»Es ist ein Wunder«, sagte er leise. »Ein Wunder. Ich habe den größten Keiler der Provinz erlegt! Ich bin ein ganz erstklassiger Jäger.«
Für einen Augenblick konnte er fast den tiefen Kummer über den Verlust seiner geliebten Katze vergessen. Und sämtliche Männer der Jagdgesellschaft klatschten und jubelten in der Vorfreude auf eine frühe Heimkehr – wenn sich auch manch einer wünschte, er könnte auch einmal den größten Keiler der Provinz zur Strecke bringen.
Das also war es, was Mrs Malherbe und ihre Küchenmannschaft erblickten, als sie aus dem Fenster schauten: die Heimkehr von Lord Mandible mit seiner Beute. Mandible ritt im Trab an der Spitze der Prozession – denn eine Prozession war es tatsächlich. Bei dieser Gangart gelang es ihm sogar, sich mit den Knien an den Seiten des Pferdes abzustützen, die Zügel in einer Hand zu halten und die andere triumphierend zu erheben. Hinter ihm kam der Eber, der mit den Läufen um einen dicken Ast gebunden war und von vier Männern getragen wurde, zwei vorn, zwei hinten. Speichel, Blut und sonstige Körperflüssigkeiten, die noch immer von ihm herabtropften, hinterließen eine feucht glänzende Spur im Hof. Die Nachhut des Zuges bildeten, lachend und scherzend, die übrigen Mitglieder der Jagdgesellschaft.
»Nein, nein, nein!«, murmelte Mrs Malherbe. »Nie hätte ich geglaubt, dass ich den Tag erlebe, an dem dieser Mann einen Borstenrücken erwischt.« Und sogleich stieg Mandible in ihrer Achtung.
Noch jemand sah Mandibles triumphale Heimkehr. Von seinem Turm aus beobachtete Bovrik die Prozession mit scharfem Auge. Hat er also endlich ein Schwein geschossen, dachte er. Es war schon lange her, dass Bovrik ein ganzes Borstenrückenschwein aus solcher Nähe gesehen hatte …
Er erhob sich aus dem Sessel am Fenster. Im Spiegel betrachtete er prüfend seine Schuhe und setzte dabei einen Fuß vor den anderen, eine Haltung, die seine wohlgeformten, seidenbestrumpften Waden am besten zur Geltung brachte. Er strich über den Samt seiner cremefarbenen Kniehose und zog seinen weit geschnittenen, magentafarbenen Mantel an. Perfekt – er sah wirklich wie ein Baron aus. Zuletzt das i-Tüpfelchen, ein Spritzer von seinem Zitrusparfüm.
Bovrik lächelte und klappte das Kästchen mit seinen Glasaugen auf. Er nahm eins heraus und hielt es zwischen Zeigefinger und Daumen ins Licht.
Das siebte Auge.
Gefertigt aus weißem Milchglas, in der Mitte hohl, um das Gewicht zu verringern, und oben und unten leicht abgeflacht, um eine gute Passform zu gewährleisten – es schien den übrigen durchaus ähnlich. Es war jedoch eindeutig besser. Tiefblaue Saphire umringten die goldene Iris und die Pupille war mit winzigen, im Licht glitzernden Diamanten besetzt. Das Auge war berückend schön, das teuerste und letzte seiner Sammlung – er besaß jetzt für jeden Tag der Woche ein anderes Auge und würde sich nie mehr mit einer Augenklappe behelfen müssen! Lady Mandible würde beeindruckt sein. Und anknüpfend an den Erfolg mit diesem Katzenfresser, ließ sich nur Gutes für die Zukunft ahnen. Das Fest konnte beginnen! Dann, nachdem er sich seines Aussehens vergewissert hatte, zupfte er sein gerüschtes Halstuch zurecht, schüttelte den Spitzenbesatz der Ärmelumschläge, nahm seinen Umhang und trat noch einmal an das kleine Turmfenster. Doch seine Freude wurde jäh getrübt. Irgendwo im Haus waren schon wieder die misstönenden Cembaloklänge zu hören.
»Hat dieser Narr nichts Besseres zu tun?«, murmelte er. Mein Gott, wäre er froh, wenn er dieses Geklimper nicht mehr ertragen müsste!
Kapitel 28
Aus einem
Brief an Polly
Withypitts Hall
Liebe Polly,
könntest Du doch bloß meine Schmetterlinge sehen! Sie sind einfach wunderschön.
Das letzte Mal habe ich Dir geschrieben, dass der richtige Zeitpunkt nun gekommen ist. Nach dem Brief an Dich ging ich ins Incunabulorum und schloss die Fenster und die Tür fest zu. Ich entzündete die Lämpchen unter den Behältern und schürte das Feuer. Und wartete. Als die Temperatur stieg, ging ich von einem Glasbehälter zum nächsten und schaute nach Lebenszeichen – eine schwache Bewegung, ein geplatzter Kokon. Die Nacht zog sich hin. Ich legte immer wieder Holzscheite nach und sah zu, wie das Thermoskop stieg …
Und dann geschah es. In der dunkelsten Stunde, kurz vor der Morgendämmerung, fing einer der Kokons an, sich zu bewegen. Zuerst nur ganz sachte – ich meinte schon, ich hätte es mir eingebildet –, aber nach ein paar Minuten war es eindeutig. Nach und nach platzte ein Kokon nach dem andern am oberen Ende auf und die Schmetterlinge schlüpften aus.
Polly, diese Schmetterlinge sind meine ganze Hoffnung und noch mehr. Groß sind sie, geradezu majestätisch, in den Farben des Regenbogens, prachtvoll anzusehen … und dann sind da noch meine ganz speziellen …
Hector legte die Feder nieder und gähnte herzhaft. Ein Tintenklecks tropfte auf den Schreibtisch und wurde im Nu von der Ärmelmanschette an Hectors grauem Hemd aufgesogen. Es fiel ihm schwer, sich zu konzentrieren, wenn er so viele Stunden auf Trab sein musste und so viel zu bedenken hatte. Draußen schwand jetzt schnell das Tageslicht, wieder ging ein Tag zu Ende und gleich würde das Fest beginnen. Auf dem Bett lag seine fertig gepackte Tasche, daneben ein Lederbeutel, schwer mit Münzen gefüllt. Auch wenn Lord Mandible in mancherlei Beziehung vielleicht sonderbar war, so hatte er sich doch immerhin dankbar und großzügig gezeigt. Nach der Episode mit dem Fremden im Turm, als er auf ihn zugekommen war und ihn um Hilfe bei der Jagd gebeten hatte, war Hector schnell einverstanden gewesen – er konnte das Geld zu gut gebrauchen, um Nein zu sagen.
Der Plan hatte dann auch wirklich wie am Schnürchen geklappt! Als Hector, wie angewiesen, heute frühmorgens in den Wald gekommen war, hatte sich dank der raffiniert ausgelegten Eichel- und Pilzspur ein großes, vollgefressenes und unglaublich schläfriges Borstenrückenschwein im Dickicht gefangen. (Vielleicht war es sogar dasselbe, dessen Bekanntschaft zu machen er schon einmal das Vergnügen gehabt hatte.) Dann, als die Jagdgesellschaft angeritten kam, hatte Hector das Tier freigelassen. Wie geplant, war es ihm auch gelungen, fast genau im selben Moment auf das Schwein zu schießen wie Lord Mandible. Als es unerwartet weiterrannte, hatte Hector sogar einen zweiten Schuss abgegeben. Beide Male dachten die Jäger, Mandibles eigene Waffe habe das Tier zur Strecke gebracht. Es hätte also nicht besser klappen können.
Allerdings hatte Hector nicht damit gerechnet, selbst eine Verletzung davonzutragen. Der Schrei nämlich, den die Jagdgesellschaft gehört hatte, stammte nicht von dem Schwein, sondern von Hector. Aber er hatte Glück im Unglück. Es war nur ein Streifschuss an der Wange, den er Mandibles vorbeifliegender Gewehrkugel verdankte. Trotzdem fühlte er sich immer noch ein wenig schwindlig. Er zuckte zusammen, als er an die Wunde fasste, aber dann wog er noch einmal die Börse in der Hand: Dafür hatte sich die kleine Unannehmlichkeit gelohnt. Dieses Geld sowie der mysteriöse Ring, den er im Wald neben den Giftpilzen gefunden hatte, würden ihm bestimmt weiterhelfen. Denn wenn er Withypitts Hall erst verlassen hätte, was bliebe ihm schon außer der Befriedigung, sich letzten Endes gerächt zu haben? Nur der Inhalt seiner Tasche: ein paar Bücher, ein paar Kleider und die nicht abgeschickten Briefe. Er hatte vor, zuerst nach Urbs Umida zu gehen und seinen Vater in einem besseren Grab bestatten zu lassen. Dann würde er Polly besuchen, doch danach würde das Schicksal über seine Zukunft entscheiden.
Er zog ein Paar Handschuhe an. Auf dem Boden in der Ecke des Raumes stand ein einzelner Glaskasten, in dem zwanzig frisch geschlüpfte Exemplare der Gattung Pulvis funestus saßen, alle schwarz wie die Nacht. Mit anmutigen Bewegungen nippten sie von dem Sirup, der in Schälchen vor ihnen stand. Hector griff nach dem Mörser, der neben dem Glasgefäß lag, und nahm den Deckel des Kastens ab.