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Hector kaute nachdenklich auf der Unterlippe herum, er war sich seiner Dankesschuld diesem unbekümmerten Burschen gegenüber wohl bewusst. Wenn es eine Möglichkeit gäbe, ihn aus diesem erbärmlichen Gefängnis zu befreien, wäre seine Schuld bezahlt. Er blickte kurz auf das unnachgiebige Vorhängeschloss. Selbst wenn er es öffnen könnte, er ginge damit ein gewaltiges Risiko ein … Womöglich würde er seine Chance, sich an Bovrik zu rächen, aufs Spiel setzen, und das durfte er nicht zulassen. »Da kann ich kaum etwas tun«, sagte er und bemühte sich um einen möglichst ruhigen Ton.

Der junge Mann grinste, anscheinend kein bisschen beunruhigt. »Wie gesagt, alles hat seine Zeit – und jetzt ist nicht die richtige.«

Bevor Hector jedoch fragen konnte, was er damit meine, legte der Fremde den Finger an die Lippen. »Schscht!«, machte er. »Da kommt jemand.«

Tatsächlich waren unten an der Treppe Stimmen zu hören. Es dauerte nicht lange, da erschienen Lady Mandible und Bovrik in Begleitung eines Wächters.

Hector zwang sich, ruhig an der Tür stehen zu bleiben, während das Duo näher kam. Außerdem war es nicht möglich, die Treppe hinunterzugehen, wenn zur selben Zeit drei Leute heraufkamen. Der Baron trug an diesem Tag Scharlachrot und Gelb, dazu Schuhe mit Silberschnallen. Eifrig zwirbelte er seinen Schnurrbart. Bei solch auffallendem und übertriebenem Bemühen, sich seiner äußeren Erscheinung zu vergewissern – sie sollte ja seine gefälschte adelige Identität unterstreichen –, hätte Hector gleichzeitig lachen und weinen können. Glaubte Bovrik wirklich, ein echter Baron würde sich derart in den Vordergrund drängen? Es war lachhaft.

»Hector!«, rief Lady Mandible sichtlich erfreut, als sie ihn sah. Der Baron dagegen runzelte finster die Stirn. »Was machst du hier?«

Als Antwort hielt Hector nur seinen Hakenstock hoch.

»In der Tat ein Zufall! Möchtest du nicht sehen, was für eine Verwendung ich für das Rätsel habe, das du mir heute Nachmittag freundlicherweise aufgeschrieben hast?«

»Äh …« Hector war wie vor den Kopf gestoßen.

»Rätsel?«, erkundigte sich Bovrik. »Ich frage mich, was Ihr vorhabt, Mylady. Es öberrascht mich auch, dass Ihr diesen … diesen Dienerjongen an Euren Plänen beteiligt, bevor Ihr mich eingeweiht habt!« Er lächelte, als wäre dies eine scherzhafte Bemerkung gewesen, aber sein Lächeln reichte nicht einmal aus, um seine gelbe Augenklappe zucken zu lassen. Nichtsdestotrotz griff er in die Tasche, förderte einen großen Schlüssel zutage und sperrte das Vorhängeschloss auf. Lady Mandible, deren Augen vor Vorfreude glitzerten, betrat mit dem Baron die Zelle, und Hector schlüpfte hinter ihnen hinein. Der Wächter bezog Posten an der offenen Tür.

Der junge Gefangene saß schweigend auf dem Bett. Hector bewunderte ihn für sein ruhiges Verhalten, aber er hatte ein ungutes Gefühl bei der ganzen Sache.

»Das also ist der onverschämte Wilddieb, den Euer Mann aufgestöbert hat«, konstatierte Bovrik in seinem starken Akzent. »Soll ich veranlassen, dass man ihn nach Orbs Omida ins Irongate-Gefängnis bringt, damit er dort verfaulen kann?«

»Ich bin kein Wilddieb«, sagte der junge Mann. »Ich bin nur zufällig vorbeigekommen.«

Lady Mandible ignorierte beide.

»Junger Mann«, sagte sie stattdessen, »ich habe dir einen Vorschlag zu machen. Es soll nicht heißen, ich gäbe einem Gefangenen nicht eine faire Chance. Ich habe also beschlossen, dass du, falls du folgendes Rätsel lösen kannst, frei bist. Kannst du es nicht … wird deine Bestrafung schrecklich werden.«

Bovrik hob die Augenbrauen, Hector atmete hörbar ein. Hatte er recht gehört? Ein Rätsel? Hatte sie »Rätsel« gesagt? Doch nicht etwa sein Rätsel! Ungläubig sah er zu, wie sie Bovrik ein Blatt Papier reichte, dasselbe Papier, das er der Lady vor kaum einer Stunde selbst gegeben hatte.

»Lest es uns vor, Baron«, befahl sie.

Bovrik grinste den Gefangenen höhnisch an. »Mylady wönscht, dass du dieses Rätsel löst, wenn du deine Freiheit erlangen willst.«

»Schön«, erwiderte der Fremde und stand auf. »Ich mag knifflige Aufgaben.«

Hector bedeckte das Gesicht mit den Händen.

»Hör gut zu«, begann Bovrik. »Ein Mann kommt in ein Land, in däm die Menschen entweder stäts nur lögen oder stäts die Wahrheit sagen. Der Wanderer erreicht eine Weggabelong. Er weiß, dass die eine Straße in giftiges Sompfland föhrt, wo er einen langsamen, qualvollen Tod störbe, wenn er die Ausdönstungen der Sömpfe einatmen mösste; där andere Weg föhrt zu seinem Ziel, einer wonderschönen Stadt. Da es keinen Wegweiser gibt, weiß er nicht, welchen Weg er einschlagen soll. Er setzt sich an die Kreuzung und nach einer Weile kommen zwei Männer die Straße entlang. Einer von ihnen ist ein Ährlicher, der andere ein Lögner, doch der Wanderer weiß nicht, welcher der Ährliche ist. Um den richtigen Weg herauszofinden, darf er nor eine einzige Frage an einen der Männer richten. Er öberlegt einen Moment, dann stellt er eine simple Frage und korz darauf ist er auf dem Wäg zor Stadt.

Das Rätsel ist non«, sagte Bovrik mit einem raschen Blick auf Lady Mandible, die gespannt zugehört hatte, ihre Finger abwechselnd verschränkte und löste und ihre Ringe blitzen ließ. »Wie lautete die Frage und welchen der beiden Männer fragte er?«

Hector schlug das Herz bis zum Hals. Hätte er doch bloß gewusst, was Lady Mandible im Sinn hatte! Aber geschmeichelt von ihrem Interesse und fasziniert von ihrer kalten Schönheit, war es ihm gar nicht eingefallen, nach dem Zweck des Rätsels zu fragen. Stattdessen war er noch stolz darauf gewesen, es so kompliziert wie möglich zu formulieren. Er war benutzt worden! Und nun hatte dieser unschuldige Junge den Schaden. »Wer mit den Wölfen heult, wird selber einer«, murmelte er vor sich hin und dachte wieder an die letzten Worte seines Vaters. Zum ersten Mal kam ihm ein leiser Zweifel. All diese Gedanken, zusammen mit Lady Mandibles selbstgefälliger Miene, die deutlich ausdrückte, wie sehr sie mit diesem geschmacklosen Spielchen ihre Macht auskostete, erfüllten Hector mit Zorn.

Aber da meldete sich der Gefangene zu Wort. »Die Lösung ist einfach, guter Mann«, sagte er mit einer kleinen Verbeugung und einer reichlichen Portion Sarkasmus in der Stimme. Dann gab er die richtige Antwort.

Und noch während er sprach, fiel Hector plötzlich ein, was ihm an dem jungen Mann so bekannt vorkam: seine Stimme. Er war der geheimnisvolle Fremde, der ihm damals auf dem Platz in Urbs Umida ein Rätsel in Reimform gestellt hatte. Hector war fassungslos. Er erinnerte sich jetzt auch an die schemenhafte Gestalt in Pagus Parvus, die ihn so offensichtlich beobachtet hatte. War ihm der Fremde etwa die ganze Zeit gefolgt? So viel konnte ihm doch unmöglich an seiner Antwort auf das Rätsel mit dem klugen Gastwirt liegen? Was führte der Bursche im Schilde?

Als Bovrik auf dem Zettel vor sich die Lösung des Rätsels las, lief er rot an vor Wut. Hector dagegen konnte trotz seiner Betroffenheit über die wiederholten Begegnungen mit diesem Rätsellöser kaum seine Erleichterung verbergen. Dann sah er Lady Mandibles Gesicht, eine ausdruckslose Maske. Würde er nun Ärger bekommen?

Doch als sie seinen Blick auffing, zog sie nur die Schultern hoch und sagte: »Interessant … er ist klüger, als ich dachte.« Sie wandte sich ab und fügte hinzu: »Lasst den Wilderer trotzdem hier.«

Hector schluckte seinen Protest hinunter. Der Gefangene jedoch schien nicht so genau zu wissen, mit wem er es zu tun hatte. »Aber Euer Ladyship«, sagte er ruhig, »ich habe die richtige Antwort gegeben. Ihr habt versprochen, in diesem Fall wäre ich frei.«