Выбрать главу

»Vielleicht haben die Zeitungen recht«, sagte er ruhig. »Vielleicht verdiene ich das ja tatsächlich.«

»Niemand verdient so etwas«, sagte ich hitzig. »Und wer ist denn Gulliver Truepin, dass er über dich richtet?« Ich ballte die Fäuste. »Ich schwöre dir, wenn ich ihn je finde …«

Papa schüttelte den Kopf. »Nein, Gewalt ist nicht die Antwort.« Er streckte die Hand aus und stützte sich Halt suchend an der Wand ab. »Die beste Rache ist es, solche Methoden nicht nachzuahmen.«

»Wie kannst du so etwas sagen?« Ich konnte nicht anders, ich schrie fast. »Du glaubst doch wohl nicht, dass Truepin straflos davonkommen soll?«

Plötzlich stöhnte Vater auf und drückte die Hand an die Brust, dann brach er auf dem Steinboden zusammen. Ich ging sofort neben ihm in die Hocke und bettete seinen Kopf auf meine Knie. Seine Augen waren weit aufgerissen, sein Körper wurde starr und sein Atem ging rasselnd und ungleichmäßig.

»Hector«, sagte er keuchend, »ich habe immer befürchtet, dass man mein Geheimnis eines Tages aufdecken würde. Nur habe ich nicht geahnt, wie schlimm es kommen könnte. Es tut mir so leid – ich habe einen großen Fehler begangen.«

Ich unterdrückte meine Tränen, schüttelte den Kopf und sagte, das sei doch jetzt nicht wichtig. Seine Haut hatte inzwischen einen leicht grünlichen Schimmer angenommen und seine Lippen waren blau. Mühsam griff er nach meinem Arm und zog mich näher zu sich heran, damit ich hören würde, was er zu sagen hatte.

»Für mich ist es zu spät, aber nicht für dich«, flüsterte er. »Gib auf dich acht. Ich weiß, du bist jetzt wütend, aber vergiss nicht, wenn du mit den Wölfen heulst, wirst du selber zum Wolf. Willst du das wirklich?«

»Ich will nur Gerechtigkeit«, schluchzte ich.

Papa lächelte. »Du wirst das Richtige tun, ich weiß es«, hauchte er. Dann verzerrte sich sein Gesicht. Seine Finger schlossen sich krampfartig um meinen Arm. Er stieß einen langen, tiefen Seufzer aus, sein Griff lockerte sich, und da wusste ich, dass er tot war.

Ich saß im trostlos dunklen Schmetterlingshaus und umklammerte den schwarzen Kokon an meinem Hals, bis meine Fingerknöchel weiß wurden. »Dann eben nicht Gerechtigkeit«, murmelte ich, »sondern Rache.«

Salve,

dein Freund Hector

Kapitel 7

Fitchs Waisenhaus für ausgesetzte Babys und verlassene Jungen

Außer Hector gab es keine Trauernden bei Augustus Fitzbaudlys Begräbnis. Der Vikar verzog widerwillig das Gesicht, weil es regnete, er las eine kurze Passage aus der Bibel und flüchtete danach schleunigst unter das schützende Kirchendach – damit hielt er sich mit der Ausübung seiner Pflicht genau an die geringe Summe, die er dafür bekommen hatte. Dem Totengräber fiel es in Ermangelung einer Hilfe schwer, den Sarg im Grab zu versenken. Er murmelte die ganze Zeit griesgrämig vor sich hin, bis Hector schließlich benommen vortrat und mit anfasste. Die billige Holzkiste hatte bereits Risse in den Fugen und kam kaum einen Meter unter der Erde zu liegen. Für eine Einzelgrabstätte hatte Hector kein Geld und so war sein Vater über einem anderen Toten bestattet worden. Während die Erdbrocken polternd auf den Sargdeckel fielen, ging Hector über den Friedhof davon. Er schämte sich zutiefst, dass sein Vater in einem Armengrab liegen musste, und gelobte, diesen schändlichen Zustand so bald wie möglich zu beheben, und wenn er den Sarg eigenhändig ausbuddeln und transportieren müsste.

Hector hatte keine Ahnung, wohin er sich wenden sollte, und es war ihm im Augenblick auch egal. Er ging weiter und weiter, vorbei an den Schnapsläden und Ginleitungen. Ob sie wirklich einmal seinem Vater gehört hatten? Er stieß auf wenig vertrauenerweckende Straßennamen: Fetter’s Gate, Melancholy Lane, Old Goat’s Alley. Es waren Namen, die ihm bald nur zu vertraut werden sollten. Im Dämmerlicht der engen Straßen nahm er überall geschäftiges Treiben wahr. Aber diesmal spürte er weder den Kitzel des Abenteuers, noch empfand er etwas außergewöhnlich Lebendiges in sich; er fühlte sich nur halb tot und voller Angst.

Vor wenigen Stunden hatte er den breiten, gut beleuchteten Straßen und gepflegten Plätzen der Nordstadt endgültig den Rücken gekehrt. Er war an der Reihe glänzender Kutschen vorbeigegangen, die vor Theatern und Restaurants warteten – einst waren hier jeden Abend Fitzbaudly-Weine serviert worden –, und schließlich hatte er wieder die Brücke überquert.

Nun, wo sein Vater tot und begraben war, waren nur noch Fassungslosigkeit und dumpfe Trauer in ihm.

Ohne nach rechts und links zu schauen, trottete er weiter durch die Regenschwaden. Er hörte nicht die fordernden Rufe der Unglücksgestalten ringsum. Er spürte nicht die grapschenden Finger, die an seinem Mantel zerrten. Er achtete nicht einmal darauf, als ihm eine heruntergekommene Gestalt mit wild aufgerissenen Augen und in die Hüften gestemmten Armen entgegentrat. Als der Bettler den verzweifelten Blick in Hectors Augen sah, ließ er die Arme sinken und wandte sich ab. Schließlich sank Hector auf die Stufen eines der baufälligen, rußgeschwärzten Häuser und legte seinen Kopf in die Hände. Er war vollkommen erschöpft und so in Gedanken, dass er nicht hörte, wie hinter ihm die Tür geöffnet wurde. Er spürte nur die knochigen Arme, die ihn fest umschlangen und buchstäblich ins Haus schleiften. Krachend schlug hinter ihm die Tür ins Schloss und Dunkelheit umhüllte ihn.

»Ah, hat uns der gute Herrgott wieder einen geschickt?« Die brüchige Stimme kam von irgendwo dicht neben seinem Kopf. »Keine Angst, Kindchen, wir kümmern uns hier um dich. Haben sie dich einfach in der Kälte stehen lassen?«

Hector gelang es, sich aus dem ungewöhnlich festen Griff der Frau zu befreien (er glaubte jedenfalls, dass es sich um eine Frau handeln müsse – der Stimme nach zu urteilen war er sich allerdings nicht so sicher). Dann drehte er den Kopf, um seine Entführerin anzuschauen. Später, als er sie bei Tageslicht sah, begriff er, dass das Halbdunkel im Haus tatsächlich das freundlichste Licht war, um sie näher in Augenschein zu nehmen. Für den Moment jedoch konnte er gerade so eben eine kleine, verhutzelte Gestalt weiblichen Geschlechts erkennen.

»Ich bin Mrs Fitch«, sagte sie. »Ich weiß Bescheid, wie’s is, wenn man auf den runtergekommenen Straßen von Urbs Umida sitzt. Ich kenn dein Leid. Aber Er, unser Herrgott«, an dieser Stelle bekreuzigte sie sich, »Er hat mich durch ein’ tragischen Unfall vor mir selber gerettet. Hätte beinah ’n schreckliches Verbrechen begangen, aber Er hat mir den rechten Weg gezeigt und mir erlaubt, dass ich’s wiedergutmache. Denk aber bloß nich, dass das so leicht is, ich werd die ganze Zeit auf die Probe gestellt. Und da oben«, sie rollte die Augen in Richtung Zimmerdecke, »da oben sitzt die größte Prüfung von allen. Der arme Ned da oben is nämlich vor der ein’ Tragödie bewahrt worden und gleich drauf in die nächste geschlittert. Der steckt in ei’m nutzlosen Körper.«

»Wo bin ich hier?«, fragte Hector, als Mrs Fitch ihren Redestrom unterbrach, um rasselnd Luft zu holen.

»Na, überhaupt am besten Ort, wo du nur sein kannst: Lottie Fitchs Waisenhaus für ausgesetzte Babys und verlassene Jungs.«

»Aber ich bin nicht verlassen worden«, protestierte Hector. »Mein Vater ist … gestorben.«

»Ah, was für’n Unglück für ein’ so jungen Kerl«, sagte Lottie und drückte ihn noch einmal an sich. »Aber nu mach dir keine Sorgen, wir kümmern uns um dich. Komm mit.«

Hector ließ sich von Mrs Fitch durch den Flur führen. Er folgte ihr die Treppe hinunter in eine geräumige Küche, in der ein langer Tisch und Bänke standen. Dabei sprach sie die ganze Zeit weiter über den Herrgott und ihre guten Taten und erwähnte zwischendurch immer wieder den ›armen Ned da oben‹.

Am Tischende schnitt ein Mädchen Gemüse. Als sie die Schritte hörte, sah sie auf und lächelte.