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Hector aber, der den Schlüssel zu der einsamen Turmzelle aus dem Zimmer des Barons mitgenommen hatte, schloss in fieberhafter Eile die schwere Zellentür auf. Der Gefangene auf der anderen Seite erwartete ihn schon. »Ich wusste, du würdest mich nicht vergessen«, sagte er grinsend.

»Wie könnte ich dich hier sitzen lassen?«, sagte Hector. »Ich verdanke dir mein Leben! Außerdem muss ich dich Verschiedenes fragen. Aber später. Lass uns verschwinden.«

Unten lagen die Gänge und Korridore verlassen. Als sie sich dem Haupteingang näherten, konnten Hector und sein Gefährte das Brüllen und Grunzen hören, das noch immer aus dem Speisesaal drang. Das Schwein war eingesperrt worden, und nun diskutierten die Jäger, wie sie ihm am besten zu Leibe rücken könnten. Die Nachricht von Bovriks Sturz hatte sich schnell verbreitet, und die, die dem Schwein unverletzt entkommen waren, rannten nun hinaus, um sich den zerschmetterten Körper anzusehen. So konnte das flüchtende Paar unbehelligt das Herrenhaus verlassen und zu den Ställen laufen.

Am Waldrand zügelte Hector sein Pferd und sah seinen Begleiter an.

»Wer bist du?«, fragte er schließlich. »Und warum folgst du mir?«

»Ich heiße Ludlow Fitch«, antwortete der junge Mann.

Hector blieb der Mund offen stehen. »Der Sohn von Lottie Fitch?«

Ludlow nickte. »Und Pollys Freund. Sie hat sich große Sorgen um dich gemacht, da habe ich ihr versprochen, dir zu folgen und, falls es mir möglich wäre, auch zu helfen. Aber ich kann nicht leugnen, dass ich auch eigene Gründe dafür hatte. Du weißt nicht viel über mein Gewerbe, Hector, aber ich dachte mir, du könntest vielleicht mein Gehilfe werden.«

Hector schüttelte beschämt den Kopf. »Du wirst mich bestimmt nicht wollen«, murmelte er. »Zumindest würdest du mich nicht wollen, wenn du wüsstest, was für eine schreckliche Tat ich beinahe begangen hätte.« Er ließ sein Pferd eine Wendung machen, um noch einmal die verhängnisvolle Silhouette von Withypitts Hall zu sehen. »Ich kann den Gedanken daran kaum ertragen. In diesem Haus war ich … war ich nicht mehr ich selbst.« Und er unterdrückte ein Schluchzen und duckte sich tiefer in den Pferdesattel.

Ludlow legte ihm die Hand auf den Arm. »Ein Freund von mir hat immer gesagt: ›Du kannst die Vergangenheit nicht ändern, aber jeder Augenblick ist eine Gelegenheit, deine Zukunft zu ändern.‹«

Hector wischte sich mit dem Ärmel die Nase ab. »Das hört sich nach einem guten Freund an.«

»Er war wie ein Vater zu mir.«

»Ich hatte einen Vater. Was ich getan habe, habe ich für ihn getan. Aber er wäre nicht stolz auf mich gewesen, nach dem, was ich beinahe geworden wäre.«

»Eines Tages wirst du mir erzählen, was du getan hast«, sagte Ludlow leise. »Ich werde dein Geheimnis für mich behalten. Doch jetzt sollten wir erst mal zusehen, dass wir vorankommen.«

Hector tastete vorsichtig über seine Schläfe. Die Wunde von dem Streifschuss brannte in der kalten Luft. »Ich muss in die Stadt zurück«, sagte er.

»Komm mit mir«, drängte Ludlow. »Ich kenne einen Ort in den Bergen, wo wir in Sicherheit wären, Atrium Arcanorum.«

»Stätte der Geheimnisse?«, sagte Hector überrascht.

»Ja«, nickte Ludlow. »Ein wunderbarer Ort. So etwas hast du noch nicht gesehen. Ich habe eine Freundin dort, Juno. Sie kann deine Verwundung heilen; sie weiß alles über Kräuterheilkunde. Aber vielleicht willst du ja lieber deiner eigenen Wege gehen? Wie auch immer, deine Schuld ist beglichen.«

Hector schüttelte den Kopf. »Nicht ganz. Was ist mit dem Rätsel von dem Wirt?«

Ludlow lachte. »Sag mir die Lösung unterwegs«, sagte er und trabte davon.

Hector warf einen letzten Blick auf Withypitts Hall, dann gab er seinem Pferd die Sporen. »Was für eine Art Gehilfe soll ich denn sein?«, rief er seinem neuen Gefährten zu.

Ludlow blickte über die Schulter zurück. »Das ist eine ganz andere Geschichte«, sagte er.

Kapitel 35

Brief an Polly

Atrium Arcanorum

Liebe Polly,

eine Geschichte habe ich noch zu erzählen, vielleicht die schlimmste von allen. Wir kennen das Schicksal von Posset, die von einem Franzosen aufgegessen wurde; aber was ist mit ihrem Leidensgenossen? Der arme Percy musste einfach nur deshalb sterben, weil er über die Tasten des Cembalos spaziert war. Lady Mandible hat ihn (oder vielleicht hat es Gerulphus für sie getan) mit dem gleichen Giftpilz umgebracht, den ich im Wald gesammelt habe. Perigoe konnte kaum ahnen, welche Dienste ihr Buch über Flora und Fauna des alten Eichenwaldes leisten würde!

Lady Mandible wusste, dass Lord Mandible auf dem Fest spielen wollte. Was für ein perfekter Schauplatz für ihr verhängnisvolles Drama! Er nahm das Gift erst über die Finger und dann durch den Mund auf, als er sich beim Festmahl vollstopfte. Auf diese Weise wird sie wohl auch Mandibles Vater getötet haben. Und was ist mit ihren früheren Ehegatten? Die Vorstellung ist kaum zu ertragen! Ihr Motiv war immer Geld und Macht, denke ich, aber wer weiß, vielleicht hat sie es sogar zu ihrem Vergnügen getan.

Nachdem ich alles durchschaut hatte, erzählte ich es Bovrik. Ich warnte ihn nicht nur vor den giftigen Schmetterlingen, sondern ich wollte jetzt alles in meiner Macht Stehende tun, um ihn zu retten. Endlich war ich zur Vernunft gekommen, und ich glaube, ich wollte es einfach wiedergutmachen, dass ich mir einen so schrecklichen Racheplan überlegt hatte.

Bovrik schien eine Weile ganz nachdenklich und starrte auf die wertvollen Glasaugen in ihrem Behälter. Dann nahm er den Schmetterlingskasten.

Ich streckte die Hand danach aus, weil ich annahm, er wolle ihn mir zurückgeben, doch ehe ich es verhindern konnte, riss er mit einem gequälten Aufschrei den Deckel auf. Im Nu stob eine dichte Wolke schwarz geflügelter Schmetterlinge hervor und legte sich wie ein dunkler, flatternder Staubschleier um seinen Kopf.

»Was macht Ihr da?«, schrie ich. Aber es war zu spät. Ich wagte mich aus Angst vor dem Gift nicht an ihn heran. Bovrik schlug wild nach den aufgeregten Schmetterlingen, zerdrückte sie an Gesicht und Hals, bis ihm die klebrigen Innereien von den Händen tropften, und dann, als ich dachte, schlimmer könne es nicht mehr kommen, schmierte er sich den giftigen Schleim auch noch über den Mund!

»Tartari flammis!«, rief ich und fuhr zurück. »Ihr seid ein Verrückter!«

Bovrik sah zu mir her, sein Gesicht eine groteske, mit Insektenbrei verschmierte Maske. »Wie lange wird es dauern, bis ich tot bin?«, fragte er.

»Nicht lange«, flüsterte ich. »Aber es wird schmerzvoll werden.«

»Sie hat mich ohnehin erledigt«, sagte er kryptisch. »Ich dachte, so ginge es schneller.« In seinem Auge lag ein sonderbarer Blick, fast Triumph. »Niemand soll über mein Schicksal bestimmen!«, sagte er entschieden. Und bevor ich ihn aufhalten konnte, stürmte er zum Fenster und sprang hinaus.

Mir wird jetzt klar, dass ich eine Zeit lang nicht ich selbst gewesen bin – sogar noch vor meinem Aufenthalt in Withypitts Hall. Mein Vater, Du und Ludlow, Ihr habt die ganze Zeit recht gehabt. Rache ist nicht die richtige Lösung. Wäre ich diesen zerstörerischen Weg bis ans Ende weitergegangen, wäre ich jetzt nichts anderes als ein kaltblütiger Mörder. Das war es nicht, was mein Vater für mich im Sinn hatte. Indem ich mich als jemand ausgab, der ich nicht bin, war ich nicht besser als Truepin – egal, wie seine wahre Identität sein mochte und ob er sie überhaupt noch kannte. So geblendet war ich von meiner alles verzehrenden Wut, dass ich nicht sah, dass es nicht der Baron war, den ich fürchten musste; das Rätsel war nicht, was er im Schilde führte, sondern welch böse Pläne Lady Mandible ausheckte.

Aber genug von dieser Geschichte. Ich denke, ich kann endlich die Feder weglegen. Ich bin jetzt an einem anderen Ort, habe neue Freunde, und die Zukunft sieht vielversprechend aus – wenn auch unsicher. Und bald, liebe Polly, werde ich mich wieder auf den Weg zu Dir machen.