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Salve

Dein Freund Hector

Kapitel 36

Aus dem

Nordstadt-Journal

Eine anspruchsvolle Tageszeitung

für den kritischen Leser

Seltsame Vorgänge in Withypitts Hall

von Tarquin Faulkner

Das Mittwinterfest ist in diesem Jahr zu einer unseligen und, man möchte fast sagen, grausigen Angelegenheit für Withypitts Hall geraten. Noch jetzt, nach einer Woche, ist es Stadtgespräch. Nicht nur ist Lord Mandible tot zusammengebrochen (nach einem offenbar brillanten Vortrag auf dem Cembalo), sondern auch Baron Bovrik de Vandolin wurde tot am Fuße seines Turmes gefunden. Es wird vermutet, dass er sich das Leben genommen hat, um einem Prozess zu entgehen. Man hatte ihn des Mordes an Lord Mandible beschuldigt.

Und das ist noch nicht alles. Am selben Abend stürmte eine aggressive Borstenrückensau in den Speisesaal und tötete beziehungsweise verwundete etliche der feiernden Gäste. Höchstwahrscheinlich suchte sie Rache für den Tod (und Verzehr) ihres Partners. Zeugen berichten, Lady Mandible sei als eine der Ersten durch die Hauer des Schweines umgekommen, doch wurde ihre Leiche bis heute nicht gefunden. Andere behaupten, ihr persönlicher Diener habe sich heldenhaft zwischen sie und das Schwein geworfen und ihr das Leben gerettet. Wie dem auch sei, seither wurde keiner der beiden gesehen. Gerüchten zufolge sollen sie auf irgendeine Weise entkommen und aus dem Land geflohen sein. Einer meiner zuverlässigen Informanten – kürzlich aus dem Ausland zurückgekehrt – schwört Stein und Bein, er habe sie am Hof eines europäischen Prinzen gesehen. Leider hat er jedoch keinen Beweis.

Ein letztes Rätsel bleibt: die sechs toten Bediensteten, die man in den frühen Morgenstunden nach dem verhängnisvollen Fest in unterschiedlichen Teilen des Hauses gefunden hat. Sie weisen keinerlei Spuren auf, die darauf hindeuten, dass sie von dem Schwein getötet wurden, doch jeder von ihnen hatte eines der berühmten juwelenbesetzten Glasaugen des Barons in der Hand – zweifellos entwendet nach dessen Tod …

Anmerkung von F. E. Higgins

Auch mich irritierte der Tod der sechs Bediensteten, und ich wünschte, Hector wäre da, um mir bei der Lösung dieses Rätsels helfen zu können! In seiner Abwesenheit ging ich nochmals meine sämtlichen Papiere und Dokumente durch, und nach und nach setzte ich den Ablauf der Ereignisse so zusammen, wie ich ihn mir vorstellen konnte.

Hector hatte gestanden, die Flügel der schwarzen Schmetterlinge mit dem Gift des Waldpilzes Stipitis longi bestäubt zu haben. Er hatte die Pilze mit Mörser und Stößel zerkleinert und dabei Handschuhe getragen.

Stipitis longi ist eng verwandt mit den Lamellenpilzen der Gattung Amanita, zu der einige der tödlichsten Giftpilze der Welt zählen. Als Lysandras Ring aus Hectors Tasche gefallen war (der Ring, den er im Wald gefunden hatte), begriff er, dass auch sie diese Pilze gesammelt haben musste.

Sie hatte das Gift auf den Cembalotasten verteilt, um Mandible zu töten. Percy war zufällig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen. Was Hector aber nicht wusste: Sie hatte das Gift auch auf Bovriks goldenes Auge gestreut, dieses letzte und besondere Auge, das er unbedingt auf dem Fest tragen wollte und um das er ein so großes Getue gemacht hatte. Um wirklich nichts dem Zufall zu überlassen, vergiftete sie auch alle seine anderen Glasaugen. Deshalb lagen sie in verkehrter Reihenfolge in ihrem Kästchen. Und so ist es zum Tod der sechs Bediensteten gekommen. Was für einen hohen Preis sie für ihren Diebstahl zahlen mussten! Lady Mandible lebte, wie wir wissen, nach ihren eigenen Gesetzen, und indem sie den Baron tötete, stellte sie auch noch sicher, dass er sich nicht gegen ihre Mordanklage verteidigen konnte.

Als Hector von seinem Verdacht wegen der Cembalotasten sprach, wusste Bovrik sofort, wer seine Glasaugen durcheinandergebracht hatte. Und die Augenhöhle unter seinem neuen Auge, dem siebten, juckte natürlich längst. Als er begriff, dass er ohnehin sterben würde, ließ er die vergifteten Schmetterlinge frei, in der Hoffnung, den Prozess dadurch zu beschleunigen. Wahrscheinlich dachte er, das Gift über den Mund aufzunehmen würde den Tod schneller eintreten lassen als die allmähliche Aufnahme über das vergiftete Glasauge. Aber mir drängt sich doch der Gedanke auf, dass für den Betrüger Truepin die Vorstellung, von Lady Mandible überlistet worden zu sein, schier unerträglich war. Letzten Endes wollte er selber Herr über sein Schicksal sein, umso mehr, als er sich nun einem so qualvollen Tod gegenübersah – und deshalb sprang er aus dem Fenster.

Ich besitze das siebte Auge, Bovriks golden umrandetes, diamantenbesetztes Prachtstück. Es ist gesprungen und abgenutzt und Gott sei Dank nicht mehr giftig, trotzdem trage ich immer Handschuhe, wenn ich es anfasse. Von all den Dingen, die ich auf meiner Reise von Pagus Parvus nach Urbs Umida und darüber hinaus zusammengetragen habe, fasziniert mich dieses Glasauge immer wieder am meisten.

Diejenigen unter euch, die mich schon seit Beginn meiner Abenteuer begleiten, werden wissen, dass immer noch nicht alle Rätsel gelöst sind. Ich kann auch nicht versprechen, dass es mir gelingen wird, aber ich bin näher dran als je zuvor. Und wenn ihr erfahrt, unter welch ehrwürdigem Dach ich hier schreibe, werdet ihr das verstehen.

F. E. Higgins

Atrium Arcanorum

Postscriptum:

Wenn ihr mehr über Hectors und Ludlows Welt erfahren wollt, lest zuerst Das Schwarze Buch der Geheimnisse, in dem die Geschichte mehr oder weniger begann, und danach Silbertod. Der Band Silbertod ist weder Vorgänger- noch Folgeband – sondern eine Geschichte, die parallel zum ersten Band spielt. Dagegen enthält Das Gift der Schmetterlinge sowohl Elemente aus den beiden vorangegangenen Geschichten als auch völlig eigenständige Rätsel und Geheimnisse.

Anhang I

Lösungen der Rätsel

Das Königreich, in dem Lügen ein Verbrechen war

Der Mann antwortete: »Man wird mich verbrennen.« Das brachte den König so durcheinander, dass er ihn freilassen musste.

Wisst ihr, warum?

Der Gastwirt in der Klemme

In einer dunklen, kalten Nacht

Steh’n vor der Herberg’ Tür

Zehn müde hungrige Wandersleut’

Und bitten um Nachtquartier.

»Neun Zimmer hab ich nur.«

Der Wirt spricht ohn’ Verweilen.

»Für acht von euch je ein eigenes Bett,

Das neunte müssen zwei sich teilen.«

Tumult bricht los,

Der Wirt sieht ein:

Von diesen tapf’ren Männern

Gehn zwei nie in ein Bett hinein!

Schnell hat die Lösung er parat

– was für ein kluger Mann –,

Zu aller Gäst’ Zufriedenheit

Erklärt er seinen Plan.

In Zimmer A führt er zwei Mann,

Den Dritten gleich in B,

Raum C weist er dem Vierten zu,

Dem Fünften Zimmer D.

Raum E bekommt der sechste

Und F der siebte Mann.

Den achten und den neunten steckt er in G und H

Und läuft zurück nach A sodann,

Wo, wie gesagt,

ein Bett für zwei Mann ist gedacht;

Da führt den einen er in Raum I,

schon ist der Zehnte untergebracht.

Neun Einzelzimmer geteilt durch zehn,

Und jeder Mann eines allein!

Doch wie der schlaue Wirt das macht,