Ob nun an diesem Abend göttliches Eingreifen im Spiel war oder nicht, ein Wunder zumindest hatte sich ereignet: Lottie war eine andere geworden. Sie gab von Stund an den Wacholderschnaps auf und stürzte sich in ihre neue Rolle als Mutter der heimatlosen Kinder von Urbs Umida. Ned, dessen Beine immer noch gefühllos waren, wurde im oberen Stock des Hauses untergebracht. Dass er dem Gin ebenfalls entsagt habe, behauptete er nur aus Achtung vor Lottie, in Wahrheit ließ er ihn von seinen vielen Freunden, die ihn in seinem neuen Heim besuchten, einschmuggeln. Was Lottie nich weiß, macht sie nich heiß, dachte er sich, und von da an lebten die Fitchs ganz zufrieden nebeneinanderher, Ned oben und Lottie unten.
Nachdem Lottie ihr Laster aufgegeben hatte, verbrachte sie ihre Zeit größtenteils auf den Straßen, wo sie lauthals die üblen Folgen des Alkohols anprangerte und ihre Aufrufe verteilte. Eines Tages war sie dabei auf Polly gestoßen. Unglücklich und verzweifelt, wie das Mädchen war, stand es gerade vor einer der Ginleitungen und wollte die berauschende Flüssigkeit ausprobieren. Lottie trat dazwischen und stellte das Mädchen als Küchenhilfe im Waisenhaus an.
Als Lottie herausfand, dass Polly Ludlow in Pagus Parvus gekannt hatte, war sie gleichzeitig verblüfft, beunruhigt und erfreut – eine ziemliche Herausforderung für ihr geschrumpftes Hirn. Verblüfft war sie über den Zufall, beunruhigt, dass Ludlow Polly erzählt haben könnte, wie schlecht sie und Ned ihren Sohn behandelt hatten (das hatte er nicht), und erfreut war sie schließlich, dass er gesund und munter war. In einer ihrer vielen täglichen Erscheinungen ließ der gute Herrgott Lottie wissen, dass sie eines Tage wieder zusammenkommen würden. Bis es so weit wäre, wollte sie gern weitermachen wie bisher.
Und so waren inzwischen fast sechs Jahre vergangen.
Lotties Gedanken kehrten zu Hector zurück. Sie fand, er sei ein nützlicher Zuwachs für das Heim, willig, verlässlich und unterhaltsam. Er war anders als die anderen Jungen, das ließ sich nicht leugnen, immerhin kam er aus der Nordstadt. Aber trotz der Unterschiede hatte sich Hector recht schnell eingelebt. Es mochte wohl sein, dass er mit den Fäusten nicht so gut war wie die anderen, doch er hatte bewiesen, dass viele Wege zum Ziel führten. Lottie war auch nicht entgangen, dass Polly den Jungen unter ihre Fittiche genommen hatte.
Sie tauchte aus ihren Tagträumen auf und ging über die Treppe in den oberen Flur, um ihren Umhang vom Nagel zu nehmen. In den Taschen waren lauter Korken (um die Ginleitungen zuzustöpseln) und ihr Beutel war bis oben hin mit Aufrufen gegen den Alkohol vollgestopft. Sie stellte sich gern auf die Brücke und bat um Geld zur Unterstützung für ihre Jungen. Dazu nahm sie immer zwei von den kleineren mit, und zwar die beiden mit den traurigsten Mienen. Einmal hatte sie Hector aufgefordert mitzukommen – Gott weiß, der Junge sah manchmal elend genug aus –, aber er hatte sich geweigert.
»Is einfach zu dünnhäutig, der Junge«, seufzte sie. »Hat den Tod von sein’ Pa so schwergenommen. Aber trotzdem is er ’n Guter.«
Als Lottie die Stufen der Eingangstreppe hinunterging, sah sie eine Gestalt auf der anderen Straßenseite stehen. Sie meinte, der Fremde würde ihr zulächeln, was sich aber bei den vielen Passanten kaum deutlich erkennen ließ. Er hatte einen Beutel über der Schulter und trug einen Hut von ungewöhnlicher Machart. Lottie war sicher, dass es sich um denselben Burschen handelte, der schon gestern und vorgestern da gestanden hatte. Sie zwinkerte und da war er verschwunden.
Kapitel 11
Aus dem
Nordstadt-Journal
Die anspruchsvolle Tageszeitung
für den kritischen Leser
Honorige Gäste bei Eröffnung des Wein-Handelshauses
von Tarquin Faulkner
Lady Lysandra Mandible, in eine Kombination aus weißen Pelzen gekleidet (Bild oben), bot bei ihrem Gastauftritt zur Eröffnung der dritten Zweigstelle von Faulkners Weinhandel einen ausnehmend eleganten Anblick.
Begleitet wurde sie von Baron Bovrik de Vandolin (gleichfalls oben abgebildet). Es hat nicht lange gedauert, bis der geheimnisvolle fremde Baron die vornehme Gesellschaft von Urbs Umida für sich gewinnen konnte. Seit er vor einigen Wochen in die Stadt gekommen ist, erweist sich dieser charmante Gentleman (Spross der osteuropäischen Linie des Adelsgeschlechts der de Vandolins) als äußerst beliebter und gern gesehener Gast auf Dinnerabenden, Tanzveranstaltungen und Feiern. Er besitzt einen beneidenswerten Ruf als höchst unterhaltsamer Zeitgenosse voller Esprit und Inspiration, und außerdem ist er ein Held. Wer hat nicht vom tragischen Verlust seines linken Auges gehört, den er in einem Duell für eine verleumdete Frau erlitt? Doch Baron Bovrik de Vandolin zählt nicht zu der Sorte Mensch, die sich wegen einer solchen optischen Unannehmlichkeit vor der Öffentlichkeit verkriecht.
Was Lady Mandible betrifft, so dürfte sich eine Vorstellung wohl erübrigen. Zweifellos ist sie die schönste und geistvollste Lady, die je die Flure von Withypitts Hall, dem Familiensitz der Mandibles, erstrahlen ließ. Nicht nur für ihren Stil und Geschmack ist sie berühmt, sondern auch für ihre extravagante Lebensweise – dafür lieben wir Nordstädter sie! Bei der kürzlich erfolgten Renovierung von Withypitts Hall sollen keine Kosten gescheut worden sein. Das Resultat wird sich gewiss beim alljährlich stattfindenden Mittwinterfest der Mandibles präsentieren.
Der junge Lord Mandible, der sich seit dem tragischen Tod seines Vaters kaum mehr in der Stadt sehen lässt, verlässt Withypitts Hall, das sechs Rittstunden entfernt liegt, nur selten. Wegen seines verkrüppelten Beines fand er noch nie besonderen Gefallen an Feiern und Tanzvergnügen, und so dürfte er es eher mit Erleichterung sehen, dass Baron Bovrik Lady Mandible zu allen gesellschaftlichen Verpflichtungen begleitet.
Trotz des Umstands, dass viele junge Damen der Stadt angeblich von dem Baron verzaubert sind, scheint er unempfänglich für ihre Reize und widmet sich ganz der vor ihm liegenden Aufgabe. Es ist allgemein bekannt, dass ihm angetragen wurde, bei der Organisation des Mittwinterfestes der Mandibles zu helfen. Wir aus der Nordstadt von Urbs Umida sehen dem Fest mit freudiger Erwartung entgegen. Obzwar immer wieder ein prachtvoller Anlass, ist in diesem Jahr zu spüren, dass Lady Mandible dem Fest ihren ganz persönlichen Stempel aufdrücken wird.
Hector legte die zerknüllte Seite auf den Boden neben seine Matratze und beugte sich vor, um mit dem Finger zum hundertsten Mal das Profil dieses Barons Bovrik de Vandolin nachzufahren. Dann streckte er sich stirnrunzelnd auf der Matratze aus.
»Was bist du für ein Meister der Täuschung, Truepin«, murmelte er, während er seinen schwarzen Kokon zwischen den Fingern hin und her rollte. Denn falls diese Skizze gut getroffen war, hatte Hector kaum einen Zweifel, dass es sich bei Gulliver Truepin und Bovrik de Vandolin um ein und dieselbe Person handelte.
»Und wenn nicht«, sagte er laut, »bin ich es Papa zumindest schuldig, der Wahrheit auf den Grund zu gehen.«
Kapitel 12
Eine beunruhigende Begegnung
Hector drückte sich eng an die Mauer und linste vorsichtig um die Hausecke, wo auf der Straße gerade eine schwarz glänzende Kutsche vorgefahren war. Wenn er auch nach außen ruhig und gelassen wirkte, so klopfte doch sein Herz heftig. Er beobachtete, wie der Kutscher absprang und den Schlag öffnete. Der Fahrgast, ein Mann, hatte einen Spazierstock mit Messinggriff und Messingspitze, mit der er forsch auf die Pflastersteine schlug. Hector sah, dass an seinen Schuhen große Goldschnallen funkelten. Plötzlich zerrte ein Windstoß am Umhang des Mannes und schlug ihn zurück, sodass sich darunter eine ungewöhnliche Farbenvielfalt zeigte: ockergelbe Kniehosen mit dunkleren Seidenschnüren und eine Weste in Olivgrün. Der Mann blieb einen Augenblick stehen und bewunderte sein Spiegelbild im Fenster, dann rückte er die Klappe über seinem linken Auge zurecht und zupfte an seinem gezwirbelten Schnurrbart, bevor er das Gebäude betrat.