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»Nein!«, rief Hector, starr vor Schreck. »Nicht!«

Bovrik senkte die Hand und sah Hector an.

»Es ist nor eine Motte«, sagte er. »Warom sollte ich sie nicht ins Jenseits befördern?«

Hector atmete schnell, und er spürte, dass sein Gesicht glühte. Nach wie vor loderte die Wut in ihm, doch ihm wurde auf einmal klar, dass hier und jetzt nicht der richtige Zeitpunkt dafür war.

»Das ist keine Motte«, sagte er, so ruhig er konnte. »Es ist ein Schmetterling. Thecla betulae

»Ein Schmetterling? Wir haben doch fast Winter!«

»Er muss in der Kutsche überlebt haben«, sagte Hector und hob ihn vorsichtig auf seine Hand. Bovrik zuckte bei der Berührung zusammen und schüttelte angewidert seinen Ärmel. Dann änderte sich seine Miene. »Kennst du dich denn mit Schmetterlingen aus?«

»Ja«, zwang sich Hector zu sagen. »Ich weiß alles über sie.«

Bovrik verzog den Mund. »Was för ein Glöck! Ich soche gerade sähr dringend einen Schmetterlingsexperten. Hast du schon von Lady Mandible von Withypitts Hall gehört?«

Hector nickte. Er spürte, dass er langsam ruhig wurde und dass das Brennen hinter seinen Augen nachließ. Er konnte es kaum glauben, dass er so nah davor gewesen war, auf den Mann loszugehen. Was hatte er sich nur dabei gedacht! Bei hellem Tageslicht – zugegeben, eher grau als hell auf dieser Seite des Flusses – und mitten auf der Straße vor einer Anwaltskanzlei! Er musste vorübergehend den Verstand verloren haben.

»Ihre Ladyship, Lady Mandible, hat mich gebäten, ihr Schmetterlinge för das Mittwinterfest zu besorgen«, fuhr Bovrik fort. »Könntest du das öbernähmen?«

»Ich glaube schon«, sagte Hector langsam. Das war allerdings eine unerwartete Wendung. Er sollte sie nutzen.

»Dann komm nach Withypitts. Ich wärde dir eine Kotsche schicken.«

Hector nickte und spürte, wie sich die letzten Reste seiner Wut langsam in Luft auflösten und ein Plan an ihre Stelle trat.

Der Kutscher, dem es endlich gelungen war, die Kiste sicher zu verstauen, signalisierte, es sei Zeit zum Aufbruch. Bovrik stieg rasch ein. Dann beugte er sich noch einmal aus dem Fenster.

»Ond dein Name, Jonge?«, fragte er und reichte Hector einen Zettel, auf dem stand, wo und wann er die Kutsche nach Withypitts Hall erwarten solle.

»Hector Fi…« Er unterbrach sich jäh. Wie dumm, Bovrik seinen Nachnamen zu nennen! Hoffentlich war ihm sein Zögern nicht aufgefallen.

»Einfach nur Hector.«

Und während die Kutsche anruckte, erschien eine Hand im Fenster und warf etwas zu Boden. Es rollte und holperte in unregelmäßigen Sprüngen auf Hector zu und er hob es auf. Ein Penny.

»Dein Verrat wird dich viel mehr kosten«, sagte Hector. »Viel, viel mehr.«

Kapitel 13

Eine beschwerliche Reise

Die Sonne stand schon tief am Himmel, als Hector vor dem Flinken Finger stand und vor Kälte mit den Füßen stampfte und die Hände aneinanderrieb. Die Leute sagten, es würde ein schlimmer Winter werden. Noch heute sprachen sie von dem Winter damals, als der Foedus zugefroren war. Auch Hector erinnerte sich daran. Er war fünf Jahre alt gewesen, und sein Vater hatte ihn mitgenommen, um ihm das Eis zu zeigen. Er hatte gedacht, der Fluss würde weiß aussehen, stattdessen war das gefrorene Wasser grau gewesen. Findige Händler hatten auf dem Eis ihre Buden aufgebaut, Feuer brannten, Kastanien wurden geröstet und überall war es laut und fröhlich zugegangen. Natürlich wäre Hector zu gern aufs Eis gegangen, doch da sein Vater es nicht erlauben wollte, hatte er das geschäftige Treiben nur vom Ufer aus beobachten können. Noch heute sah er den Gesichtsausdruck seines Vaters vor sich, mit dem er das Hin und Her der Leute betrachtet hatte. Hector hatte dabei das sonderbare Gefühl gehabt, der Vater wäre selber gern dort unten bei den anderen gewesen.

Von Hufgeklapper und Räderrasseln wurde Hector jäh aus seinen Gedanken gerissen. Eine Kutsche fuhr vor.

»’ector?«, rief der Fahrer. »Nach Withypitts?«

»Ja, das bin ich«, sagte Hector.

»Ich bin Solomon«, sagte der Kutscher und musterte Hector. Die Kleidung des Jungen war zerschlissen, ja, aber wie er sprach, einerseits wie ein gebürtiger Südstädter, andererseits auch wieder nicht, und wie er auftrat … Wenn’s auch auf den ersten Blick nicht so aussieht, dachte der Kutscher Solomon, mit diesem dunkeläugigen Jungen muss es was Besonderes auf sich haben. Warum sonst sollte ein Baron eine Kutsche für ihn schicken?

»Wie lange wird die Fahrt dauern?«, fragte Hector, während er einstieg.

»Oooch«, sagte Solomon, runzelte die Stirn und sog Luft durch die Zähne ein. »Kommt aufs Wetter an, weißt du, auf die Straßen. Hat ziemlich viel geregnet in letzter Zeit, kann auch sein, es schneit bald. Ich denke, wir machen unterwegs Rast, ich kenn da einen kleinen Ort in den Bergen, ein Dorf, dann kommt einem die Fahrt kürzer vor, obwohl … noch ein bisschen später im Jahr und der Weg dorthin ist unpassierbar wegen dem Schnee.«

»Also dann«, sagte Hector, schlug die Tür zu und machte es sich auf dem Sitz bequem. Er hörte das Knallen der Peitsche, es gab einen Ruck, und schon rollte er auf der Straße davon, weg von Urbs Umida, von Polly und Lottie und von seinem Vater.

Es war keine komfortable Fahrt; die Sitze waren eindeutig weniger gut gepolstert als die, die er einmal gekannt hatte. Doch nachdem er in letzter Zeit erfahren hatte, dass man sich an fast alles gewöhnen konnte, fand er sich damit ab. Ihm war, als ließe er hier nicht nur ein, sondern zwei Leben zurück, das im Süden und das im Norden.

Bald verschluckte der Abend das Tageslicht und Hector zog den Vorhang der Kutsche zu. Seine Gedanken wanderten zu Bovrik, und mörderische Pläne, die sein Herz rasen ließen, drängten sich ihm auf. Doch durch zusammengebissene Zähne lächelte er. Die Ironie der Situation entging ihm nicht. Dieser janusköpfige Schwindler, dachte er grimmig, führt tatsächlich sein eigenes Ende herbei, indem er mich zu sich einlädt.

Inzwischen stieg die Straße an und die Temperaturen sanken. Hector zog den Umhang seines Vaters enger um sich und kapitulierte vor der Müdigkeit, die schon den ganzen Tag in ihm war.

Ein Ruck, der ihm alle Knochen durcheinanderschüttelte, weckte ihn aus tiefem Schlaf und warf ihn zu Boden. »Tartari flammis!«, rief er aus, setzte sich wieder und schlang die Arme um seinen Körper – nur damit ein weiterer heftiger Stoß ihn noch einmal vom Sitz riss. Die Befürchtung des Kutschers war nur zu begründet: Die letzten Stürme hatten verheerende Schäden auf den Straßen angerichtet.

Plötzlich gab es einen dumpfen Schlag, einen ohrenbetäubenden Krach und gleich darauf ein scheußlich knirschendes Geräusch. Die Kutsche machte einen scharfen Linksschwenk, stürzte um und blieb auf der Seite liegen. Als alles still war, mühte sich Hector auf die Beine, zitternd, aber unverletzt. Er barg seine Tasche und kroch aus der Tür, die jetzt über seinem Kopf war. Solomon stand fluchend und schimpfend am Straßenrand.

»Wir haben ein Rad verloren«, sagte er, während er die Pferde ausschirrte. »Aber das Dorf ist nicht mehr weit, nur noch ein kleines Stück bergauf. Da können wir die Kutsche reparieren lassen, bevor wir weiterfahren.«

So kam es, dass im unheimlichen Schein des fast vollen Mondes, begleitet vom rhythmischen Klappern der Pferdehufe, Hector und Solomon nebeneinander den steilen Hang hinaufritten. Bald konnten sie die Lichter des Dorfes erkennen, und am Straßenrand sah Hector einen großen flachseitigen Stein mit den eingemeißelten Worten Pagus Parvus.

»Pagus Parvus«, murmelte er. »Kleines Dorf.« Sein Lehrer für alte Sprachen hätte sich über seine Kenntnisse gefreut.

»Hier kriegen wir Hilfe«, sagte Solomon und seine Stimme klang erleichtert. »Und auch was Warmes zu essen.«