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Gulliver Truepins Erfolg auf dem Gebiet der Betrügereien, auf den er sehr stolz war, ließ sich an der beträchtlichen Summe ermessen, die er inzwischen angehäuft hatte. Anders als andere in diesem Gewerbe hatte er sein Geld nicht mit Alkohol, Frauen oder anderen fragwürdigen Zerstreuungen vergeudet. Nein, Gulliver Truepin hatte stets ein Auge auf die Zukunft gerichtet – im wahrsten Sinn des Wortes. Und die Zukunft war jetzt. Er war des Nomadendaseins überdrüssig und wollte endlich die Früchte seiner unehrlichen Arbeit genießen. Er wollte sich niederlassen, und zwar nicht etwa auf alltägliche Weise. Seine Ziele waren höher gesteckt. All seine bisher unternommenen gewöhnlichen Tricks und Schwindeleien sollten lediglich als Sprungbrett zu einem ganz großen Identitätswechsel dienen, der ihm den luxuriösen Lebensstil bescheren würde, nach dem er sich immer gesehnt und den er seiner Meinung nach auch verdient hatte.

Doch um all das zu erreichen, brauchte er noch mehr Geld. Er hatte auch bereits einen Plan und der erste Schritt dazu sollte an diesem Abend eingeleitet werden. Die Methode war simpel, geradezu altmodisch, hatte sich aber in den meisten Fällen als äußerst wirksam erwiesen und verlangte nur ein Minimum an Risiko und Täuschungsmanöver. Für einen Mann wie Gulliver Truepin kaum ein Problem.

Es handelte sich um eine alte Kamelle: Erpressung.

Von seiner Unterkunft aus konnte Truepin gegenüber das Wirtshaus Zum Flinken Finger sehen. In fünfzehn Minuten hatte er dort eine Verabredung. Er ging zum Bett, auf dem zweierlei Kostüme bereitlagen. Qualität und Aussehen der Kleidungsstücke hätten unterschiedlicher nicht sein können. Auf der einen Seite lag eine elegante schwarze Samtjacke mit dazugehörigen Kniebundhosen, auf der anderen ein grobes, grau verblichenes Hemd samt einer fadenscheinigen Weste. Bedauernd strich Truepin über den Samt. Doch dieser Abend war nicht dazu geeignet, seiner Vorliebe für gute Qualität nachzugeben. Er kleidete sich also in das letztere Gewand, widerwillig, als könne er es kaum auf der Haut ertragen. Zuletzt warf er sich einen zerschlissenen braunen Umhang über, blickte auf die dazugehörigen geflickten, abgewetzten Schuhe und schüttelte den Kopf.

Nicht mehr lange, dachte er, und ich bin die Fetzen ein für alle Mal los. Heute konnte er diese Unannehmlichkeit noch einmal hinnehmen, weil er wusste, dass ein Ende in Sicht war.

Es dämmerte schon, als Gulliver die Straße überquerte. Ein dunkelhaariger Junge mit neugierigem Blick, merkwürdig dünn angezogen bei diesem Wetter, lief auf halbem Weg in ihn hinein. Truepin, der ihn für einen Taschendieb hielt, packte ihn drohend am Kragen, schüttelte ihn ordentlich durch und verschwand dann im Flinken Finger. Er setzte sich in eine dunkle Ecke und bestellte einen Krug Bier und zwei Gläser (viel lieber wäre ihm natürlich Schaumwein gewesen, aber den gab es hier nicht). In seiner Aufmachung konnte er sich absolut unauffällig unter den Gästen bewegen. Aber das war ohnehin nicht schwer, weil sich im Flinken Finger keiner gern in die Karten schauen ließ. Truepin wartete und nippte ab und zu mit Todesverachtung an seinem warmen Bier.

»Truepin?«

Als er den Kopf hob, sah er einen untersetzten Kerl in dunklem Mantel und Hut, der sich schwankend über den Tisch beugte. Truepin nickte. Schwerfällig ließ sich der Neuankömmling neben ihn auf einen Stuhl fallen.

»Bier?«, bot Truepin an, obwohl er aus dem schläfrigen Auftreten und der geröteten Nase des Mannes schloss, dass dieser bereits ordentlich Gin gebechert haben musste.

»Ja«, kam die schroffe Antwort. Truepin goss ihm ein.

»Also«, sagte der Mann nach einem langen, lautstarken Zug. »Ihr wollt ein’ neuen Namen?«

»Richtig.«

»Und ein’ Titel?«

»Allerdings.«

»Dass wird Euch was kosten, nich wenig wird’s kosten«, lallte der Mann.

Truepin nickte. »Ich hab das Geld.« Jedenfalls bald, dachte er.

»Also ab’emacht. Kommt um Mitternacht noch mal, dann is all’s fertig.« Damit kippte der Kerl die zweite Hälfte seines Bieres in sich hinein und tauchte in der Menge unter.

Truepin lehnte sich zurück und gestattete sich ein kleines Lächeln. Es geht also los, dachte er. Nun der nächste Schritt. Zuerst andere Kleider und dann auf zur Wohnung von Mr Augustus Fitzbaudly.

Kapitel 3

Auf der Nordseite

Hector saß reglos im Schmetterlingshaus. Ihm war warm, fast unangenehm warm, obwohl er nur ein Nachthemd anhatte. Nach seiner strumpfsockigen Flucht waren seine Füße voller Schrammen und wunder Stellen und seine Nerven hatten sich immer noch nicht beruhigt. Schmetterlinge der verschiedensten Größen und Farbschattierungen flatterten um ihn herum und ließen sich auf den unzähligen Pflanzen und blühenden Blumen nieder, die an den Glaswänden ihrer Behausung wuchsen.

So viel Schönheit, dachte Hector – und nur wenige Stunden zuvor war er von all der Hässlichkeit umgeben gewesen und hatte auch daran Gefallen gefunden …

Der Heimweg aus der Südstadt war ihm endlos erschienen. Obwohl er mit gesenktem Kopf und möglichst, ohne jemanden anzusehen, durch die Straßen gestürmt war, hatte er noch genügend ungebetene Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Aber nicht etwa, weil ein Teil seiner Kleider fehlte, sondern weil die, die er noch besaß, so sauber waren. Schlecht gekleidete Jungen liefen hier viele herum, aber keiner mit so weißen Strümpfen. Doch lange hatte es nicht gedauert, und Hector war wegen all der Dunghaufen und Gemüseabfälle, die auf Straßen und Gehwegen herumlagen, kaum mehr von den zahllosen Straßenkindern in der Menge zu unterscheiden. Wie jeder andere hatte er die Erfahrung gemacht, dass es hier oft besser war, nicht aufzufallen.

Er kam an lärmerfüllten Kneipen vorbei, an unbeleuchteten Läden und Fenstern von Pfandleihhäusern. Er spähte in schmale Seitenwege und sah reglos kauernde Gestalten – ob tot oder lebendig, konnte er nicht erkennen –, er sah düstere Schatten neben den Ginleitungen hocken und das scharfe Getränk hinunterstürzen, das ihre Kehle wärmte und ihre Sorgen verdrängte, bevor es sie unausweichlich in den Ruin führen würde. Er wich Kutschen aus, sah Milchmädchen, schamlose Bettler, Messerschleifer und Wanderschauspieler.

Endlich, als Hector den Fluss erreicht hatte, ließ er zum ersten Mal den Gedanken zu, dass er möglicherweise doch sicher nach Hause gelangen könnte. Er beugte sich über das niedrige Geländer, um das dunkle Wasser des verrufenen Foedus besser zu sehen. Der Gestank des Flusses an diesem Tag würde ihn sein Leben lang begleiten. Noch nach Jahren würde ihn der Geruch eines einzigen Atoms seiner chemischen Zusammensetzung augenblicklich nach Urbs Umida zurücktragen und bittersüße Erinnerungen an die Südstadt in ihm wachrufen. Für manche Städte war der Fluss der Lebensnerv; für Urbs Umida war er eher der Styx, der Fluss der Unterwelt, und schon beschwor Hectors sprühende Fantasie für einen Moment Charon, den mythologischen Fährmann der Toten, herauf, der seinen schwerfälligen Stechkahn über den Fluss stakte. Als er noch einmal hinsah, erkannte er, dass es sich nur um einen armseligen Flößer handelte.