Выбрать главу

Was soll ich sagen, wenn ich plötzlich vor ihnen stehe? dachte er. Was kann geschehen, wenn dieser Brief nur eine Lüge ist? Wenn er wahr wäre — bestimmt hätte Mutter etwas zu mir gesagt. Mutter hätte es mir nie verschwiegen, nie. Sie hätte Ursula hinausgeworfen und diesen Karlheinz Petsch dazu.

Ein neuer, ihn voll und ganz ausfüllender Zweifel hemmte in ihm alle Aktionen. Mein Gott, wenn es nicht wahr ist, dachte er.

Vom anderen Ende der Straße rappelte ein Auto heran. Schwabe erkannte es: der P4 mit der seitlichen Ölfarbenaufschrift >Schwabe & Petsch. Wiederaufbau GmbH<. Die letztere, dumme Bezeichnung stammte von Petsch und war auf Schwabes Widerstand gestoßen. Aber es zeigte sich, daß Petsch ein fabelhafter Psychologe war: Das Wort Wiederaufbau GmbH< war wie ein Magnet. Es zog Butter, Eier, Kaffee, Tabak, Schinken und Speck an, wo es auch auftauchte.

«Man muß die Mentalität der Menschen kennen, dann klappt's«, war Petschs zweites Wort, und er hatte bisher immer recht behalten.

Schwabe zertrat seine Zigarettenkippe und drückte sich gegen die zerborstene Mauer. Der Wagen hielt vor dem Schwabekeller. Petsch sprang aus dem Auto, rannte um den Kühler herum und riß wie ein Chauffeur die andere Tür auf. Langsam stieg Ursula heraus. Sie war durch ihren schweren Leib unbeweglich und unsicher geworden. Petsch faßte sie unter — fast zu liebevoll, dachte Schwabe — und stellte sie auf die glatte Straße.

«Na, das hätten wir«, hörte Schwabe deutlich Petsch sagen.»Zufrieden, Mädchen?«

«Ja, Karlheinz.«

«Und was kriegt der gute Heinzi dafür?«

Ursula lachte. Sie beugte sich vor und gab Petsch einen Kuß auf die Augen.

«Wie zahm«, sagte Petsch.»Früher war's mehr.«

Erich Schwabe preßte die Hände flach gegen die rissige Mauer. Zitternd starrte er hinüber zu Ursula und Petsch, der wieder um den Wagen herumging und einstieg.

«Ich bring' die Karre weg und komm noch auf 'nen Sprung zu euch«, rief er.»Und dem Erich kannste schreiben, daß du hierbleibst.«

Schwabe verhielt sich still. Er sah, wie Ursula in den Keller hinabstieg und drückte sich eng an die Wand, als Karlheinz Petsch mit dem P4 an ihm vorbeifuhr. Trotz des Motorenlärms hörte Schwabe, wie Petsch lustig und laut pfiff.

Dann war wieder die einsame, kalte Nacht um ihn, und auch in seinem Inneren war es Nacht und kalt und von einer grenzenlosen Öde.

Es war nicht mehr nötig, hinabzugehen in den Keller und zu fragen. Es war sinnlos geworden, Lügen zu hören und sich zu bemühen, sie zu glauben, um sich selbst zu betäuben vor der zerreißenden Wahrheit.

Was sollte jetzt noch gefragt werden? Was hatten Beteuerungen, gestammelte Worte, Tränen, Schwüre, Erklärungen noch für einen Sinn?

Erich Schwabe löste sich aus der Dunkelheit der Trümmer und tappte durch das Ruinenfeld, quer durch die zerstörten Häuserreihen, zurück in die Innenstadt. Erst drei Häuserblocks weiter, wo er eine Begegnung mit Petsch nicht mehr zu befürchten hatte, trat er wieder auf die Straße und stapfte durch den eisigen Wind wieder dem Rhein zu.

Auf der Pontonbrücke kam ihm ein anderer junger Soldat entgegen, der Zigarettenspender war abgelöst worden und schlief jetzt unter einer warmen flauschigen Decke in seiner Wachbaracke. Vielleicht träumte er von dem Mann ohne Gesicht, dem er eine Zigarette geschenkt hatte, aus purem Entsetzen, weil er noch nie ein so zerstörtes Gesicht gesehen hatte.

Im Deutzer Bahnhof klemmte sich Schwabe in eine Ecke des notdürftig mit Sperrholz und Pappe abgedichteten Wartesaals. Die ätzende Luft von Schweiß, trocknenden, nassen Kleidern, Ausdünstungen von ungewaschenen Körpern trieb die Müdigkeit in seine Augen. Wie die hundert Menschen um ihn rollte sich auch Schwabe zusammen und schlief.

Nun bin ich ganz allein, war das letzte, was er deutlich dachte. Kein Gesicht, keine Heimat, keine Frau, keine Mutter, keine Zukunft. Wie eine Ratte liegt man hier, wie sie verfolgt von Abscheu und Ekel.

Ein Abfall des Krieges.

Von den gesunden Menschen weggestoßen.

Was ist das: Vaterland?

Am späten Nachmittag tappte Schwabe wieder durch die Ein-gangshalle von Schloß Bernegg, schmutzig, hungrig, müde, mit trüben Augen. Er stierte Dr. Mainetti, die auf der Treppe stand, wie eine Fremde an, und es war offensichtlich, daß er sie gar nicht bemerkte.

«Schwabe«, sagte Lisa laut.»Mensch, wo waren Sie denn? Wie sehen Sie denn aus?«

«Wie eine Ratte«, sagte Schwabe dumpf.

«Wo waren Sie?«

«In Köln.«

«In Köln? Ohne etwas zu hinterlassen? Ist das Kind denn schon da?«

«Das Kind?«Schwabe starrte Dr. Mainetti wie einen explodierenden Vulkan an.»Das — Kind —?«

Er warf die Arme hoch, und dann schrie er gellend auf und fiel vornüber auf das Gesicht, wie ein Baum, den der letzte Axthieb umwirft.

Es war mit ihm nicht mehr zu reden. Dr. Mainetti erreichte nichts, Professor Rusch gab resignierend auf, und auch der Famulus Baumann sagte nach einer Stunde:»Mach, was du willst, du sturer Hund. Aber den Brief an deine Frau schreibe ich nicht. Sieh zu, wer dir diesen Blödsinn schreibt!«

Erich Schwabe saß, gebadet und wie in alten Zeiten mit leukoplastverklebtem Gesicht, in Zimmer 14 und hatte die Fäuste auf den Tisch gelegt. Seit drei Stunden hatte man versucht, ihn von seinem Plan abzubringen.

«Es ist völlig sinnlos, was Sie alles sagen«, hatte er Lisa angefaucht.»Ich bleibe hier. Ich gehe nie mehr nach Köln zurück. Ich will ihnen nicht einmal mehr selber schreiben. Ihr habt den Walter Hertz wieder aufgenommen — bitte, nun nehmt auch mich auf. Ich kann mich nützlich machen. Ich kann alles, schreinern, mauern, Leitungen legen, alle Reparaturen. Stellt mich als Hausmeister ein oder als Lokuspfleger — mir ist alles egal. Aber ich bleibe hier. Und wenn ihr mich 'rausschmeißt«, er stockte und sah Dr. Mainetti aus entschlossenen Augen an,»bitte, dann ist da noch der Teich. Und Bäume gibt's hier auch genug. Ich will nichts mehr von der Welt sehen — nichts mehr, nichts«, brüllte er.

Der einzige, der ihn verstand, war Walter Hertz. Der hatte Schwabe seine Geschichte mit der Familie Wolfach erzählt.»Wir gehören eben einfach nicht mehr zu denen da draußen, Erich«, sagte er.»Es war eben ein großer Fehler, daß wir weiterleben. Als Tote wären wir jetzt Helden — aber als Menschen ohne Gesicht sind wir ein Ärgernis. Alle wollen so schnell wie möglich vergessen, und da kommen wir mit unseren Fratzen und sagen: >Seht, so war's. Das ist der Krieg.<«

Walter Hertz strich sich über sein hängendes Auge.»Der Deutsche will nicht an seine unliebsame Vergangenheit erinnert werden. Und das wird schlimmer werden von Jahr zu Jahr. Du wirst es sehen: Man wird uns persönlich übelnehmen, daß wir durch unser Weiterleben die anderen am Vergessen hindern. «Er ballte die Fäuste und hieb mit ihnen auf den Tisch wie auf eine Riesentrommel.»Aber sie sollen nicht vergessen. Sie sollen uns immer ansehen«, schrie er.»Die Schieber, die dick und fett werden, die Generäle, die ihre Memoiren schreiben über die >großen Zeiten<, die Politiker, die alles am schnellsten vergessen und von neuen Silberstreifen am Horizont träumen. Vor ihnen müssen wir stehen und sie angrinsen aus unseren zerstörten Gesichtern, bis sie im Schlaf aufschreien vor dem Anblick, der sie verfolgt bis in ihre tiefste Seelenfalte. Erich, das wäre ein Ziel, um weiterzuleben: das lebendige Gewissen einer geopferten Generation sein. Eine Mahnung für die Jungen, denen man bald wieder Kanonen und Panzer und Gewehre zum Spielen geben wird und zu denen man sagen wird: Es ist eine Ehre, eine Uniform zu tragen. Dann müssen wir dastehen, Erich, und unsere Gesichter zeigen. Und weißt du, was dann geschehen wird? Man wird uns wegschaffen, man wird uns verhaften — wegen Gefährdung des Staats.«

«Das ist alles ganz gut und schön«, sagte Schwabe und ging im Zimmer hin und her.»Aber mich geht es einen Dreck an. Ich will nichts mehr wissen, hörst du? Nichts mehr von Politik, nichts von denen da draußen außerhalb der Schloßmauer. Ich will nur leben. Ganz ruhig, ganz allein. Ich will am See sitzen und angeln, ich will im Park Spazierengehen, und ich will malen. Jawohl, malen will ich. Ich habe einmal damit angefangen, und es war ganz gut. Bäume will ich malen, und Blumen und Schmetterlinge und Wolken und die Abendsonne. Alles will ich malen — nur keine Menschen. Und hier im Park sollen sie mich begraben, dort wo die anderen Gesichtsverletzten liegen. Ich will nie mehr zurück zu den Gesunden. Nie mehr. Auch als Toter nicht.«