Für Beag Hickory
Auf deine Augen!
Mögen nie welche in deinen Kartoffeln sein.
Wacholderbranntwein oder Gin
(Auch bekannt als Mutters Verhängnis, Sorgentöter, Seelentröster, Herzerquicker, Teufelsschweiß und Mogeltropfen)
Es gab eine Zeit, da hielt man Gin als Getränk für weniger gefährlich als Wasser, weil das Trinkwasser der Stadt oft von Krankheitskeimen verseucht war. Als Gin allmählich immer weniger kostete, dauerte es nicht lange, bis das schnell süchtig machende Getränk als »Mutters Verhängnis« berüchtigt wurde. Gesetze wurden verabschiedet, die den öffentlichen Verkauf von Gin erschweren sollten. Als Folge davon entstand die sogenannte »Ginleitung«: ein Rohr in der Hausmauer mit einem daneben angebrachten Schlitz. Das nötige Geld musste in den Schlitz gesteckt werden, dann lief eine bestimmte Menge Gin in den bereitstehenden Becher.
Aus: Urbs Umida. Eine Stadt jenseits von Gut und Böse
Von K. B. und G. W. Porter-Scott
Anmerkung von F. E. Higgins
Auszug aus einem
Brief von Hector Fitzbaudly an Polly
… Von meinem Vater habe ich gelernt, wie man einen Schmetterling tötet. Wie man ihn, wenn er nichts Böses ahnt, in die Hand nimmt und zwischen Daumen und Zeigefinger an der Brust festhält, um ihn zu betäuben. Wie man den Körper dann schnell in das Glasgefäß steckt und den Deckel schließt, damit er durch das Giftgas zu Tode kommt. Vater hat mich oft gebeten, die Schmetterlinge mit dem Netz zu fangen, weil ich schnell bin und eine leichte Hand habe; sie waren nie beschädigt, wenn ich sie gefangen hatte. Ich empfinde es immer noch als Wunder, dass aus einer einfachen Raupe ein so wunderschönes Lebewesen entsteht.
Als ich älter war, lernte ich, die Schmetterlinge aufzuspießen. Im warmen Schein des Feuers und unter dem gedämpften Licht der Gaslampen hantierten wir gemeinsam in Vaters Arbeitszimmer. Ich weiß noch, wie er die nötigen Utensilien aus Regalen und Schubladen heranbrachte, ruhig und ohne Eile, und wie ich alles ordentlich auf dem Schreibtisch ausbreitete – Brettchen und Nadeln und Papier. Jedes Mal überreichte er mir dann mit großer Geste den Schmetterling, einen leuchtend gelben Zitronenfalter etwa oder einen Aurorafalter, und ich machte mich an die Arbeit.
Da ich wusste, dass Vater hinter meinem Rücken sehr genau zusah, war ich immer bestrebt, ihm zu beweisen, dass ich mir jeden Handgriff gut eingeprägt hatte. Langsam, ganz langsam führte ich die lange, spitze Insektennadel durch die Mitte des Schmetterlingskörpers, direkt zwischen den Flügeln hindurch – wobei ich immer darauf achten musste, nicht die winzigen Schuppen zu beschädigen, die ihnen ihr schillerndes Farbenspiel geben –, und spießte ihn an das für ihn vorgesehene Brett. Als Nächstes klappte ich die beiden Flügel auseinander, und zwar so, wie ich sie haben wollte: dass ihre Muster symmetrisch nebeneinanderlagen. Ich befestigte einen nach dem anderen mit Nadeln, die ich direkt hinter den größeren Adern einstach. Zuletzt legte ich über jeden Flügel ein dünnes Papier, damit er sich während der Trocknungsphase nicht aufrollen konnte. Vater sagte nichts, sondern legte nur die Hand auf meine Schulter, aber an seinem Gesicht sah ich dann immer, dass er zufrieden mit mir war.
Kurz bevor das Schreckliche passiert ist, machte mir mein Vater ein Geschenk: einen kleinen schwarzen Kokon, den man an einer Schnur um den Hals tragen konnte. Ich habe ihn immer noch, und jedes Mal, wenn ich ihn berühre, muss ich an die glücklichere Zeit damals zurückdenken.
Aber, Polly, das alles scheint schon so lange her zu sein …
Diese Beschreibung über das Präparieren und Aufspießen von Schmetterlingen – ein verbreitetes Hobby in der Zeit, in der diese Zeilen geschrieben wurden – findet sich in einem der noch existierenden Briefe aus der Korrespondenz zwischen einem Jungen namens Hector Fitzbaudly und dem Mädchen Polly (ihr Nachname ist nie erwähnt). Ich habe die Briefe im Herzen der Moira-Berge gefunden, mit einer Lederschnur zusammengebunden, an der der oben erwähnte schwarze Kokon hing. Ich glaube nicht, dass die Sammlung vollständig ist, und kann auch nicht sagen, ob die Briefe je abgeschickt wurden, wahrscheinlich eher nicht.
Dieses aufschlussreiche Bündel ist eines der vielen Dinge, auf die ich bei meinen Reisen gestoßen bin, seit wir uns zuletzt in Urbs Umida begegneten, jener unangenehmen Stadt, in der ich die Geheimnisse des rätselhaften Knochenmagiers und des Silberapfelmörders aufdecken konnte. Seither ist meine Raritätensammlung erheblich angewachsen. Sie enthält inzwischen:
1 ein Holzbein
2 einige unvollständige handgeschriebene Dokumente – die Erinnerungen eines Jungen – und ein in schwarzes Leder gebundenes Buch voller geheimer Bekenntnisse
3 ein Kästchen aus Buchenholz, in dem ein persönliches Tagebuch sowie mehrere Artikel aus dem Daily Chronicle von Urbs Umida aufbewahrt sind
4 einen silbrigen Apfel
5 die zuvor erwähnten Briefe und einen schwarzen Kokon an einer Lederschnur
6 einige Artikel aus dem Nordstadt-Journal
7 ein zersprungenes Glasauge, goldgefasst und mit Diamanten besetzt.
Die folgende Geschichte stützt sich stark auf den erwähnten Briefwechsel. Und was für eine Geschichte erzählen diese Briefe zusammen mit dem Glasauge! Wie so oft stehe ich vor mehr Rätseln als Antworten.
Doch wir wollen uns nicht länger aufhalten, Hectors Geschichte wartet …
F. E. Higgins
Erster Teil
Die geteilte Stadt
Ode an Urbs Umida
Urbs Umida, Urbs Umida,
Du dunkle, feuchte Stadt!
Von deiner Schönheit möcht’ ich singen,
Doch mein Gesang bleibt matt!
Fahr im Boot über den Foedus,
Seh einen Fisch in Not.
Der schwimmt, den Bauch nach oben,
Denn er ist mausetot.
Geh über die schwarze Brücke
Ins feuchtwarme Wirtshaus hinein.
Allabendlich prügeln sich Leute,
Da bleib ich besser allein.
Urbs Umida, Urbs Umida!
Wo ich auch geh’ und steh’,
Der Pesthauch deines Flusses
Dringt mir bis in den Zeh.
Beag Hickory
Kapitel 1
Auf der Südseite
Tartri flammis!«, fluchte Hector und die Angst schnürte ihm den Magen zusammen. Seine Brust hob und senkte sich bei jedem Herzschlag, er drehte sich langsam auf der Stelle und keuchte schwer nach der Verfolgungsjagd. Der beißende Gestank in der Luft stieg ihm in die Nase. Schon schmerzten ihm die Ohren von all den bedrohlichen Geräuschen rundum: Schreie und Geheul, Kratzen und Schlurfen und dann dieses fortwährende unheilvolle Stöhnen.
Das also ist Angst, dachte er. Ein Gefühl, das ihn auf eigenartige Weise berauschte.
Er stand mitten auf einem kopfsteingepflasterten Platz, auf dem fünf dunkle, enge Straßen zusammenliefen. Es war später Nachmittag, doch ungeachtet der Tageszeit ließ sich in dem seltsamen Dämmerlicht, das stets über diesem Teil der Stadt hing, kaum etwas deutlich erkennen. Hector war bisher erst einmal auf der anderen Seite des Flusses gewesen, aber so weit hatte er sich damals nicht vorgewagt. Er hatte den Fehler gemacht, einem Dieb und Herumtreiber nachzulaufen, der ihm seine Geldbörse gestohlen hatte. Blitzschnell war der junge Langfinger entwischt und hatte Hector dabei wie in einem ausgelassenen Tanz durch die unbeleuchteten Straßen und Gässchen geführt, bis er die Orientierung völlig verloren hatte.