Der Mann war Baron Bovrik de Vandolin.
Bovrik hatte nur Augen für Lady Mandible und ging zielstrebig auf sie zu, um ihre ausgestreckte Hand zu küssen. Hector, der nur mühsam die Wut zurückdrängen konnte, die beim Anblick des Barons wieder in ihm aufstieg, ergriff die Gelegenheit, ihn genauer anzusehen. Die Farben seiner Kleidung ließen sich nur als schrill bezeichnen, und die Augenklappe, die er trug, passte genau zu seiner Krawatte. Und wie früher schon umwehte ihn ein schwacher Zitrusduft.
»Ah, Bovrik«, sagte Lady Mandible und klatschte erfreut in die Hände. »Das ist Hector – man hat ihn halb tot vor Erschöpfung auf der Treppe gefunden –, der Junge aus der Stadt, von dem Ihr mir erzählt habt. Ich muss Euch loben, Sir, ein echter Glückstreffer.«
Bovrik nahm auf einem Sessel Platz und streichelte geistesabwesend die Plüschkissen, als wären sie etwas Ähnliches wie Tiere. Mit seinem gesunden Auge sah er Hector an und lächelte unergründlich.
»Ich bin erfreut, dass er Euren hohen Erwartongen entspricht«, sagte er. Dann beugte er sich mit einer theatralischen Bewegung vor und nahm übertrieben schwungvoll seine Augenklappe ab.
»Oh, Bovrik, nicht schon wieder eins!«, seufzte die Lady mit gespieltem Überdruss und trommelte dabei mit ihren glitzernden Fingernägeln auf den Ebenholzgriff ihres Fächers. »Rechnet Ihr denn damit, auch das rechte Auge zu verlieren? Zumindest hättet Ihr in diesem Fall genug Ersatz für beide Augenhöhlen! Welcher Edelstein ist es denn diesmal?«
Bovrik drehte sein Gesicht ausdrücklich Hector zu, der jetzt deutlich die weiße Narbe quer über der Braue sah, die unter dem Auge endete. In der Augenhöhle saß das Glasauge, von dem Lady Mandible sprach, es hatte eine zu dem gesunden Auge passende hellblaue Iris. Es funkelte und glitzerte im Licht, und Hector wurde plötzlich klar, dass in der schwarzen Pupille ein Edelstein saß. Die Situation war befremdlich und zerrte an seinen Nerven: Es war auch ohne dieses lächerlich großspurige Gehabe schwer genug, einem Mann, dessen Schicksal man in der eigenen Hand wusste, so nahe zu sein.
»Ein Smaragd, Lady Mandible«, sagte Bovrik, ohne den Blick von Hector zu wenden. Als ob er meine Unruhe spürt, dachte Hector. Plötzlich neigte der Schurke mit einer ruckartigen Bewegung den Kopf vor und wieder zurück – und Hector musste unwillkürlich aufschreien, denn Bovriks Augenhöhle war jetzt schwarz und leer, und aus der Handfläche des Barons starrte ihm ausdruckslos das Glasauge entgegen.
Lady Mandible lachte schelmisch. »Hector, du siehst ja geradezu fassungslos aus«, sagte sie. »Es ist nur ein Auge. Ich dachte, du bist aus härterem Holz geschnitzt.«
»Das wirst do nämlich nötig haben«, sagte Bovrik trocken, während er das Glasauge auf seinen Platz gleiten ließ.
»Nun, Bovrik«, sagte Lady Mandible herrisch und wandte sich wieder an den Baron. »Berichtet also, wie die Vorbereitungen für das Fest vorangehen, inzwischen führt Gerulphus den Jungen auf sein Zimmer.«
»In der Tat!« Bovrik sah den Diener an und schnippte dabei mit dem Finger. »Du hast gehört, was deine Herrin gesagt hat – also troll dich! Öberlass ons bessere Herrschaften non onserer kolinarischen Konversation!«
Gerulphus verzog keine Miene, während er den Baron ansah. Dann verbeugte er sich, tippte Hector auf die Schulter und verließ den Raum. Hector folgte ihm höchst erleichtert.
Kapitel 16
Brief an Polly
Withypitts Hall
Liebe Polly,
nun bin ich fast zehn Tage in Withypitts Hall und kenne mich schon viel besser aus. Nach meiner ersten Begegnung mit Lady Mandible (und ihm, der nicht genannt werden soll) führte mich Gerulphus wieder durch die Eingangshalle. Diesmal hatte ich meine fünf Sinne beisammen und sah, dass die Wände mit Jagdtrophäen früherer Generationen geschmückt waren: Hirsche, Bären, Pumas und Dutzende von Geweihen unterschiedlichster Größen, sogar ein Jocastar – ein Tier mit großen Augen und feinen Gesichtszügen und derart selten und ungewöhnlich, dass ich es hier unter den anderen Tieren völlig fehl am Platze fand. Doch übertroffen wurden alle von einem riesengroßen, wild aussehenden Kopf – dem eines Borstenrückenschweins natürlich –, dem Glanzstück und Mittelpunkt der Ausstellung. Es war von dem alten Lord Mandible erlegt worden. Auch sein Sohn geht fast täglich auf die Jagd nach diesem Schwein, doch mit weniger Erfolg. Den Kopf dieses Tieres, von dem Oscar in Pagus Parvus sprach, habe ich übrigens noch nicht gesehen, auch nicht den Stuhl, und ich kann nicht sagen, dass ich darunter leide. Es würde mich nicht wundern, wenn der Schurke beides in seinen Privatgemächern hat – das würde ganz zu seinem verqueren Charakter passen.
Gerulphus führte mich in den abgelegensten Teil des Hauses, ich vermutete, es war der Westflügel. In einem der Türme stiegen wir eine steile Wendeltreppe hinauf, und mir schien, als habe sich hier jahrelang niemand hinaufgewagt. Spinnweben, dick wie Spitzentischtücher, verhedderten sich in meinem Haar, und Fledermäuse flogen mir um den Kopf. Es stank so sehr, dass ich würgen musste. Was den Raum in der Turmspitze angeht, mein Zimmer, so ist er geräumig, aber bei meiner Ankunft standen nur ein Bett, ein Stuhl und ein Tisch darin. Im Lauf der Woche kam ich dann zu dem Luxus eines Nachttopfs und eines Wasserkrugs. Aber ich bin zufrieden. Es gibt einen Kamin, und wenn er auch übel qualmt, ich habe es geschafft, darin Feuer zu machen.
Withypitts Hall ist in mancher Hinsicht ein sehr schönes Haus. In die Fußböden sind komplizierte Mosaikmuster eingelegt, an den Wänden hängen die verschiedensten Gobelinteppiche und Bilder, überall stehen Statuen und Schnitzereien und alles glänzt und glitzert wie Gold. Aber je länger ich hier bin, desto mehr spüre ich auf Schritt und Tritt Lady Mandibles allgegenwärtige Hand, und irgendwie verdirbt mir das die ganze Schönheit. Ihr Sinn für Luxus hört bei den Unterkünften der Dienstboten auf, aber da sie auch ihren Hang zu abstrusen Dingen nicht bis dorthin ausdehnt, kann ich nur dankbar sein. Und genau wegen dieser eigenartigen Vorlieben haben mich die Einwohner von Pagus Parvus vor ihr gewarnt.
Withypitts Hall ist also wirklich kein Ort, an dem einem warm ums Herz werden kann. Nimm zum Beispiel die Decke im großen Speisesaal (in dem das Fest stattfinden soll). Sie ist mit nebelhaften Szenen aus dem Himmelreich bemalt, aber bei näherem Hinsehen erkennt man, dass hinter den Engeln freche kleine Kobolde grinsen und dabei die unflätigsten Posen einnehmen. Auf Sockeln längs der Gänge stehen ausgestopfte Tiere in erstarrten Haltungen. Füchse, Wiesel, Eichhörnchen, jedes Tier des Waldes ist vertreten. Aber diese Tierausstellung ist längst nicht das Schlimmste. Es gibt hier überall Stücke, die eher in eine Raritätenschau passen würden. Lady Mandible scheint sich nämlich mehr für das Absonderliche zu begeistern: Knochen von Heiligen, Totenmasken und Folterinstrumente. In dunkleren Nischen bewahrt sie missgebildete Exemplare ungeborener Tiere auf – in Glasbehältern, erstarrt in Flüssigkeit. Sie behauptet, sie habe ein wissenschaftliches Interesse daran. Besonders unheimlich sind diese Dinge, wenn man nachts daran vorbeimuss. Und damit komme ich zum eigentlichen Zweck meines Briefes.
Am Morgen nach meiner Ankunft in Withypitts Hall brachte mich Gerulphus zu einem kleinen, nach Norden gelegenen Raum im dritten Stock, wo ich die Schmetterlinge züchten soll. Ich nenne ihn Zuchtraum oder Incunabulorum, er ist dunkel und sehr kühl, wie ich es verlangt hatte. Inzwischen hat mir Gerulphus alles Nötige aus der Stadt besorgt. Einen Tag brachte ich damit zu, die Behälter für meine Kokons vorzubereiten. Ich werde sie vorerst in einem Zustand der Erstarrung halten, und zum gewünschten Zeitpunkt erwärme ich sie, damit sie sich in ihre endgültige Erscheinungsform verwandeln können. Das ist natürlich kein exaktes Verfahren, aber immerhin werde ich auf diese Weise Lady Mandibles Wunsch erfüllen können. Noch kenne ich ihre endgültige Absicht nicht, doch finde ich sie in mancherlei Hinsicht fragwürdig. Die Schmetterlinge werden nicht lange überleben – in freier Wildbahn nur wenige Tage nach dem Schlüpfen. Außerdem kreisen meine Gedanken, wie Du weißt, um ganz andere Dinge.