Bovrik lächelte schwach. »Na, so was! Sähr einfallsreich. Ond kaum aufzodecken, könnte ich mir denken.« Zu Hectors Erleichterung stellte er den Schmetterlingskasten auf den Tisch. »Aber warom solltest du mir ein so verhängnisvolles Geschenk schicken?«
Hectors Hände hingen hilflos an den Seiten herab. Von diesem Augenblick hatte er viele Male geträumt, aber so hatte er ihn sich nicht vorgestellt, so hatte er sich dabei nicht fühlen wollen. »Weil«, sagte er langsam, »Ihr Gulliver Truepin seid und ich Hector Fitzbaudly bin. Ihr habt meinen Vater erpresst und ihn durch Eure Machenschaften in den Tod getrieben.«
»Also Rache suchst du?« Jetzt begriff er und ließ endlich seinen albernen Akzent fallen. »Rühmlich für einen so jungen Burschen. Du hast eine glänzende Zukunft vor dir. Aber warum warnst du mich dann?«
Warum?, dachte Hector. Weil mein Vater an mich geglaubt hat. Weil ich nicht so bin wie du. Weil ich besser sein will.
»Weil ich kein Wolf bin«, sagte er leise. Bovrik runzelte die Stirn. »Ich habe es mir anders überlegt«, sagte Hector dann lauter und in anderem Ton. »Ihr seid hier in Withypitts Hall erledigt. Ihr habt Lord Mandible umgebracht und man ist Euch auf der Spur. Die Wachen sind wahrscheinlich schon unterwegs. Das ist mir Rache genug.«
»Das stimmt nicht. Das war alles ein Irrtum«, sagte Bovrik zu Hectors Verblüffung. Er massierte seine Wange, die inzwischen so rot und geschwollen war, dass sich sein Auge geschlossen hatte. »Ich habe Lord Mandible nicht umgebracht, aber in Withypitts Hall bin ich erledigt, da hast du recht. Ich hätte nie so lange bleiben dürfen. Das war ein Fehler meinerseits. Und jetzt aus dem Weg, Junge, sonst gehst du den gleichen Weg wie dein Vater.«
»Wartet«, sagte Hector. »Ich habe Euch gesehen, wie Ihr nachts durch die Gänge geschlichen seid, in Mandibles Zimmer und wieder heraus. Ich weiß nicht, wie Ihr es angestellt habt, aber wer sonst hätte einen so einleuchtenden Grund wie Ihr, ihm den Tod zu wünschen? Etwas Ähnliches habt Ihr heute Abend doch zu Lady Mandible gesagt.«
»Ach, du hast mich beobachtet!« Bovrik hob die Augenbrauen. »Aber du liegst falsch, Schmetterlingsjunge – Lord Mandibles Gemächer habe ich nur ein einziges Mal betreten, und zwar, um seine idiotische Katze für den Katzenfresser zu stehlen! Die andern Male hast du mich dabei gesehen, wie ich … nun, sagen wir, wie ich mir den einen oder anderen unbedeutenden Wertgegenstand verschafft habe, um ihn zu verkaufen. Das ist nun mal meine Art. Wir müssen alle leben. Ich will nicht sagen, dass ich mir diesen Dummkopf Mandible nicht von der Bildfläche gewünscht habe, doch waren meine Pläne in dieser Hinsicht nicht ganz so fortgeschritten wie deine für mich!«
Hector war wie vor den Kopf gestoßen. Da dachte er nun, er wäre besser als Bovrik, dabei war er in Wirklichkeit viel schlechter. Wie hatte er sich nur so tief sinken lassen können?
»Aber Ihr habt doch gesagt, Ihr hättet eine Überraschung für Lady Mandible?«, stotterte er.
»Ja, mein neues Auge«, sagte Bovrik ungeduldig und drehte Hector das Gesicht zu, damit er das Auge aus der Nähe betrachten konnte. »Lysandra weiß Schönheit zu schätzen. Ich wollte ihr einfach zeigen, dass auch ich etwas davon verstehe. Wir hätten so viel erreichen können«, sagte er träumerisch, »aber alles ist schiefgegangen.« Er rieb wieder über sein Auge, diesmal heftiger. »Das hier passt allerdings nicht so gut«, murmelte er und klappte den Deckel seines Augenkästchens auf. Da lagen sie, sechs stumme Zeugen.
»Wie merkwürdig«, sagte er. »Sie liegen in anderer Reihenfolge als sonst.« Er sah Hector an und erschrak. »Zum Teufel, was ist denn das?«
Hector blickte an sich herab, und da sah auch er den pelzigen Schwanz, der unter seiner Weste hervorhing. »Percy«, fiel es ihm ein. »Ich habe ihn tot unter dem Cembalo gefunden.« Als er das steif gewordene Tier unter seiner Weste hervorzog, fiel gleichzeitig etwas Schweres, Funkelndes aus seiner Tasche auf den Bärenfellvorleger und blieb schimmernd dort liegen. Hector bückte sich und hob es auf.
»Immerhin ist Mandible auf seinem Höhepunkt abgetreten«, fuhr Bovrik fort. »Auch sein Vater konnte nicht spielen. Nicht die Spur. Und auch er ist einsam und allein an seinem Instrument gestorben.«
Stirnrunzelnd richtete Hector sich wieder auf. »Er ist am Cembalo gestorben?«
»Ja. Hast du das nicht gewusst? Kurz nachdem Lysandra Mandible geheiratet hatte.« Bovrik sah Hector an, der nachdenklich den kleinen Gegenstand betrachtete, der ihm aus der Tasche gefallen war. Es war der Ring mit dem dunklen Stein, den er neulich im Wald beim Sammeln der Schweinsborsten gefunden hatte. Auf einmal stockte ihm das Blut in den Adern. »Tartari flammis!«, flüsterte er. »Das muss Lysandras Ring sein.« Er wandte sich schockiert an Bovrik. »Ich habe mich von vorn bis hinten geirrt! Begreift Ihr nicht? Lysandras Ring! Sie ist die einzige andere Person, die einen Nutzen von Lord Mandibles Tod hat. Sie hat Mandibles Vater umgebracht. Sie hat auch Mandible umgebracht. Und Ihr sollt nun die Schuld dafür tragen.«
Ungläubig verzerrte sich Bovriks Gesicht. »Nein«, flüsterte er. »Das kann nicht sein.«
Der größte Trickbetrüger von allen war ausgetrickst worden.
Kapitel 33
Blick von oben
Er lächelte, während er fiel.
So also war Fliegen! Er spürte die Winterluft kühl über seine heißen Wangen streichen und das war überraschend angenehm. Ein Gefühl, als würde er vom Himmel herabstürzen. Seine Augen waren geschlossen, seine Arme seitwärts ausgestreckt. Es stimmte also, was er gehört hatte. Das ganze Leben leuchtete blitzartig vor den Augen auf. Alles war da, in keiner bestimmten Reihenfolge – unzählige kleine Bilder und jedes für sich eine Erinnerung an tausend verschiedene Dinge.
Jetzt war er wieder im Wald. Die Blätter waren braun und feucht und er konnte den modrigen Geruch riechen. Er hörte ein Schwein wühlen und schon stach ihm der beißende Geruch nach verbranntem Fleisch und angesengten Haaren in die Nase. Auch dieser fremde Wanderer tauchte auf, verschwand und an seine Stelle trat Hectors wissbegieriges Gesicht.
Viel Glück, dachte er und spreizte die Finger, um den Wind hindurchwehen zu lassen.
Er drehte sich in der Luft, sehr langsam seinem Gefühl nach, und fiel weiter. Warum dauerte es so lange? Im Schweben konnte er jede Kleinigkeit genau erkennen, was ihm seltsam vorkam, weil es spätabends war und nur die fernen Sterne und der Vollmond den Himmel erhellten. Er wusste auch, dass er in Wirklichkeit mit hoher Geschwindigkeit fallen musste, und doch konnte er jedes Ding gründlich ansehen und in sich aufnehmen: das Moos zwischen den Mauersteinen, ein Insekt, das über die rauen Steine krabbelte, Regenwasser, das sich als grünes Rinnsal einen gewundenen Weg an der Mauer abwärtsbahnte.
In einem Chaos von Gefühlen wirbelte alles in ihm durcheinander: Trauer, Bedauern, Wut, Enttäuschung. Hatte es denn nicht einen einzigen Glücksmoment gegeben? Und dann erschien sie. Sie lächelte, streckte ihm ihre Hand entgegen, wie sie es Hunderte Male getan hatte. Er spitzte die Lippen, wie um ihre Hand zu küssen, aber sie entzog sie ihm, und ihr Blick wurde kalt.
Was bin ich für ein Narr gewesen, dachte er. Was für ein Dummk…
Er schlug auf dem Boden auf und blieb zusammengekrümmt auf der Seite liegen. Eine dunkelrote Blutlache breitete sich um ihn aus. Und das Letzte, was Bovrik sah, war sein eigenes Spiegelbild in der davonrollenden glitzernden Kugel.
Kapitel 34
Abschied
He, Wächter! Schnell! Lord Mandible ist ermordet, der Angeklagte auf der Flucht, Lady Mandible in Lebensgefahr! Sie wird von einem wild gewordenen Schwein bedroht. Du wirst im großen Speisesaal gebraucht!«
Der Turmwächter glotzte Hector einen Moment an, dann klaubte er seine Waffen zusammen und rannte polternd und so schnell er konnte die Stufen hinunter.