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Das Leben bei Lottie war also nicht so unangenehm, wie Hector es sich anfangs vorgestellt hatte. Er bekam zu essen, er hatte ein Dach über dem Kopf und er konnte mit seinen Rätseln Geld verdienen. Die Jobs, die die anderen Jungen zu diesem Zweck machten, waren zahlreich und von unterschiedlichster Art. Manche gingen über die Brücke und putzten vornehmen Herren die Schuhe, andere fegten die Straßenkreuzungen oder bettelten einfach, und – überflüssig zu sagen – alle klauten. Ein begabter Taschendieb war Hector nicht gerade, und so war er am Anfang von Tür zu Tür gegangen, um Hühnerfüße zu verkaufen. Aber jetzt hatte er seine Rätsel.

Solange man vor den Mahlzeiten sein Tischgebet sprach, in Mrs Fitchs Gebete einfiel, wann immer ihr zum Beten zumute war (oft), und in ihre Kirchenlieder, wenn sie sang (oft und laut), und solange man die regelmäßig anfallenden Arbeiten erledigte, ließ sich das Leben aushalten. Gut, er musste sich mit Läusen und Flöhen abfinden, mit üblen Gerüchen und den Gefahren der Straße, aber das war der Preis der Freiheit. Er hatte die langen, eintönigen Tage mit seinem Lehrer im Schulzimmer nicht vergessen, als er Verben konjugieren, Substantive deklinieren und dabei immer auf der Hut sein musste vor dem Stock, den der Lehrer allzu schnell bei der Hand hatte.

Doch abends, wenn die Dunkelheit hereinbrach, sank auch Hectors Stimmung. Dann vermisste er seinen Vater besonders schmerzlich und die Wut und ein zunehmendes Rachebedürfnis nagten an seinem Herzen. Außerdem trug er schwer an der Bürde seiner geheimen Vergangenheit. Er wagte es nicht, Lottie seinen Familiennamen zu nennen, nicht mehr jetzt, nachdem dieser Name durch seine Verbindung zum Gin befleckt war. Sie hätte ihn sofort auf die Straße gesetzt! In solchen düsteren Stunden war Polly seine Rettung. Ihr heiteres und unaufdringliches Wesen brachte ihn für gewöhnlich wieder ins Lot.

Hector nutzte jede Gelegenheit, Tag und Nacht, um nach Truepin zu suchen. Im Grunde seines Herzens wusste er, dass der Gauner die Stadt wahrscheinlich längst verlassen hatte, aber eines Tages, daran musste er nur fest glauben, würde er, Hector, das schreckliche Unrecht, das seiner Familie angetan worden war, wiedergutmachen. Oft kam er erst spätnachts ins Heim zurück, frierend und hungrig, doch Polly, die immer auf ihn wartete, drang nie in ihn, sondern brachte ihm wie selbstverständlich etwas zu essen. Bei anderen Gelegenheiten, wenn Hector mit ihr am Küchentisch saß und ihr bei Briefen und anderen Schreibarbeiten half, sah sie ihn oft fragend an, als wollte sie ihn auffordern, all ihre ungestellten Fragen zu beantworten, aber er tat es nie.

Nur einmal sagte sie doch etwas. Es war nach Mitternacht und Hector saß in sich zusammengesunken, blass und müde am Tisch.

»Hector«, begann sie behutsam, »ich weiß nicht, wen oder was du in diesen Winternächten suchst, und ich will es auch nicht wissen, ich sehe nur, dass es dir nicht guttut.«

Hector öffnete schon den Mund, um zu protestieren, doch sie hob beschwichtigend die Hand.

»Ich bin deine Freundin. Und ich kann’s nicht leiden, wenn ich dich so sehe. Manchmal muss man die Vergangenheit einfach hinter sich lassen, sonst zerfrisst sie einen.«

Hector wusste, dass sie recht hatte. Könnte ich bloß alles vergessen, dachte er. Aber dann sah er wieder den leblosen Körper seines Vaters im Schmetterlingshaus vor sich, und ihm war klar, dass er seine Suche bis zum bitteren Ende fortsetzen musste – wo immer dieses Ende sein mochte.

Kapitel 10

Teufelsschweiß

Lottie Fitch, die in der Küche saß, legte das Blatt mit dem Aufruf zur Seite und nahm sich einen Augenblick Zeit für sich selbst. Sie spürte – am stärksten morgens – immer wieder heftiges Verlangen nach dem Gin, der sie so viele Jahre lang beherrscht hatte, doch dann faltete sie die Hände und betete mit ganzer Inbrunst um die Kraft, dem Verlangen zu widerstehen. Tastend fuhr sie mit der Zunge durch ihren Mund, über die Zähne und die Lücken dazwischen. Sie dachte an Hector und seine schönen Zähne, und ein trauriges Lächeln stahl sich auf ihre Lippen.

Seit Hectors Ankunft vor fast zwei Monaten musste Lottie wieder mehr an ihren eigenen Sohn denken. Ludlow. Damals, als sie ihn zum letzten Mal gesehen hatte, musste er ungefähr so alt wie Hector gewesen sein. Ihr neu entdecktes Gewissen plagte sie, wenn sie daran dachte, wie grausam Ned und sie ihn damals vertrieben hatten. Sie konnte dem Jungen kaum einen Vorwurf machen, dass er weggelaufen war.

Sie waren völlig ungeeignete Eltern gewesen. So vieles aus Lotties früherem Leben stand nur noch in verschwommenen Bildern vor ihren Augen – es machte ihr sogar Mühe, sich genau vorzustellen, wie Ludlow aussah. Er hatte doch braune Augen? Oder waren sie grün? Sie konnte ja Ned fragen. Nein, er würde es wahrscheinlich auch nicht wissen. Wenn schon Lotties Verstand ziemlich verwirrt war, stand es mit seinem zehnmal schlimmer. In all den Jahren hatte er sie beim Trinken stets überboten, so viel stand fest.

Die meiste Zeit ihres Lebens hatte sich Lottie, wie viele Urbs Umidaner, wenig für Gott und seine geheimnisvollen Wege interessiert. Aber jene Winternacht, damals, als ihre andere Hälfte (weder die bessere noch die schlechtere) Ned in den Foedus fiel, wurde für beide zum Wendepunkt in ihrem Leben. Es hatte geschneit, und sie waren an diesem Abend nur deshalb zum Fluss gekommen, weil sie hinter ihrem Sohn Ludlow herjagten. Um die Wahrheit zu sagen, sie hatten versucht, seine Zähne zu verkaufen. Natürlich wollte sich Ludlow nicht fangen lassen, und zwar nicht nur deshalb, weil sich die Zähne noch in seinem Mund befanden, sondern auch, weil er sich keinen Illusionen hingab, welchen Stellenwert er in der Liebe seiner Eltern einnahm: Er rangierte irgendwo hinter Gin und Geld. Die Verfolgungsjagd gipfelte schließlich in Ludlows Kampf um sein Leben, den er mit seinem Vater am Flussufer austrug. Ned verlor den Halt und stürzte in den Fluss, Ludlow entkam.

Kaum war Neds Kopf untergetaucht, hatte Lottie zwar erwartungsgemäß gejammert und geklagt, sich ansonsten aber recht schnell mit seinem Ableben abgefunden. Zum Glück für Ned hatten sich auf den ganzen Tumult hin Leute um die Unglücksstelle versammelt, und, man sollte es kaum glauben, einer hatte ein Seil dabeigehabt. Er warf es Ned zu, dem es allerdings eher zufällig als mit gezielter Anstrengung gelang, danach zu greifen. So wurde er ans Ufer gezogen.

»Ich kann meine Beine nicht mehr spüren!«, hatte er gestöhnt, während man ihn die Böschung hinaufschleifte. Lottie, die ihm nicht glaubte, trat hart gegen sein Schienbein, aber er zuckte tatsächlich nicht mit der Wimper. Höchstwahrscheinlich waren seine Beine im eiskalten Wasser gefühllos geworden, doch das erklärte nicht, warum er seit diesem Tag keinen Schritt mehr gelaufen war. Lottie war enttäuscht über diesen Ausgang, genauer gesagt von Neds Überleben, aber die Rufe aus der versammelten Menge – ›Ein Wunder!‹ und ›Gott sei gelobt!‹ – hatten etwas in ihr ausgelöst. Und in diesem Augenblick hatte sie dort, am verschneiten Ufer des Foedus, ihre erste Vision gehabt.

Vor ihr war, auf Knien liegend, die geisterhafte Gestalt eines kleinen Jungen erschienen, er weinte und suchte mit seinen dürren ausgestreckten Ärmchen im Schnee nach etwas Essbarem. Das hatte Lottie plötzlich zu Tränen gerührt. In Wahrheit war das Kind keine Erscheinung, sondern ein Junge aus Fleisch und Blut, nur ungewöhnlich bleich. Im Gedränge war ihm eine heiße Kastanie zu Boden gefallen, die von den vielen Füßen im Nu zertreten worden war. Dennoch suchte der Kleine weiter im Schnee danach.

Lottie wandte sich ab und sah, wie man Ned zum Flinken Finger, seiner Stammkneipe, schleppte, um ihn mit einem wärmenden Drink vor dem Kamin wieder auf die Beine zu bringen. Als sie sich noch einmal nach dem Jungen umdrehte, war er verschwunden. Sie folgte seinen scheinbar geisterhaften Spuren im Schnee und kam schließlich zur Hookstone Row, fünf oder sechs Straßen vom Fluss entfernt. Die Spuren führten direkt zu einem großen, leer stehenden Haus, in dem überall kleine elternlose Jungen herumliefen. Erst jetzt, als sie in der Tür stand und all die schmutzigen kleinen Gesichter hoffnungsvoll auf sich gerichtet sah, spürte Lottie umso tiefer den eben erlittenen Verlust ihres eigenen Sohnes, und sie gelobte, diesen Unglücklichen hier zu helfen. So kam es zur Gründung von Lottie Fitchs Waisenhaus für ausgesetzte Babys und verlassene Jungen.