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Wenn wir den Versuch machen, Knechts Leben nachzuzeichnen, so machen wir damit auch einen Versuch zu seiner Deutung, und wenn wir als Historiker es tief bedauern müssen, daß über den letzten Teil dieses Lebens beinahe alle wirklich verbürgten Nachrichten fehlen, so gab uns doch gerade der Umstand zu unserem Unternehmen Mut, daß dieser letzte Teil von Knechts Leben Legende geworden ist. Wir übernehmen diese Legende und sind mit ihr einverstanden, einerlei, ob sie nur fromme Dichtung sei oder nicht. So wie wir von Knechts Geburt und Herkunft nichts wissen, wissen wir von seinem Ende nichts. Wir haben aber nicht die mindeste Berechtigung zu der Annahme, dieses Ende könnte ein zufälliges gewesen sein. Wir sehen sein Leben, soweit es bekannt ist, in klarer Stufenfolge aufgebaut, und wenn wir in unsern Vermutungen über sein Ende uns willig der Legende anschließen und sie gläubig übernehmen, so tun wir es, weil uns das, was die Legende berichtet, als letzte Stufe dieses Lebens völlig den vorhergegangenen zu entsprechen scheint. Wir gestehen sogar, daß das Entschweben dieses Lebens in die Legende uns organisch und richtig scheint, so wie uns das Fortbestehen eines Gestirns, das unsern Augen entschwindet und für uns »untergegangen« ist, keinerlei Glaubensskrupel schafft. Josef Knecht hat innerhalb der Welt, in der wir, Autor und Leser dieser Aufzeichnungen, leben, das denkbar Höchste erreicht und geleistet, indem er als Magister Ludi Führer und Vorbild der geistig Kultivierten und geistig Strebenden war, vorbildlich hat er das überkommene geistige Erbe verwaltet und vermehrt, Hohepriester eines Tempels, der jedem von uns heilig ist. Er hat aber den Bezirk eines Meisters, den Platz in der obersten Spitze unsrer Hierarchie, nicht bloß erreicht und innegehabt; er hat ihn durchschritten, er ist ihm entwachsen in eine Dimension, welche wir nur ehrerbietig zu ahnen vermögen, und eben darum scheint es uns vollkommen angemessen und seinem Leben entsprechend, daß auch seine Biographie die üblichen Dimensionen überschritten hat und am Ende in Legende übergegangen ist. Wir nehmen das Wunderbare dieser Tatsache hin und freuen uns des Wunderbaren, ohne allzuviel daran deuten zu wollen. Soweit Knechts Leben aber Historie ist, und das ist es bis zu einem ganz bestimmten Tage, wollen wir es als solche behandeln und haben uns darum bemüht, die Überlieferung genau so weiterzugeben, wie sie sich unsern Forschungen dargeboten hat.

Aus seiner Kindheit, das heißt aus der Zeit vor seiner Aufnahme in die Eliteschulen, wissen wir nur eine einzige Begebenheit, es ist jedoch eine wichtige und eine von symbolischer Bedeutung, denn sie bedeutet den ersten großen Anruf des Geistes an ihn, den ersten Akt seiner Berufung, und es ist bezeichnend, daß dieser erste Anruf nicht von seiten der Wissenschaft kam, sondern von seiten der Musik. Wir verdanken dies Stückchen Biographie, wie beinahe alle Erinnerungen aus Knechts persönlichem Leben, den Aufzeichnungen eines Glasperlenspiel-Schülers, eines treuen Verehrers, der viele Aussprüche und Erzählungen seines großen Lehrers aufgeschrieben hat.

Knecht muß damals etwa zwölf oder dreizehn Jahre alt gewesen sein und war Lateinschüler in dem Städtchen Berolfingen am Rande des Zaberwaldes, das vermutlich auch sein Geburtsort gewesen ist. Zwar war der Knabe schon längere Zeit Stipendiat der Lateinschule und war vom Lehrerkollegium, am eifrigsten vom Musiklehrer, schon zwei- oder dreimal der obersten Behörde zur Aufnahme in die Eliteschulen empfohlen worden, aber er wußte davon nichts und hatte noch keinerlei Begegnung mit der Elite oder gar mit den Meistern der obersten Erziehungsbehörde erlebt. Da wurde ihm von seinem Musiklehrer (er lernte damals Violine und Laute) mitgeteilt, es werde in Bälde vielleicht der Musikmeister nach Berolfingen kommen, um den Musikunterricht an der Schule zu inspizieren, Josef möge also brav üben und sich und seinen Lehrer nicht in Verlegenheit bringen. Die Nachricht erregte den Knaben aufs tiefste, denn natürlich wußte er genau, wer der Musikmeister sei und daß er nicht nur, wie etwa die zweimal jährlich erscheinenden Schulinspektoren, aus irgendeiner der höheren Regionen der Erziehungsbehörde komme, sondern einer der zwölf Halbgötter, einer der zwölf obersten Leiter dieser ehrwürdigsten Behörde und für das ganze Land die oberste Instanz in allen musikalischen Angelegenheiten sei. Der Musikmeister selbst, der Magister Musicae in Person, würde also nach Berolfingen kommen! Es gab in der Welt nur eine einzige Person, welche dem Knaben Josef vielleicht noch sagenhafter und geheimnisvoller gewesen wäre: der Glasperlenspielmeister. Für den angekündigten Musikmeister erfüllte ihn im voraus eine ungeheure und ängstliche Ehrfurcht, er stellte sich diesen Mann bald wie einen König, bald wie einen Zauberer vor, bald wie einen der zwölf Apostel oder einen der sagenhaften großen Künstler der klassischen Zeiten, etwa einen Michael Prätorius, einen Claudio Monteverdi, einen J. J. Froberger oder Johann Sebastian Bach – und er freute sich ebenso tief auf den Augenblick, da dies Gestirn erscheinen würde, wie er sich vor ihm fürchtete. Daß einer der Halbgötter und Erzengel, daß einer der geheimnisvollen und allmächtigen Regenten der geistigen Welt hier im Städtchen und in der Lateinschule leibhaftig erscheinen, daß er ihn sehen sollte, daß der Meister ihn vielleicht anreden, ihn prüfen, ihn tadeln oder loben sollte, das war eine große Sache, war eine Art Wunder und seltne Himmelserscheinung; auch geschah es, wie die Lehrer versicherten, seit Jahrzehnten zum erstenmal, daß ein Magister Musicae in eigener Person die Stadt und die kleine Lateinschule besuchte. Der Knabe dachte sich das Bevorstehende in vielen Bildern aus, er dachte sich vor allem eine große öffentliche Festlichkeit und einen Empfang, wie er ihn einmal beim Amtsantritt des neuen Bürgermeisters erlebt hatte, mit Blechmusik und beflaggten Straßen, vielleicht sogar mit Feuerwerk, und auch Knechts Kameraden hatten solche Vorstellungen und Hoffnungen. Seine Vorfreude wurde nur durch den Gedanken gedämpft, daß er selber vielleicht diesem großen Mann allzu nahe kommen und vor ihm, dem großen Kenner, mit seiner Musik und mit seinen Antworten sich ganz unerträglich blamieren könne. Aber diese Angst war nicht nur quälend, sie war auch süß, und ganz heimlich und uneingestanden fand er doch das ganze erwartete Fest samt Flaggen und Feuerwerk lange nicht so schön, so aufregend, wichtig und trotz allem wunderbar freudig wie eben den Umstand, daß er, der kleine Josef Knecht, diesen Mann aus nächster Nähe sehen sollte, ja daß jener ein klein wenig auch seinetwegen, Josefs wegen, diesen Besuch in Berolfingen mache, denn er kam ja, um den Musikunterricht zu prüfen, und der Musiklehrer hielt es offenbar für möglich, daß er auch ihn prüfen werde.