»Ich wünsche Euch alles Gute«, sagte Jereome, was gar nicht seine Art war, und gab ihm die Hand. »Vielleicht treffen wir uns mal wieder.«
»Vielleicht«, sagte der Fremde und zog seinen Umhang fester um die Schultern. Bei dieser Bewegung streifte der Stoff Jereomes nackte Haut. Die Härchen auf seinen Armen richteten sich auf und er spürte ein Kribbeln am ganzen Körper. Diese Zartheit! So etwas hatte er noch nie berührt. Jereomes Kleider wurden für gewöhnlich von seiner Mutter gewebt, sie fühlten sich rau und derb an, und wenn sie nass waren wie in dieser Jahreszeit meistens, rochen sie ziemlich unangenehm. Wie benommen von der Berührung durch den Umhang sah Jereome hinter dem Fremden her.
»Wartet«, rief er ihm nach. »Ich muss Euch noch etwas fragen.«
Der Mann war schon stehen geblieben.
»Euer Umhang. Was ist das für ein Material?«
»Reine Jocastarwolle«, sagte der Mann. Dann verschwand er im Wald und ließ Jereome in einem Aufruhr verwirrender Gefühle zurück. Erst jetzt fiel ihm auf, dass er den Fremden nicht einmal nach seinem Namen gefragt hatte.
Und was war mit dem Geld im Holzbein?, dachte Jereome, doch nun war es zu spät.
Am Abend, als Jereome bei Eintopf mit Speck und Eichelbrühe saß, erzählte er seinen Eltern von dem Fremden.
»Jocastar?«, fragte sein Vater stirnrunzelnd. »Dass du mir bloß nicht auf dumme Gedanken kommst«, sagte er ruppig. »Jocastar ist nichts für unsereins. Der teuerste Pelz der Welt, zum feinsten Stoff gewebt! Dieses Tier ist nur an den höchsten Berghängen zu finden, und da steigen höchstens Dummköpfe rauf, um an die Wolle zu kommen. Hier unten gibt’s jedenfalls mit Sicherheit keine Jocastars.«
»Ich …«, setzte Jereome an, aber nach der Miene seines Vaters zu schließen, schien eine Vertiefung des Themas nicht erwünscht.
In dieser Nacht lag Jereome bis in die frühen Morgenstunden wach, so durcheinander war er. Wenn er an das Gefühl des Umhangs auf seiner Haut dachte, kribbelten ihm noch jetzt die Fingerspitzen. Plötzlich schien ihm Jocastar all das zu verkörpern, was er sich ersehnte, was ihm aber vom Leben verwehrt war. Er wollte sich nicht demselben, nicht enden wollenden Martyrium unterwerfen wie sein Vater. Er hatte auf einmal Zukunftspläne und darin spielte der Wald keine Rolle. Auch nicht die Schweine.
Warum soll dieser Wanderer, kein reicher Mann dem Anschein nach, ein so luxuriöses Kleidungsstück besitzen und ich nicht?, fragte er sich. Ist er denn besser als ich?
Und in dieser Nacht schwor er sich, dass er eines Tages einen Umhang aus Jocastar besitzen würde, und zwar mit allem Drum und Dran …
Bovrik schüttelte seine Träumereien ab. Die Ironie der Situation, dass er nämlich nur wenige Meilen von dem Ort, wo er als einfacher Bauernsohn geboren war, ein so nobles Leben führte, ließ ihn immer wieder schmunzeln.
Er sprühte einen Hauch seines Lieblingsparfüms in die Luft, ging rasch durch die Zitronenduftwolke und wandte sich dann wieder seinem Kästchen mit den Glasaugen zu, um eins für den Tag zu wählen.
»Eene, meene, muh,
Lord M find’ bald wohl Ruh,
Und der neue Lord bist du,
Eene, meene, muh.«
Nachdem er das entsprechende Glasauge glücklich gefunden hatte, nahm er seine mit Tee gefüllte Tasse. Die Teeblätter dieser Sorte, Lady Mandibles Lieblingstee, stammten von seltenen Teesträuchern, die nur an geheimen Orten im Orient wuchsen, und wurden in Ellbogenhöhe mit der Hand gepflückt. Bovrik prostete der Luft zu.
»Hoch sollst du leben, Augustus Fitzbaudly«, sagte er. »Ohne dich wäre ich nicht so weit gekommen.«
Nun, wo blieb denn der Junge? Bovrik hatte eine Besorgung zu erledigen, und er genoss es sehr, Bedienstete zu haben, die er herumkommandieren konnte.
Kapitel 19
Knapp entkommen!
Hector gab sich Mühe, möglichst leise zu atmen, aber er war innerlich angespannt, seine Brust wie zusammengeschnürt. Er kauerte in unbequemer Stellung unter einem Busch, und ein Ast pikte ihn in den Hinterkopf, aber er durfte sich jetzt keinen Laut erlauben. Vor ihm dehnte sich eine kleine Lichtung in dem ansonsten düsteren und dichten Wald aus jahrhundertealten Eichen. Ihr Holz bildete die Quelle für einen großen Teil der Innenausstattung von Withypitts Halclass="underline" die Wandvertäfelungen, die breiten Holzdielen (dort, wo die Böden nicht aus Marmor waren) und natürlich der wuchtige Esstisch im großen Speisesaal.
Eisregen fiel, aber Hector hatte sich fest in den Umhang seines Vaters gehüllt. Er hatte die Kapuze tief in die Stirn gezogen und der grüne Stoff ließ ihn fast mit seiner Umgebung verschmelzen. Kein Mensch konnte ahnen, dass er hier war. Ein Mensch nicht, aber vielleicht ein – Tier?
Nur wenige Meter von seinem Versteck entfernt stand ein Borstenrückenschwein.
Ein Prachtexemplar und ganz besonders stark behaart, schien es Hector selbst für ein Borstenrückenschwein ungewöhnlich groß. Es wirkte urtümlich, die Schnurrhaare waren grau, doch der Borstenkamm auf seinem Rücken sah genau so aus, wie Hector es immer gehört hatte: schwarz glänzend und wie angesengt. Eine Weile hatte es in Withypitts Hall Gerüchte gegeben – von Lord Mandible mit großer Aufregung begrüßt –, dass eine Anzahl besonders großer Schweine durch den Wald streifen sollte. Allerdings waren sie erst wenige Male und auch nur in großen zeitlichen Abständen gesichtet worden. Hector bezweifelte aber nicht, dass dieses Schwein hier eins von den sagenhaften Tieren sein musste.
Es war das dritte Mal, dass er sich in den Wald vorwagte. Lady Mandible brauche eine größere Menge Schweinsborsten, hatte ihn der Baron wissen lassen, und Hector hatte die Aufgabe übernommen. Er war ganz froh, wenn man ihm irgendwelche Besorgungen auftrug, denn solange die Kokons kühl lagen, verlangten sie kaum Fürsorge, und seiner inneren Verfassung kam es durchaus entgegen, wenn er immer etwas zu tun hatte. Außerdem war es in seinem eigenen Interesse, wenn er in den Wald ging …
Trotz der Jahreszeit schienen die Borstenrückenschweine zahlreich unterwegs zu sein und so waren die Borsten auf dem Waldboden und zwischen dem Geäst von Sträuchern und Dornbüschen leicht zu finden. In Withypitts Hall hatte man dafür vielerlei Verwendung, von falschen Augenwimpern über Füllmaterial für Kissen bis hin zu Kosmetikpinseln. Zweimal schon hatte Hector bei früheren Gelegenheiten seinen Beutel ohne Zwischenfall vollgesammelt, diesmal schien es jedoch nicht so glattzugehen.
Das Schwein streckte seine lange, fleischige Schnauze in die Luft und schnüffelte hörbar. Hector hatte das Gefühl, als ahne es seine Anwesenheit. Es hielt den Kopf leicht schräg und äugte dabei mit starrem Blick ins Laub. Aus seinem Unterkiefer ragten zwei mächtige gelbliche, vor Geifer glänzende Reißzähne hervor, die passgenau neben den beiden aus dem Oberkiefer ragenden Hauern standen.
Der wiegt bestimmt so viel wie mein Pferd, dachte Hector.
Noch einmal witterte das Schwein, dann machte es sich daran, im Waldboden zu wühlen. Als es fand, was es suchte, fraß es geräuschvoll mit mahlenden Kiefern. Danach grunzte es zufrieden, machte kehrt und verschwand zwischen den Bäumen. Hector wagte wieder zu atmen. Es war ein Privileg, das Tier überhaupt gesehen zu haben, aber es war auch eine Erleichterung, es abziehen zu sehen. So mancher Jäger war schon ums Leben gekommen, und die wenigen, die eine Begegnung mit dem Schwein überlebt hatten, waren von den Narben seiner Reißzähne gezeichnet.
Als Hector unter dem Busch hervorkroch, sah er vor sich etwas auf dem Boden glitzern. Er hob es auf. Es war ein großer Ring, schwer und kalt in seiner Hand. Sein schwarzer Stein schimmerte sogar im schwachen Licht des Waldes. Wie mochte er hierhergekommen sein? Wie auch immer, er war ein Glücksfall für ihn. Falls der Ring so wertvoll war, wie er aussah, würde er gutes Geld einbringen. Hector wusste sehr wohl, dass, wenn sein Vorhaben abgeschlossen wäre, ein rascher Abgang aus Withypitts Hall nötig sein könnte. Dann würde ihm jede zusätzliche Geldsumme weiterhelfen. Er steckte den Ring ein.