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Hector richtete sich auf und ging zu der Stelle, an der das Schwein gewühlt hatte. Deutlich konnte er die Reste seines Pilzmahls sehen. Das Schwein hatte nur die großen, saftigen Köpfe abgefressen und die dünnen Stiele im Boden stecken lassen. Genau nach diesen Stielen war Hector auf der Suche.

Nachdem er sie ausgebuddelt hatte, streifte er schnell seine Handschuhe ab und stopfte sie mit der Innenseite nach außen in die Tasche zu dem Ring. Er zupfte ein dickes Büschel Schweinsborsten von einem nahen Gesträuch, steckte es in den prall gefüllten Beutel an seiner Hüfte und machte sich dann auf den Rückweg durch den Wald. Seine Stute hatte er an einen Ast gebunden, als die Bäume zu dicht wurden und sie nicht mehr hindurchkam.

Er war noch nicht weit gekommen, da blieb er jäh stehen und spitzte die Ohren. Wegen des dichten Gestrüpps konnte er kaum etwas sehen, aber hören konnte er. Und was er hörte, war der unverkennbare Laut eines schnaubenden, grunzenden Schweins beim Angriff. Ohne sich umzudrehen, stürmte Hector in wilder Flucht davon. Während er sich durch das Unterholz und die niedrigen, überhängenden Äste kämpfte, fluchte er innerlich. Er hätte es wissen müssen. Diese Waldschweine waren nicht nur berühmt wegen ihrer ungewöhnlichen Behaarung und ihres köstliches Fleisches, sondern auch berüchtigt wegen ihrer reizbaren, heimtückischen Art. Natürlich würde es ihn verfolgen; es hatte nur den rechten Augenblick abgewartet. Er hätte besser doch mal einen Blick über die Schulter werfen sollen, aber zurzeit gingen ihm so viele Dinge durch den Kopf, dass er nicht so vorsichtig war wie sonst.

Obwohl das Borstenrückenschwein für ein Tier, das in den Wäldern lebt, ungewöhnlich groß ist – viel von seiner Körpermasse besteht aus reinem Fett, weshalb das Fleisch ja auch so besonders schmackhaft ist –, tut diese Größe seiner Schnelligkeit und Gewandtheit keinen Abbruch. Ein Borstenrückenschwein in vollem Galopp zu sehen, den Kopf gesenkt, die Augen starr auf sein Ziel gerichtet, mit den Läufen die Erde aufreißend, ist ein furchterregender Anblick. Man muss sich vorstellen: die borstigen, fetten, hin und her schwingenden Flanken, die dunklen, im Rhythmus des Galopps wabbelnden Körpermassen. Allein dieser Anblick ist atemberaubend … und erst der Lärm! Sein röhrendes Grunzen erinnert eher an einen Löwen als an ein Schwein. Während es durch das Dickicht bricht, wird sein Tempo immer schneller, und nichts darf sich ihm in den Weg stellen, um es von seinem Ziel abzubringen: dem Ziel, zu zerstören und zu töten.

Hector fragte sich, ob das Schwein vom schnellen Laufen auch einen solchen Schmerz in Kehle und Lunge spüren mochte wie er. Jedenfalls war diese Jagd alles andere als ein Wettlauf unter gleichen Bedingungen; da erwiesen sich vier Beine natürlich als vorteilhafter als zwei. In seiner übersteigerten Fantasie glaubte Hector schon den heißen Atem des Schweins an seinen Waden zu spüren. Jeden Augenblick rechnete er damit, dass ihm das Biest von hinten einen Stoß mit seinem knochigen Schädel versetzen würde. Er sah sich bereits auf den feuchten Waldboden stürzen und unter den mörderischen Läufen liegen. Eigentlich war er sogar überrascht, dass das nicht längst passiert war. Sein Umhang, ein Schutz vor dem Wetter, war bei dieser Verfolgungsjagd ein Hindernis. Er versuchte, ihn im Laufen mit einer Hand fest am Körper zu halten, aber immer wieder griffen Äste und Brombeerranken nach ihm und rissen am Stoff. Der Lederbeutel unter dem wehenden Umhang schlug ihm im Laufen gegen die Knie, mal gegen das rechte, mal gegen das linke.

Allmählich ließen Hectors Kräfte nach, doch schließlich konnte er nicht weit vor sich sein Pferd sehen. Es war nervös, spürte die Gefahr und die Angst seines Herrn. Hector griff nach den Zügeln und sprang in den Sattel. Er bohrte die Fersen in die schwarzen Flanken, riss das Pferd herum und die Stute bäumte sich auf. »Tartari flammis!«, murmelte er und brach einen Ast vom nächsten Baum, um sich verteidigen zu können, denn das bedrohliche, vor Geifer schäumende Maul des Ungetüms war nun unmittelbar hinter ihm.

Plötzlich brach eine andere Gestalt zwischen den Bäumen hervor, schreiend und mit den Armen fuchtelnd. Hector konnte den Fremden nicht richtig sehen (es war auch kaum der geeignete Moment, um ihn nach seinem Namen zu fragen), das Schwein aber, verwirrt von dem plötzlichen Tumult, blieb mit fliegenden Flanken und sabbernder Schnauze wie angewurzelt stehen. Sein Kopf pendelte zwischen ihnen hin und her, als überlege es, wen es nun verfolgen solle, dann aber verblüffte es alle beide, Hector und den Fremden: Es wandte sich ab und rannte in ganz anderer Richtung davon.

Hector blickte zu dem Mann hin, der dem davonstürmenden Schwein nachsah. Immer noch keuchend vor Anstrengung, ließ er sich von seinem Pferd gleiten und ging auf ihn zu. »Danke«, sagte er erleichtert. »Ihr habt mich gerettet.«

»Gern geschehen«, sagte der Mann mit einer leichten Verbeugung. »Manchmal hat man einfach das Glück, zur rechten Zeit am rechten Ort zu sein.«

Hector blinzelte dem Fremden unter seiner Kapuze entgegen. Irgendwie kam er ihm bekannt vor. Sein Gesicht lag im Schatten, doch schätzungsweise war er nur wenige Jahre älter als er selbst. Er war von schlanker Gestalt und kaum größer als Hector.

»Wie kann ich mich revanchieren?«, fragte Hector in der Hoffnung, ihn noch ein wenig aufzuhalten.

Der Fremde schüttelte den Kopf und winkte ab. »Mach dir darum nicht allzu viele Gedanken. Vielleicht kannst du ja später mal etwas für mich tun. Aber jetzt muss ich weiter. Adieu«, sagte er und ging fröhlich pfeifend davon.

»Sag mir wenigstens deinen Namen«, rief Hector hinter ihm her, aber da war der Fremde schon zwischen den Bäumen verschwunden.

Kapitel 20

Aus einem

Brief an Polly

Withypitts Hall

Liebe Polly,

es ist schon nach zwei Uhr morgens, aber ich war noch nicht im Bett. Erst muss ich von den Ereignissen dieses Abends berichten, sie mit jemandem teilen, sonst werde ich noch verrückt. Ich entschuldige mich gleich für meine krakelige Schrift – ausgerechnet ich, der Dir das Schreiben beigebracht hat! Aber meine Hand zittert noch jetzt vor Schreck.

Der Abend verlief zunächst wie jeder andere. Vor dem Schlafengehen schaute ich noch einmal im Incunabulorum vorbei, denn das Fest rückt näher, und ich wollte mich überzeugen, dass mit meinen Kokons alles in Ordnung ist. Mir gehen in diesen Tagen tausend Befürchtungen durch den Kopf, deshalb kann ich sowieso schlecht schlafen. Ich mache mir Sorgen um die Kokons, um meinen Plan und natürlich mache ich mir Sorgen wegen Bovrik. In letzter Zeit habe ich nicht sehr viel von ihm gesehen. Lady Mandible hält ihn auf Trab, er fährt immer wieder mal in die Stadt, bleibt oft sogar über Nacht weg.

Im Incunabulorum ist es ausgesprochen kalt, aber ich stelle immer fest, dass diese Temperatur meinen Verstand schärft. Gedanken an meinen Vater verfolgen mich. Ich kann kaum glauben, dass ich so dicht davorstehe, ihn zu rächen. Jeden Tag beim Aufwachen und beim Schlafengehen sage ich mir, dass ich das Richtige tue und dass er meine Absicht nun bestimmt nicht mehr missbilligen würde.

Wenn ich zu tun habe, löst sich meine innere Anspannung meistens, und so machte ich mich auf meine nächtliche Runde. Die Kokons sind in großen Glasgefäßen, die auf je zwei Holzblöcken stehen. Im Hohlraum dazwischen habe ich unter den Gefäßen flache Petroleumlämpchen aufgestellt, damit ich später das Schlüpfen steuern kann. Ich ging von einem Gefäß zum andern und prüfte ihren jeweiligen Inhalt: Dutzende hellbrauner Kokons des Papilio ingenspennatus hingen an Fäden, die durch das Innere jedes Gefäßes gespannt waren. Sie sind so groß wie mein Daumen, nur dicker, und die Fäden hängen unter ihrem Gewicht durch. Vor dem Glas in der hintersten Ecke des Raums blieb ich ein wenig länger stehen. Die Kokons darin sind viel dunkler. Wenn doch Vater hier wäre und sie sehen könnte, dachte ich …