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»Auf diese Art Schmetterlinge zu sammeln, nennt man Lepidopterologie«, sagte Hector gelassen. »Von dem griechischen Wort lepidos, Fischschuppe; wegen der Schuppen auf den Flügeln der Schmetterlinge. Sie reflektieren das Licht und geben ihnen dadurch Farbe.«

Lady Mandible musterte ihn. »Du überraschst mich schon wieder mit deinem Wissen, junger Hector.« Indem sie einen spitzen Fingernagel in seinen Rücken bohrte, dirigierte sie ihn entschieden zu einem Sessel und setzte sich ihm gegenüber. »Und wie steht’s mit meinen Schmetterlingen? Du weißt, ich verlasse mich auf dich, denn es soll, wie gesagt, ein unvergessliches Fest werden.«

»Sie werden rechtzeitig schlüpfen.« Hector schauderte unter ihrem durchdringenden, fast hypnotischen Blick. Er wurde das Gefühl nicht los, dass sie viel mehr über ihn wusste, als er ihr je erzählt hatte. Aber das war nur so eine dumme Idee …

»Doch nicht deshalb habe ich dich rufen lassen. Von den Bediensteten habe ich erfahren, dass du allerhand Rätsel kennst.« Sie lächelte huldvoll. »Nun, du sollst mir eins aufschreiben. Es muss ein kluges Rätsel sein, doch das dürfte dir wohl kaum Schwierigkeiten bereiten.«

Ohne dass er es verhindern konnte, fühlte sich Hector für einen Augenblick geschmeichelt.

»Das ist leicht, Mylady.« Er überlegte eine Weile, dann nahm er die Feder und das dicke cremeweiße Papier, das sie ihm über den kleinen Tisch entgegenschob. Schnell schrieb er eines seiner Lieblingsrätsel nieder und gab sich dabei besondere Mühe mit seiner Schrift. Es würde ganz bestimmt Eindruck auf sie machen. Dann faltete er das Blatt zusammen und gab es zurück.

Lysandra erhob sich, ein Hinweis, dass es für Hector Zeit war, sich zu entfernen. Sie wandte sich von ihm ab, entfaltete den Bogen Papier und begann zu lesen.

Auf dem Rückweg meinte Hector, draußen eine Stimme rufen zu hören. Er trat ans nächste Fenster, und als er hinausblickte, sah er unten im dunklen, verschneiten Hof eine Gestalt stehen. Lord Mandible! Die Art, wie er sein Bein nachzog, war unverkennbar. Hector lauschte angestrengt, und schließlich konnte er ein einzelnes Wort ausmachen, das wieder und wieder gerufen wurde.

»Posset! Posset!«

Zum hundertsten Mal seit seiner Ankunft in Withypitts Hall schüttelte er ungläubig den Kopf. Was für ein seltsames Haus!

Kapitel 23

Verrat

Die Ecken von Withypitts Hall, dessen Grundmauern als Sechseck angelegt waren, wurden von jeweils einem Turm gebildet. Zu einem dieser Türme stieg Hector nun über eine steinerne Wendeltreppe hinauf, genauer gesagt, zu dem Turm, in dem er heute Abend Licht gesehen hatte. Er wollte herausfinden, was es damit auf sich hatte. Beim Aufstieg versuchte er, den Eindruck der sonderbaren Begegnung mit Lady Mandible aus seinen Gedanken zu vertreiben.

Die Stufen schraubten sich an der Innenwand empor und ließen in der Mitte des Turms einen großen, dunklen Abgrund offen. Etwa auf halber Höhe hing an einer langen, starken Kette ein dreireihiger Leuchter, der von der gleichen Art war wie der in Hectors Turm und wie der in dem luxuriöseren und viel weniger verdreckten, den der hinterlistige Baron bewohnte.

Das tägliche Anzünden der dicken Kerzen und Laternen im Herrenhaus gehörte zu den Pflichten des kleinen Küchenjungen. Bis vor Kurzem war er seiner Aufgabe immer gewissenhaft nachgekommen, wenn auch nur mit großem Widerwillen: Er musste sich dabei nämlich mit seinem hakenförmigen Stock oft weit über das schwache gedrechselte Geländer beugen, mit einer Hand den jeweiligen Leuchter heranziehen und gleichzeitig mit der anderen die Kerzendochte anzünden. Und wie bei den meisten Dingen in Withypitts Hall, so hatte Lady Mandible auch bei den Beleuchtungskörpern die teuersten und kunstvollsten anschaffen lassen. Die komplizierte Gestaltung ihrer Kronleuchter und Kandelaber trug allerdings nicht nur zu deren Schönheit, sondern auch zu ihrem Gewicht bei. Nach getaner Arbeit schmerzten dem Jungen vor Anstrengung die Arme, und weil er nicht schwindelfrei war und oft genug um ein Haar abgestürzt wäre, stand ihm gerade jetzt, in den letzten Wochen vor dem Fest, ständig der kalte Schweiß auf der Stirn.

Was der Junge nicht ahnen konnte: Hector hatte seit seiner Ankunft im Haus den Hakenstock mehrmals um ein Stück gekürzt, weshalb sich der kleine Lampenanzünder jedes Mal weiter vorbeugen musste. Vor einigen Tagen nun hatte Hector den Zeitpunkt abgepasst und dem Jungen angeboten, für einen geringen Teil seines Lohnes das Anzünden für ihn zu erledigen. Der Junge war bereitwillig darauf eingegangen. Ein gutes Gefühl hatte Hector nicht bei diesem Täuschungsmanöver, doch er sagte sich, dass er keine Wahl habe, es gehe nun mal um eine größere Sache. Als Lampenanzünder hatte er freien Zutritt zu sämtlichen Gängen und Türmen von Withypitts Hall – eine Möglichkeit, alles im Auge zu behalten, besonders die Zimmer des Barons. Außerdem war das zusätzliche Geld nicht zu verachten, da das Fest und somit Hectors Aufbruch unmittelbar bevorstanden.

So stieg Hector nun auf den verlassenen Turm, Stock und Span als rasche Ausrede bereit, falls ihn jemand hier fände. Am Ende der Treppe war eine Tür mit einem großen Vorhängeschloss am Riegel und einem kleinen verschiebbaren Holzeinsatz in der Füllung. Vorsichtig legte Hector das Ohr an die Tür, konnte aber von drinnen keinen Laut hören. Durch die Ritzen rund um den Holzeinsatz drang jedoch Licht und so holte er tief Luft, bewegte das Schiebeteil leise und behutsam ein Stück zur Seite und linste durch die Öffnung.

Eine Gestalt mit Hut lag auf einem schmalen Bett an der gegenüberliegenden Seite des Raumes, der ansonsten fast kahl war. Der Bursche wirkte erstaunlich unbefangen und hatte die Hände hinter dem Kopf verschränkt. Nach einer Weile schob er seinen Hut zurück und fing an zu pfeifen, eine Melodie, die Hector wiedererkannte.

Er war verblüfft. Auf einmal wusste er, wer dieser pfeifende junge Mann war: der Fremde, der ihm im Wald das Leben gerettet hatte, derselbe, der ihm aus irgendeinem Grund so bekannt vorkam.

»Holla!«, rief der Mann, der durch den lauten Japser auf Hector aufmerksam geworden war. Er setzte sich auf. »Willkommen vor meinem Gelass.«

»Was machst du denn hier?«, fragte Hector. »Warum bist du eingesperrt?«

»Meine Schuld«, antwortete der fröhliche Kerl. Er erhob sich, kam an die Tür und blinzelte mit seinen grünen Augen durch die Öffnung. »Ich hätte es besser wissen müssen und mich nicht im Wald herumtreiben dürfen. Lord Mandible war gerade auf der Jagd, und als er mich aufgestöbert hat, war er sofort davon überzeugt, dass ich seine Schweine wildere.«

Hector war nahe daran, sich bei dem Fremden zu entschuldigen – aus irgendeinem Grund fühlte er sich für dessen Missgeschick verantwortlich, wenn er auch nicht wusste, warum. »Ich begreife nicht, warum du so vergnügt bist«, sagte Hector schließlich. »Hast du keine Angst? Bist du nicht wenigstens wütend? Willst du denn nicht raus hier?«

»Ich bin sicher, dass sich alles zum Guten wenden wird.« Der junge Mann lächelte geheimnisvoll, dann warf er Hector einen vielsagenden Blick zu. »Ich finde, man lebt besser, wenn man vergeben und vergessen kann, statt dauernd finstere Gedanken auszubrüten. Das süße Gefühl der Rache wird schnell bitter, diese Erfahrung habe ich gemacht, und den Nachgeschmack davon verliert man vielleicht nie wieder.« Er machte eine Pause. »Wenn ich so dein Gesicht betrachte, möchte ich die Vermutung wagen, dass du selber ein Geheimnis mit dir herumschleppst, und ich, nun, ich habe viel Zeit zum Zuhören …«

Hector blieb der Mund offen stehen; was konnte dieser fremde junge Mann über ihn oder seine Vergangenheit wissen? Wie kam er auf derart scharfsinnige Bemerkungen? Doch bevor Hector ein Wort sagen konnte, sprach der Fremde schon weiter. In seiner Stimme schwang Melancholie, aber in seinen Augen lag ein Zwinkern. »Wer weiß, wie lange ich hier aufgehalten werde? Es gibt keinen Weg hinaus, nur durch die verriegelte Tür, durch die ich hereingekommen bin.«