»Die restlichen Schmetterlinge kann ich schlüpfen lassen, sobald sie gebraucht werden«, sagte Hector ruhig. Es erstaunte ihn immer wieder, wie leicht er seine tiefe Verachtung für diesen Mann verbergen konnte.
»Non, wir wollen es hoffen. Ond was ist das?« Bovrik hielt den Mörser hoch.
Hector stürzte sich auf ihn und nahm ihm das Gerät hastig aus der Hand. »Es ist für die Schmetterlinge. Ihr dürft es nicht anfassen.«
Bovrik sah ihn scharf an. »Non, du wirst wissen, was du tost«, sagte er endlich. »Es liegt mir fern, mich einzomischen.« Er beendete seinen Rundgang und blieb dann wieder vor Hector stehen. »Aber non darf nichts mähr schiefgähen! För Ihre Ladyship moss alles wie am Schnörchen laufen!« Und Hector meinte zu hören, wie er fast flüsternd ergänzte: »Ganz besonders jetzt.« Plötzlich richtete der Baron den Finger auf ihn. »Zeig her!«, forderte er.
Hector streckte die Hand aus und Bovrik warf noch einen Blick auf den sich quälenden Schmetterling.
»Dieser eine wird wohl keine Tragödie sein«, sagte er, dann riss er ihn unvermittelt an sich und zerdrückte ihn in seiner Faust, bis ihm die Innereien durch die Finger sickerten. Hector unterdrückte einen Aufschrei, bestürzt über so viel Brutalität. Bovrik streckte Hector die geöffnete Hand entgegen.
»Mach das weg«, sagte er.
Hector schluckte schwer. Vorsichtig fasste er das tote Insekt beim Flügel, zog es von Bovriks Hand und legte es auf den Tisch.
Du Ungeheuer!, dachte Hector, und sein Widerwille gegen diesen falschen Baron steigerte sich noch einmal – er hatte nicht geahnt, dass so viel unerbittlicher Hass in ihm steckte. Sein Herz war wie ausgepresst und trotzdem ließ er sich nichts anmerken.
»Ich habe keine Zeit för weitere Fähler, Junge – ich moss mich om sähr viel wichtigere Dinge kömmern. Vergiss nicht, dass ich dich auf den Straßen von Orbs Omida aufgeläsen habe. Ich kann dich jäderzeit wieder dorthin befördern.«
»Ich dich auch«, flüsterte Hector, als Bovrik auf dem Absatz kehrtgemacht hatte und davoneilte. »Sogar Schlimmeres.«
Kapitel 26
Brief an Polly
Withypitts Hall
Liebe Polly,
ich weiß kaum, wo ich anfangen soll. Bis heute Abend bin ich nicht losgekommen von diesem Ekelgefühl, das mich überfiel, als ich zusehen musste, wie Bovrik den missgebildeten Schmetterling in der Hand zerdrückte. Ich habe auch immer wieder daran gedacht, wie sehr ich benutzt worden bin und mit meinem Rätsel fast daran beteiligt gewesen wäre, einen Menschen zu verurteilen, vielleicht sogar zum Tod zu verurteilen. (Doch das liegt an Lady Mandibles Einfluss: In ihrer Gegenwart werden Männer schwach – und dabei bin ich ja noch nicht mal einer!)
Ich muss Dich aber gleich warnen: Falls Du glaubst, Gerulphus und seine Blutegel wären das Höchste an Widerwärtigkeit und Lady Mandibles Gemälde mit Menschenblut nicht weniger abscheulich, dann mach lieber die Augen zu und lies nicht weiter.
Der reine Horror steht Dir bevor. Ich bin gerade Zeuge einer ungeheuerlichen Darbietung geworden!
Nachdem Bovrik das Incunabulorum so hastig verlassen hatte, folgte ich ihm. Ich konnte mich nicht gegen den Gedanken wehren, dass es sich lohnen könnte, jemanden, der es so eilig hat, zu beobachten.
Diesmal war ich fest entschlossen, ihn nicht aus den Augen zu verlieren. Es war schon spät, und da nicht mehr viele der Bediensteten unterwegs waren, konnte ich ihm unentdeckt folgen. Endlich, nach vielen Biegungen und Abzweigungen, kamen wir in einen kleinen, schmalen Gang. Ich dachte, es ginge nicht mehr weiter, weil am Ende ein Gobelin an der Wand hing. Aber Bovrik zog ihn beiseite, eine Tür wurde sichtbar und er ging schnell hindurch. Ich schlich hin, kniete mich vor das Schlüsselloch und linste hindurch.
Wie sehr wünschte ich jetzt, Polly, ich hätte es nicht getan, denn manche Erinnerungen lassen sich vielleicht nie mehr auslöschen!
Lady Mandible saß in einem dunklen Sessel, Bovrik war wie immer an ihrer Seite. Eine dritte Person, ein Mann, stand vor ihnen. Gemeinsam sah das abscheuliche Paar ihm zu – genau wie ich in meinem Versteck –, sprachlos, vor Ekel hingerissen. Die ganze Episode dauerte um die zwanzig Minuten, vielleicht etwas länger, dann war es überstanden. Und erfolgreich überstanden, wenn man das so sagen kann. Der Mann, ein Franzose, glaube ich, stand wie auf einer Bühne mitten im Zimmer und hielt mit seinen langen, dünnen Fingern ein Tier bei den Hinterbeinen – ganz so, wie man eine Hähnchenkeule hält. Er biss hinein, und zwar kein bisschen zögernd, wie man es erwarten sollte, nein, er sah aus, als schmecke es ihm sogar. In seinen Mundwinkeln blieben zitternd kleine Fellbüschel und Härchen hängen, bis er sie mit der Zungenspitze in den Mund beförderte. Die kleineren Knochen zerknackte er zwischen den Zähnen, die größeren nagte er sauber ab und legte sie weg. Dabei wirkte sein Gesichtsausdruck die ganze Zeit hoch konzentriert. Blut habe ich nicht gesehen. Das Tier muss schon tot gewesen sein. Ich könnte mir denken, dass man es irgendwie zubereitet hatte, um es genießbarer zu machen. Wahrscheinlich eher gekocht als gebraten. Vor dem Braten wäre nämlich das Fell abgesengt worden, wie man es zum Beispiel beim Borstenrückenschwein macht, ehe man es an den Bratspieß hängt. Mir fiel auf, wie distanziert ich plötzlich solche Überlegungen anstellte.
Den Kopf aß der Mann nicht mit, und ich war erleichtert darüber, denn die Vorstellung, die samtenen dreieckigen Ohren mit den weißen Spitzen im Mund des Mannes verschwinden zu sehen, schien mir unerträglich. Dann, nachdem er dieses grausige Mahl beendet hatte, zog der Mann aus seiner Tasche eine große Leinenserviette mit messerscharfen Bügelfalten, tupfte sich den Mund ab und säuberte seine Finger.
Lady Mandible war aufgesprungen und applaudierte mit grenzenloser Begeisterung. Sie ergriff sogar Bovriks Hand, wenn auch nur kurz, und dankte ihm atemlos. Es war die stärkste Gefühlsaufwallung oder Erregung, die ich je bei ihr gesehen habe. Auch Bovrik schien von dem Mann beeindruckt, selbst wenn er es nicht so deutlich zeigte. Sind diese Leute so voller Überdruss, dass nur etwas derart Barbarisches sie noch erreichen oder bewegen kann?
Sie kamen auf die Tür zu. Schnell versteckte ich mich hinter dem Wandteppich, und sie gingen vorbei, nur Zentimeter von mir entfernt. Als Erste Lady Mandible mit ihren strahlenden Augen und diesen scharlachroten Lippen über den perlweißen Zähnen. Sie lachte. Bovrik ging an ihrer Seite und präsentierte sein neuestes Glasauge. Ich glaube, er hatte diese Vorführung zu ihrer Erheiterung geplant. Der Franzose kam hinter den beiden her und sonnte sich in Lady Mandibles fortgesetztem Lob.
Vermutlich hat sich der bizarre Darsteller gut bezahlen lassen. Ich könnte mir denken, das ist die Grundvoraussetzung, wenn von jemandem erwartet wird, zum Vergnügen anderer Leute eine … eine Katze zu essen. Denn ebendas hat der Mann getan, Polly! Mir ist ganz schlecht, und ich schäme mich, dass ich vor der Tür stehen geblieben bin und zugesehen habe. Bevor ich in dieses Tollhaus kam, war ich bestimmt nicht so! Der Hector von früher hätte Withypitts Hall bestimmt längst den Rücken gekehrt! Auch würde er nicht einen Unschuldigen in einem Turmgefängnis schmoren lassen, egal, wie schwierig es wäre, an ihn heranzukommen.
Aber Polly, das Schlimmste ist, die Katze war Posset!
Und es kommt noch schlimmer. Ich war nach diesem Erlebnis völlig durcheinander und so betrat ich das leere Zimmer und ging in dem schwachen Licht auf Lady Mandibles Sessel zu; er fühlte sich noch warm an und ich setzte mich. Ich lehnte mich zurück und wollte warten, bis sich meine Nerven beruhigt hätten. Unbewusst strich ich über die Armlehnen. Es war kein glattes Leder, das ich zwischen den Fingern spürte, sondern eine Art Fell, ein unglaublich weiches Fell. Mit wachsendem Unbehagen schob ich die Hand langsam bis zum Ende der Armlehne vor. Dort fühlte sich der Bezug anders an. Hart und unnachgiebig. Ich spürte Knöchel, Gelenke, Finger. Für einen Augenblick war ich wie gelähmt vor Entsetzen. Dann sprang ich mit einem unterdrückten Schrei auf.