»Nun habe ich es mir eben anders überlegt«, sagte Lysandra obenhin, während sie aus dem Turmzimmer rauschte. »Ich kann tun und lassen, was ich will.«
Bovrik folgte ihr auf dem Fuß, wobei er Hector im Vorbeigehen mit einem seiner boshaften Blicke bedachte. Verzweifelt sah Hector den Gefangenen an, ging aber dann ebenfalls hinaus. Nachdem alle die Zelle verlassen hatten, musste er hilflos mit ansehen, wie Bovrik mit sichtlichem Vergnügen die Tür wieder absperrte und den Wächter davor postierte. Nun würde Hector das Geheimnis dieses unerschütterlichen Fremden nie aufdecken können.
Am Fuß der Treppe, als Lady Mandible und der Baron sich bereits entfernt hatten, wurde Hector plötzlich an der Schulter gepackt und herumgerissen – er blickte geradewegs in Lord Mandibles Augen.
»Hector?«, sagte er.
»Ja.«
»Ich habe einen Auftrag für dich.«
Kapitel 24
Grübeleien
Baron Bovrik de Vandolin, der noch beim Frühstück saß, nahm das Kästchen mit den Glasaugen heraus und platzierte es auf seinem Schreibtisch. Er klappte den Deckel auf, und ein breites Grinsen zog sich über sein Gesicht, als er den Inhalt betrachtete: sechs glotzende Augäpfel in der Reihenfolge ihrer Anschaffung. Den vorletzten – mit einem eingelassenen Smaragd – hatte er mit den Einnahmen aus dem Verkauf eines kleinen Silbertellers erstanden, den er in einer dunklen Ecke eines abgelegenen Korridors gefunden hatte, und den letzten, den mit Jade, mithilfe eines gestohlenen mittelalterlichen Weinpokals.
Nur noch einen, dachte Bovrik, dann ist die Reihe komplett.
Er nahm ein Glasauge nach dem anderen heraus und polierte jedes mit einem weichen Tuch, bevor er es wieder zurücklegte, und zwar so, dass alle in dieselbe Richtung blickten. Es war ein tägliches Ritual. Erst danach entschied er, welches Auge er tragen würde. Heute wählte er das dritte in der Reihe. Die Perlenpupille würde gut zu seiner Weste passen. Mit einer schnellen und geübten Bewegung zog er den Kopf ein, schüttelte ihn kurz und schon saß der betreffende Augapfel an Ort und Stelle. Hoffentlich würde er Lady Mandible gefallen, das war jetzt wichtiger als je zuvor.
Bovrik seufzte tief, als er an sie dachte, und ließ sich schwer in seinen Sessel fallen. Er drückte das Samtkissen an sich und sah finster vor sich hin. Es ließ sich nicht mehr leugnen: Lady Mandible hatte sich ihm gegenüber verändert. Ihm war nicht entgangen, wie oft sie Botschaften durch diesen verfluchten Gerulphus ausrichten ließ, statt sich persönlich mit ihm zu besprechen. Und hatte sie nicht im Zusammenhang mit dem Wilderer ihre Pläne ohne ihn gemacht und ihn erst im letzten Moment hinzugezogen? Was aber hatte sich verändert? Seine wahre Identität hatte sie doch bestimmt nicht herausgefunden? Nein, das war unmöglich. Es musste etwas anderes sein. Er hatte sich an dieses Leben in Wohlstand gewöhnt. Manchmal erbebte er geradezu, wenn er durch die Flure und Korridore von Withypitts Hall ging, so sehr wirkte der Luxus des Hauses auf ihn. Hier zu wohnen, fand er, kam dem Himmel so nahe, wie es ein Mensch auf Erden überhaupt erleben konnte. Er selbst jedenfalls, der bei der erstbesten Gelegenheit zur Hölle fahren würde, würde dem Himmel gewiss nie näher kommen als hier.
Immer öfter ertappte er sich dabei, dass er seine bewährte Maxime »Ein guter Betrüger weiß, wann es Zeit ist, zu gehen« schlichtweg ignorierte. Und nun, statt Lady Mandibles verändertes Verhalten ihm gegenüber als Beweis für die Stichhaltigkeit seines Wahlspruchs zu nehmen, sann er lieber auf eine Möglichkeit, sich unentbehrlich zu machen und seine Zukunft in Withypitts Hall zu sichern. Er ging zu seinem Schreibtisch, nahm eine Broschüre aus der Schublade und las sie zum wiederholten Male durch. Er lachte. Vor Kurzem, bei einem Ausflug in die Stadt, war er auf dieses Blättchen gestoßen und hatte, um ehrlich zu sein, den Inhalt ziemlich abstoßend gefunden – bis ihm eingefallen war, dass Lady Mandible wohl gerade das zu schätzen wissen würde. Der Zeitpunkt war gekommen, seine Idee in die Tat umzusetzen. Das konnte ihn nur in ihrer Achtung steigen lassen. Und für das Fest hatte er auch so seine Pläne …
Der Wahrheit halber musste er sich eingestehen, dass es für ihn nur eine einzige Möglichkeit gab, für immer hierzubleiben: Könnte er sich Lord Mandible vom Hals schaffen, würde vielleicht er, Baron Bovrik de Vandolin, einmal in seine Fußstapfen treten …
Aufgewühlt von dieser Vorstellung, griff Bovrik nach seinem Jocastar-Umhang und vergrub sein Gesicht in dem weichen Wollstoff. Sofort war er sich seiner adeligen Erscheinung wieder durch und durch gewiss, und alles schien ihm möglich – auch das Unwahrscheinlichste!
Kapitel 25
Zu früh!
Ein ganz schwaches Geräusch – ein Geräusch, das er nicht erwartet hatte – ließ Hector in seiner Arbeit innehalten und lauschen. Konnte er sich das eingebildet haben? Nein, da war es wieder. Ein Flattergeräusch. Kein Zweifel. Er spürte, wie seine Hände feucht wurden. Hier sollte nichts flattern. Es war zu früh. Das Fest fand erst morgen Abend statt. Er legte den Mörser zur Seite und drehte sich um. Langsam schritt er die Reihe der Glasbehälter ab und suchte nach der Ursache des Geräusches. Dort, auf dem Boden des Behälters neben ihm, bewegte sich etwas. »Tartari flammis!«, rief er aus.
Entsetzt fuhr er mit der Hand an den Mund, als er den großen Schmetterling sah, der hinter der Glaswand herumflatterte und dabei die dunkle Erdschicht und die feuchte Rinde aufwühlte. Er war ihm vorher, im Ruhezustand, nicht aufgefallen, weil seine leuchtenden Farben verschmiert waren wie Tarnfarben und er sich auf dem mattbraunen Durcheinander kaum erkennen ließ. Sein Körper war groß, doch seine Flügel waren entsetzlich missgebildet, der eine buchstäblich in Fetzen gerissen, der andere eine zerknautschte Masse. Mit laut pochendem Herzen öffnete Hector den Deckel des Behälters und fasste hinein, um die sich quälende Kreatur zu erlösen. Der Schmetterling krabbelte schwerfällig auf seine Hand und saß still, während Hector die Hand aus dem Gefäß zog.
Er empfand gleichzeitig Mitleid und Abscheu. Noch einmal untersuchte er ängstlich das Innere des Behälters. Der Schmetterling schien der einzige zu sein, der geschlüpft war. Vielleicht war es doch nicht so schlimm, wie er zuerst gedacht hatte. Überleben konnte dieser hier ohnehin nicht. Doch trotz aller Qualen, die der Schmetterling offensichtlich ausstand, schien es Hector furchtbar, ihn zu töten. Er zauderte, und so bemerkte er erst zu spät den Schatten, der plötzlich über ihn fiel.
»Was hast du da?«
Hector fuhr erschrocken zusammen – Bovriks Stimme. Er drehte sich hastig um und blickte direkt in das glitzernde falsche Auge des falschen Barons.
Der wiederum war ziemlich überrascht von Hectors Reaktion. Es kam selten vor, dass er den Jungen derart aus der Fassung sah. Normalerweise ließ Hector wenig von seinen Gefühlen erkennen. Er trat näher heran, ein neugieriges Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Seine Schnurrbartspitzen zuckten.
»Was ist das?«
»Ein … ein Schmetterling«, stammelte Hector. Sofort verfinsterte sich Bovriks Gesicht und seine buschigen Augenbrauen schoben sich noch enger zusammen als sonst.
»Ein Schmetterling? Jetzt schon?«
»Ich weiß«, sagte Hector mit einem Blick auf das zitternde Tier. »Er ist zu früh geschlüpft.«
»Sieht ganz so aus«, sagte Bovrik eisig.
»Er ist verletzt; er kann nicht leben.«
»Gibt es noch mährere?«
»Nein.«
»Hmm«, murmelte Bovrik, schlenderte durch den Raum und musterte dabei prüfend die Kokons. »Diese hier sind anders.« Er stand vor dem Gefäß in der Ecke. Die Kokons darin waren kleiner und viel dunkler als die anderen.
»Es ist eine andere Art«, sagte Hector. »Wegen der größeren Vielfalt.«
Bovrik schwieg.