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»Lysandra«, sagte Bovrik schließlich, »habt keine Angst. Euer Gatte mag tot sein, aber Ihr seid trotzdem nicht allein.« Er tippte mit dem Zeigefinger an sein Auge. »Säht her«, sagte er. »Mein neues Auge. Es ist für Euch, Lysandra; betrachtet es als Geschenk. Beeindrockend, findet Ihr nicht? Auch ich kann etwas darstellen. Bin ich Eurer nicht wördig? Gemeinsam könnten wir …«

Da erhob Lady Mandible die Hand und schlug Bovrik hart ins Gesicht. Es traf ihn wie aus heiterem Himmel, er verlor die Balance und taumelte seitwärts. Gleichzeitig flog etwas Glitzerndes durch die Luft und landete auf dem Boden. Sämtliche Blicke folgten der Kugel, die über die Marmorfliesen rollte und schließlich neben dem Fuß des toten Lord Mandible liegen blieb: Bovriks goldenes, von Juwelen übersätes Auge.

Auf Lady Mandibles Wangen war die Farbe zurückgekehrt, ihre Augen blitzten. Sie stand auf. »Lord Mandible tot?«, rief sie. »Nur wie? Noch vor wenigen Augenblicken war er bei bester Gesundheit!« Sie wandte sich mit einem übertrieben entsetzten Gesichtsausdruck an Bovrik. »Und habe ich Euch recht verstanden? Sagtet Ihr tatsächlich, Ihr wollt in die Fußstapfen meines toten Gemahls treten? Und das wenige Augenblicke nach seinem Hinscheiden? Ihr unverschämter, diebischer Schuft, Ihr!«

Bovrik ließ sich auf die Knie nieder und kroch auf allen vieren umher, auf der Suche nach seinem wertvollen Auge. Rasch wischte er es ab und schob es wieder in die leere Augenhöhle. Er rappelte sich auf. »Nein, nein«, versuchte er zu protestieren. »Ich meinte doch nor…« Er stockte. Niemand hörte ihm zu. Alle hatten sich Lady Mandible zugewandt. Ein fast unmerkliches Lächeln erschien auf ihren Lippen, und bei diesem Lächeln begriff Bovrik auf einmal, dass hier etwas Schreckliches vor sich ging.

»Ich frage mich, Baron«, überlegte Lysandra kalt und für jeden deutlich zu hören, »ob vielleicht Ihr etwas mit dem Tod meines Mannes zu tun habt.«

»Es könnte sich um einen Fall von Vergiftung handeln«, sagte der Doktor hilfsbereit. »Die Lippen Seiner Lordschaft sind ganz blau.«

Gift! Mord! Der Baron? Die Gäste rangen hörbar nach Luft.

Hector aber konnte nur ungläubig den Kopf schütteln. War Bovrik deshalb nachts im Haus umhergeschlichen? Um den Mord an Lord Mandible zu planen? Warum war er nicht längst auf diesen Gedanken gekommen? Doch selbst wenn, hätte es einen Unterschied gemacht? Hätte er etwa versucht, es zu verhindern? Hector war verwirrt. Das waren Fragen, die er nicht beantworten konnte. Seine Gedanken verloren sich in einem Nebel.

Inzwischen war Bovrik alle Farbe aus dem Gesicht gewichen, weil ihm allmählich die ganze schreckliche Wendung der Dinge dämmerte. »Lady Mandible«, flüsterte er, »Ihr wärdet doch gewiss nicht glauben … gewiss wärdet Ihr mich doch nicht bescholdigen …«

»Sein Tod käme Euch jedenfalls nicht ungelegen, nicht wahr, Baron?«, zischte sie.

Bovrik ließ den Blick durch den Saal wandern, er sah die geröteten Gesichter, die jede seiner Bewegungen beobachteten, die Diener, denen er das Leben zur Hölle gemacht hatte, Lady Mandible, die sich gegen ihn gewandt hatte, und da begriff er, dass er keine Chance mehr hatte. Mit einem Schrei wie von einem verwundeten Tier drehte er sich um und floh.

Langsam und mit der Unterstützung eines Dieners ging Lysandra auf Lord Mandibles Leiche zu. »Oh, mein Lieber«, seufzte sie mit einem kaum wahrnehmbaren Schluchzer, »was soll ich nur ohne Euch anfangen?«

Hector warf einen letzten Blick auf die Gäste ringsum – und sah bei keinem von ihnen echtes Leid oder Bedauern. Fast drehte sich ihm der Magen um und er empfand nur noch tiefen Ekel und Abscheu vor sich selbst.

»Ich bin zum Wolf geworden«, flüsterte er verzweifelt. Er meinte, er würde jeden Moment zusammenbrechen. War es wirklich schon zu spät? Ein schwacher Hoffnungsschimmer flackerte in ihm auf. Vielleicht doch nicht, dachte er. Aber ehe er irgendetwas tun konnte, hörte man aus dem Flur auf der anderen Seite des Speisesaals herangaloppierende Hufe und ein tiefes, kehliges Grunzen, das Splittern von Glas und Geschirr und gellende Schreckensschreie. Die ganze Tafelrunde wandte ihre Blicke von Lysandra und dem regungslosen Mandible ab, um dem Getöse vor der Tür zu lauschen.

Aber nicht was sie hörten, versetzte sie in Angst und Schrecken, sondern was sie nun sahen: Ein mit kräftigen Hauern bewehrtes Ungetüm von enormen Ausmaßen stürmte in den Saal und kam auf dem glatten Marmorboden rutschend zum Stehen. Zum zweiten Mal in seinem Leben sah sich Hector den schmalen gelben Augen eines Borstenrückenschweins gegenüber. Und anders als das Schwein auf der Silberplatte war dieses hier höchst lebendig.

Keiner rührte sich. Die Bestie kam langsam auf den Tisch zu, schwer atmend, den Kopf nach links und rechts werfend, und schließlich fiel sein Blick auf das verwüstete Skelett des gebratenen Schweins. Da stieß es einen gequälten Schrei aus, so anhaltend und schrill, dass der Kristallkronleuchter zersplitterte und wie Hagel auf die stocksteif an der Tafel sitzenden Gäste herabprasselte. Und dann ging das Schwein zum Angriff über.

Bevor Hector aus dem Speisesaal rannte, sah er noch Gerulphus, der sich zwischen Lady Mandible und das heranstürmende Schwein warf.

Kapitel 32

Die Enthüllung

Hector war klar, dass er Bovriks Turm schnell erreichen musste. Sein Vater hatte recht gehabt, Polly hatte recht, der fremde Gefangene im Turm hatte recht, nur Hector hatte bis zu diesem schrecklichen Abend gebraucht, um es zu begreifen.

Und jetzt konnte es zu spät sein.

Er nahm drei, vier Stufen auf einmal, und als er endlich vor Bovriks Zimmer stand, konnte er kaum sprechen. Doch das bekannte Parfüm hing in der Luft, Bovrik musste also noch da sein.

»Lasst mich ein«, rief er keuchend. »Ich bin’s, Hector.« Er warf sich gegen die Tür, das Schloss gab unter seinem Gewicht nach und er fiel ins Zimmer.

Bovrik stand am Fenster, das Kerzenlicht spiegelte sich in seinem widerwärtig grell glitzernden Auge. Es sah merkwürdig aus, und Hector fiel plötzlich auf, dass ein Riss quer durch die Glasoberfläche ging.

»Was willst du?«, knurrte Bovrik. Er war blass, nur die linke Gesichtshälfte war etwas rot und geschwollen. Von Lady Mandibles Ohrfeige, dachte Hector.

»Der Kasten«, rief er, während er sich mühsam aufrappelte. »Habt Ihr ihn geöffnet?«

Bovrik drehte den Kopf, da sah Hector das kleine weiße Kästchen noch immer auf dem Stuhl, wo er es zuvor abgestellt hatte. Bovrik wollte es nehmen.

»Nein!«, rief Hector. »Nicht öffnen!«

»Warum nicht?«, fragte Bovrik. »Es gehört mir. Ein Geschenk von Lysandra.« Er hielt ihm das Kärtchen hin, das eindeutig an Baron Bovrik de Vandolin adressiert und mit einem verschnörkelten L. unterzeichnet war.

Hector trat einen Schritt vor. »Es ist nicht von Lysandra. Es ist von mir. Und ich will es zurückhaben.«

»Von dir?« Bovrik legte das Ohr an das Kästchen. »Da ist etwas drin«, sagte er. »Ich höre es.« Er sah Hector fragend an.

»Es ist voller Schmetterlinge, Pulvis funestus, Schwarzflügelfalter, aber Ihr dürft es nicht öffnen. Sie werden Euch töten.« Er hob bittend die Hände.

»Töten?« Bovrik verengte die Augen zu Schlitzen und lachte sarkastisch. »Sind sie etwa auf tödliche Öberfälle abgerichtet?«

Hector schüttelte den Kopf. »Ich habe das tödliche Gift einer Pilzart auf ihre Flügel gestäubt. Kommt Ihr mit ihnen in Berührung, werdet Ihr sterben. Euer Zitronenduft würde sie anlocken und verrückt machen, sie würden sich auf Euch stürzen!«