburt des Kindes ging es nicht mehr weiter. Erich Schwabe lief wimmernd durch die Kellerwohnung. Frau Schwabe saß entsetzt neben dem Ofen und weinte, Ursula versuchte, ihn zu beruhigen, aber er schrie sie an, aufgelöst in seiner Qual, zermartert von den Schmerzen, die sein Hirn durchbohrten und es aus den Schläfen zu reißen schienen.
«Du mußt nach Bernegg«, sagte Ursula immer wieder.»Du mußt an diese Frau Dr. Mainetti schreiben. Sie allein weiß, was das mit deiner Nase ist.«
«Nicht jetzt«, stöhnte Erich Schwabe. Er legte kalte Kompressen auf seine Nase, er schluckte Narkotika, bis er vor sich hindämmernd auf dem Bett saß und wie verblödet in den Keller stierte. Aber kaum ließ die Wirkung etwas nach, schrie er wieder auf und rannte stöhnend herum.
«In einer Woche kommt das Kind«, sagte Schwabe in einer der jetzt ganz seltenen Pausen zwischen den Anfällen.»Ich will dabeisein. Unser erstes Kind, Uschi. Ich will es sehen und auf den Armen tragen.«
«Aber du hältst es so nicht aus, Erich. Du mußt.«
«Ich verspreche dir, daß ich sofort nach Bernegg fahre, wenn das Kind angekommen ist. Jahrelang habe ich mich auf diesen Tag gefreut: Mein Kind kommt auf die Welt. Das lasse ich mir von niemandem nehmen. Von niemandem, auch nicht von diesen verdammten Schmerzen.«
An einem Februartag war es ganz schlimm. Auch die Betäubungsmittel halfen nicht mehr. Erich Schwabe lag auf dem Bett und schlug in wahnsinnigem Schmerz mit den Absätzen der Schuhe gegen das Bettgestell. Und jeder Tritt war ein lautes Stöhnen und ein Stich im Gehirn.
Erst spät in der Nacht schlief er endlich ein. Ursula hielt ihm die Hände fest, bis er tief und regelmäßig atmete. Dann setzte sie sich an den Tisch und schrieb einen Brief an Dr. Mainetti. Sie versteckte ihn und brachte ihn am nächsten Morgen zur Post, noch bevor Erich Schwabe aus seinem Betäubungsschlaf erwacht war.
«.bitte, bitte helfen Sie uns.«, hatte Ursula an Lisa Mainetti geschrieben.
«.sagen Sie nicht, daß ich Ihnen geschrieben habe. Erfinden Sie irgend etwas, damit er nach Bernegg kommt. Aber so geht es nicht weiter. Oder Erich wird eines Tages wahnsinnig.«
Die Antwort war fast postwendend in Köln. Es war ein kurzes, amtliches Schreiben, das Erich Schwabe durchaus nicht erfreut las.
«Im Verfolg einer routinemäßigen amtlichen Untersuchung werden Sie gebeten, sich in den nächsten Tagen auf Lazarett Schloß Bernegg einzufinden.
Bei Nichtbefolgung dieser Aufforderung erlischt ein späterer Rentenanspruch.«
«Da mußt du hin«, sagte Frau Hedwig Schwabe.
«In fünf Tagen kann das Kind kommen.«
«Wenn deine Rente erlischt!«
«Ich werde hinschreiben. «Schwabe las die Unterschrift.»Professor Rusch hat selbst unterschrieben. Er ist wieder da. Ich werde.«
«Du wirst hinfahren, Erich«, sagte Ursula energisch.»Und zwar schon morgen. Dann bist du wieder zu Hause, wenn ich.«
«Ich warte«, sagte Erich Schwabe störrisch. Er wandte sich an Karlheinz Petsch, der still in einer Ecke saß und frischen Schinken in dünne Scheiben schnitt. Für zwei Pfund Schinken sollte er zehn Sack Zement erhalten.»Was meinst du, Karlheinz?«
Petsch hob die Schultern.»Meine Meinung in Familiendingen ist hier nicht gefragt. Aber von Kumpel zu Kumpel sage ich dir: Fahr hin, Mensch. Gerade jetzt, wo's so in deiner Birne brennt. Weißt du denn so genau, wann das Kind kommt? Wenn's nun noch 14 Tage dauert? Die Bälger kommen nicht nach 'm Fahrplan. Aber ich würd' es mir verdammt überlegen, ob ich den ganzen Kopf nun wegwerfe, wenn ich schon 'n Gesicht verloren habe, 'n Kind ohne Vater ist nämlich wirklich auch kein Idealfall.«
«So schlimm ist's nun auch wieder nicht.«
«Weißt du's? Biste 'n Arzt, Erich?«
«Es sind die Nerven, Karlheinz.«
«Auch gut. Und was macht 'n Kind, das 'nen verrückten Vater hat? Mensch, hau dich in Bernegg in die Klappe und laß dir alles durchsehen. Ich pass' schon auf, daß hier alles weitergeht. Und wenn's mit Uschi soweit ist, hole ich dich mit 'm Wagen ab. Ehrenwort.«
Am nächsten Tag fuhr Erich Schwabe nach Bernegg. Alle begleiteten ihn zum Zug. Sie winkten mit beiden Armen, als der Zug aus der Bahnhofshalle rauchte. Ursula lief neben dem Fenster her, so gut sie es noch konnte mit ihrem schweren Leib.
«Schreib mir sofort, Erich«, rief sie keuchend und blieb stehen, weil das Kind in ihr zuckte und trat und ihr fast das Herz abdrückte.»Und erzähl alles. Und hab keine Angst. Es wird alles gut gehen. Es wird alles — gut — gehen.«
Karlheinz Petsch stand neben ihr, als der Zug aus der Halle hinaus in den schneeigen Tag stampfte. Auch er winkte und legte plötzlich den Arm um Ursulas schmale Schulter.
«Laß das!«zischte sie wütend.
«Ich bin jetzt für dich verantwortlich, Mädchen.«
«Bis er zurückkommt, lass' ich dich nicht mehr in die Wohnung.«
«Das wird er dir übelnehmen. Er hat extra zu mir gesagt: >Sorg für Uschi wie ein Bruder.<«
Sie schüttelte seine Hand ab und trat zwei Schritte von ihm weg. Frau Hedwig beobachtete es und biß sich auf die Unterlippe. Aber sie sagte oder unternahm nichts. Was sollte sie auch tun? Es war ein verfahrener, im Schlamm steckengebliebener Karren, und sie fühlte sich viel zu schwach, um ihn wieder herauszuziehen.
In seinem Abteil setzte sich Erich Schwabe still in seine Ecke, nachdem der Bahnhof im Morgendunst verschwunden war. Er fühlte die Blicke seiner Mitreisenden auf sich liegen wie klebrige Finger, die schamlos und ohne jegliche Rücksichtnahme sein zerstörtes Gesicht abtasteten.
«In Rußland passiert?«fragte ein Mann ihm gegenüber.
Schwabe zuckte zusammen.
«Ja«, antwortete er leise.
«Ihre Frau? Die Blonde?«
«Ja.«
«Eine tapfere Frau, nicht wahr?«
«Warum?«
Er bekam keine Antwort. Er las sie in den Blicken der Mitreisenden. Blicke voller Grauen, verstecktem Ekel, Neugier und unterdrücktem Abscheu. Und Blicke voll triefendem Mitleid. Und plötzlich erkannte er die Ungeheuerlichkeit: Ursula war in diesen ihn anstarrenden Augen tapfer, weil sie ihn liebte — ihn, den Menschen ohne Gesicht.
«Wird — wird das wieder besser?«fragte eine junge Frau, die an der Tür saß.
«Nein«, sagte Schwabe laut und grob. Die Reisenden zuckten zusammen.
«Aber die Kunst der Ärzte. «Der Mann ihm gegenüber hob wie dozierend die Hand.»Ich habe da einmal irgendwo gelesen — aber vielleicht war's nur ein Roman und die Phantasie eines Schriftstellers.«
«Können Sie keine Maske tragen?«Eine Frau mit dicker Hornbrille sah Schwabe interessiert an.»Im Mittelalter hatte man so etwas. Wenn ein Gesicht von Lepra oder Pocken zerfressen war, trug man damals Masken aus weichem Leder. Bei unserer heutigen Wissenschaft wäre es doch möglich.«
Erich Schwabe erhob sich und ging hinaus auf den Gang. Dort lehnte er sich gegen die Scheibe und starrte hinaus in die vorbeifliegende, tief in den Schnee gebettete Landschaft des Westerwalds.