»Ah, Polly«, sagte Mrs Fitch. »Wir haben ein’ Neuen. Hector. Er braucht was zu essen und vielleicht kannst du ’n Bett für ihn auftreiben. Aber zuerst wollen wir ganz schnell ’n Dankgebet sagen, weil er zu uns gefunden hat und nich auf den gefährlichen Straßen der Stadt umgekommen is.«
Prompt unterbrach Polly das Gemüseschneiden, faltete die Hände und schloss die Augen wie Mrs Fitch und schon schickten beide ein gemurmeltes Stoßgebet zum Allmächtigen empor. Hector, der zwar nicht streng religiös erzogen war, wusste immerhin so viel, dass auch er die Hände ineinanderlegte und mitmurmelte. Mrs Fitch schien hocherfreut. Sie ging aus der Küche und ließ ihn in Pollys Obhut zurück.
In all den Jahren, die Polly schon im Waisenhaus arbeitete, waren viele verlassene Jungen gekommen und gegangen, und alle hatten ihr gleich viel bedeutet, aber dieser Junge hier schien ihr anders. Seine dunklen Haare fielen ihm ins Gesicht und die Augen unter den feuchten Stirnfransen waren schwarz wie Kohlenstücke. Trotz seines nassen, verdreckten Äußeren stand er aufrecht da und sah mit selbstbewusster Neugier um sich. Er war nicht dick, doch sichtlich gut genährt; und er war groß, fast so groß wie sie selbst, trotz des Altersunterschieds, den sie auf fünf, sechs Jahre schätzte. Mit geübtem Blick stellte sie fest, dass seine Ärmelaufschläge bis ans Handgelenk reichten (kein Kind in diesem Haus besaß ein noch passendes Hemd), dass sein Umhang von guter Qualität war und dass seine Schuhe – trotz der Schmutzflecken – vor Kurzem poliert worden waren. Dieser Hector musste bis jetzt ein geordnetes Leben geführt haben. Selbst wenn er es darauf angelegt hätte, stärker hätte er sich nicht von den anderen Jungen im Heim unterscheiden können.
»Willkommen bei Lottie Fitch«, sagte Polly freundlich. »Magst du etwas essen?«
»Ja, bitte«, erwiderte Hector und merkte auf einmal, dass er trotz seiner tiefen Trauer schrecklich hungrig war. Seit dem plötzlichen Tod seines Vaters hatte er kaum etwas zu sich genommen.
Polly brachte einen Teller mit Brot und Schinken, dazu einen großen Krug Milch, und stellte beides vor ihn hin. Während er aß, schnitt sie ihr Gemüse weiter, versorgte nebenbei das Feuer und beobachtete ihn verstohlen. »Du bist nicht von der Südseite?«, sagte sie schließlich. Es war mehr eine Feststellung als eine Frage.
Hector schüttelte den Kopf. »Nein. Und du hörst dich an, als kämst du überhaupt von außerhalb der Stadt.«
Polly nickte. »Ich komme aus einem Dorf aus den Moira-Bergen, es heißt Pagus Parvus. In Urbs Umida wollte ich mir Arbeit suchen, aber es war nicht so leicht, wie ich gedacht hatte. Zum Glück bin ich Mrs Fitch über den Weg gelaufen.«
Damit sind wir zu zweit, dachte Hector, während er sein Brot aufaß. »Hast du eine Serviette?«, fragte er.
Polly lachte. »Nimm deinen Ärmel. So machen wir’s auch. Das spart Wäsche.« Mit der Messerklinge streifte sie alles Gemüse in einen Topf und wischte sich dann die Hände an der Schürze ab. »Komm, wir schauen mal nach einem Bett für dich«, sagte sie. »Du siehst müde aus.«
Polly nahm zwei Kerzen, eine für sich, eine für Hector, und führte ihn die Treppe hinauf. Es war dunkel und in Pollys Schatten ließ sich kaum etwas erkennen.
»Keine Gaslampen?«, fragte er.
Polly schüttelte den Kopf. »Du wirst merken, dass hier manches anders ist«, sagte sie, als sie auf dem Treppenabsatz waren. »Und mach dir nichts aus den Geräuschen von dort oben.« Sie blickte zum Dachboden hin. »Das ist nur Ned.«
»Der ›arme Ned da oben‹?«
»Ja, Mrs Fitchs Ehemann. Er liegt im Bodenzimmer. Vor ein paar Jahren, mitten im Winter, ist er in den Foedus gefallen. Sie haben ihn rausgezogen, aber er hat sich nie ganz davon erholt. Das Flusswasser hat ihn vergiftet und jetzt liegt er Tag und Nacht im Bett. Mrs Fitch sagt, das ist seine Strafe für die Sünden, die sie beide begangen haben.«
»Welche Sünden?«
Polly zog die Schultern hoch. »Ich glaube, es hat mit ihrem Sohn Ludlow zu tun. Seit Jahren hat ihn keiner gesehen. Und das Komische ist, er hat eine Weile in Pagus Parvus gewohnt, damals, als ich dort war. Ich vermute, dass die Fitchs ihn schlecht behandelt haben, aber er hat mir nie erzählt, warum er aus Urbs Umida weggegangen ist. Jetzt hat Mrs Fitch immerzu Visionen, die ihr eingeben, dass sie Kinder retten muss. Fast jeden Tag. Botschaften von oben, sagt sie, und von denen lässt sie sich leiten.«
Polly schob den Riegel einer niedrigen Tür zurück. Die Tür war gerade mal so groß wie Hector. Sie wird sich beim Eintreten bücken müssen, dachte er.
»Die anderen Zimmer sind im Moment besetzt«, sagte Polly fast entschuldigend. »Auf ein Bett kommen drei Kinder. Fürs Erste wirst du dich hier wohler fühlen.«
Hector trat in das dunkle Zimmer und streckte die Kerze weit von sich. Im Licht der Flamme sah er, dass der Raum kaum mehr als eine Nische unter der Treppe war.
Ehe er sich zurückhalten konnte, rief er: »Beim Jupiter!« (Ein beliebter klassischer Ausruf seines Hauslehrers.) »Ist das winzig!«
Polly zog verständnisvoll die Augenbrauen hoch. »Aber warm.«
Hector versuchte ein Lächeln. Egal, wie groß oder wie klein, es war mit Sicherheit besser als zu dritt in einem Bett. »Danke«, sagte er leise.
»Du wirst dich bestimmt daran gewöhnen.«
Hoffentlich werde ich nicht lange genug hier sein, um mich daran zu gewöhnen, dachte er. Plötzlich spürte er eine unbeschreibliche Sehnsucht nach seinem eigenen Schlafzimmer und nach seinem Vater.
»Zum Frühstück wird geläutet«, erklärte Polly hilfsbereit. »Hinterher erledigt jeder seine Arbeit, und danach musst du versuchen, draußen Geld zu verdienen.«
»Für Mrs Fitch?«, fragte Hector.
Sie zwinkerte. »Mrs Fitch nimmt etwas, klar. Aber sie kann nur nehmen, wovon sie weiß.«
Hector lachte. Polly machte ein nachdenkliches Gesicht. »Weißt du, Hector, die Jungs hier … also, sie sind ja wirklich gutherzig, aber sie sind alle Südstädter. Und du, wo du doch aus dem Norden kommst … na ja, du musst vielleicht damit rechnen, dass …«
»Du meinst, sie werden mich nicht mögen wegen meiner Herkunft?«, ergänzte er.
»Hmm … ja. Am Anfang zumindest.« Sie ging zur Treppe und legte ihre Hand auf das Geländer. »Aber irgendwie wirst du’s überstehen, denke ich«, sagte sie grinsend. Dann stieg sie hinab in die Dunkelheit.
Hector stellte die Kerze neben die Matratze auf den Boden und zog die Tür hinter sich zu. Er breitete die Arme aus und stellte fest, dass er Wand und Tür gleichzeitig berühren konnte. Die Mauer fühlte sich warm an. Aber natürlich!, dachte er. Dahinter musste der Schornstein sein, und unten in der Küche hatte Mrs Fitch wahrscheinlich den ganzen Tag das Feuer brennen. Er stellte seine Tasche auf den Boden neben sich und streckte sich auf der Matratze aus. Er gähnte herzhaft und tastete nach dem Kokon an seinem Hals. An ihm fand er in diesen Tagen immer wieder Trost. Dann dachte er, wie jeden Abend, seit seine Probleme angefangen hatten, an Gulliver Truepin. Er bezweifelte stark, dass der jetzt auch unter irgendeiner Treppe schlafen musste.
»Warte nur, bis ich dich finde, Truepin«, schwor Hector wieder einmal. »Dann zahlst du für das, was du getan hast.«
Kapitel 8
Metamorphose
Hector hatte recht. Während er sich in dem schrankartigen Gelass unter der Treppe einrichtete, stand zur gleichen Zeit sein einäugiger Feind in einer eleganten Pension nördlich des Foedus und betrachtete sich im Spiegel eines sehr viel größeren Zimmers. Wieder lagen auf der Bettdecke – in diesem Haus war sie allerdings aus Seide – eine Anzahl Kleidungsstücke ausgebreitet, nur waren sie diesmal von den besten Schneidern und Ausstattern der Stadt geliefert worden. Westen und Kniehosen, Hemden, Kragen und Manschetten, Strümpfe und Taschentücher – alles, was für die Garderobe eines Gentlemans nötig war. Viele Stücke waren aus Samt, der geradezu danach verlangte, gestreichelt zu werden (was Truepin auch tat), es gab Satin und Seide, Filz und Leinen, alles handgenäht. Und welch herrliche Farben – Scharlach- und Magentarot, Indigoblau und Malvenfarben, Lila und Golden und ein ganz besonders hübsches Olivgrün.