Выбрать главу

Knecht hat viele Jahre später seinem Schüler erzählt: als er aus dem Hause trat, fand er die Stadt und die Welt viel mehr verwandelt und verzaubert, als wenn Fahnen und Kränze, Bänder und Feuerwerke sie geschmückt hätten. Er hatte den Vorgang der Berufung erlebt, den man recht wohl ein Sakrament nennen darf: das Sichtbarwerden und einladende Sichöffnen der idealen Welt, welche bis dahin dem jungen Gemüt nur teils vom Hörensagen, teils aus glühenden Träumen bekannt gewesen war. Diese Welt existierte nicht nur irgendwo in der Ferne, in der Vergangenheit oder Zukunft, nein, sie war da und war aktiv, sie strahlte aus, sie schickte Sendboten, Apostel, Gesandte aus, Männer wie diesen alten Magister, der übrigens, wie es Josef scheinen wollte, eigentlich doch gar nicht so sehr alt war. Und aus dieser Welt, durch einen dieser ehrwürdigen Sendboten, war auch an ihn, den kleinen Lateinschüler, Mahnung und Ruf ergangen! Diese Bedeutung hatte das Erlebnis für ihn, und es dauerte Wochen, bis er wirklich wußte und überzeugt war, daß dem magischen Vorgang jener geweihten Stunde auch ein exakter Vorgang in der realen Welt entsprach, daß die Berufung nicht bloß eine Beglückung und Mahnung in seiner eigenen Seele und seinem Gewissen, sondern auch eine Gabe und Mahnung der irdischen Mächte an ihn war. Denn auf die Dauer konnte es nicht verborgen bleiben, daß der Besuch des Musikmeisters weder ein Zufall noch eine wirkliche Schulinspektion gewesen war. Sondern Knechts Name hatte schon seit längerer Zeit, auf Grund von Berichten seiner Lehrer, auf den Listen der Schüler gestanden, welche einer Erziehung in den Eliteschulen würdig schienen oder doch der obersten Behörde hiezu empfohlen waren. Da dieser Knabe Knecht nicht nur als Lateiner und als angenehmer Charakter gelobt, sondern auch noch speziell von seinem Musiklehrer empfohlen und gerühmt wurde, hatte es der Musikmeister auf sich genommen, bei Gelegenheit einer Amtsreise sich ein paar Stunden Zeit für Berolfingen zu nehmen und sich diesen Schüler anzusehen. Dabei war es ihm nicht so sehr auf das Latein und nicht so sehr auf die Fingerfertigkeit angekommen (hierin verließ er sich auf die Zeugnisse der Lehrer, deren Studium er immerhin eine Stunde gönnte) als darauf, ob dieser Knabe in seinem ganzen Wesen das Zeug zum Musikanten im höhern Sinn habe, zur Begeisterung, zum Sicheinordnen, zur Ehrfurcht, zum Dienst am Kultus. Im allgemeinen waren aus guten Gründen die Lehrer an den öffentlichen höhern Schulen nichts weniger als freigebig mit Empfehlungen von Schülern für die »Elite,« immerhin kamen etwa einmal Begünstigungen aus mehr oder weniger unlautern Absichten vor, und nicht selten empfahl auch ein Lehrer aus Mangel an Blick hartnäckig irgendeinen Lieblingsschüler, der außer Fleiß, Ehrgeiz und klugem Verhalten gegen die Lehrer wenig Vorzüge hatte. Gerade diese Art war dem Musikmeister besonders zuwider, er hatte den Blick dafür, ob ein Prüfling sich dessen bewußt war, daß es jetzt um seine Zukunft und Laufbahn gehe, und wehe dem Schüler, der ihm allzu geschickt, allzu bewußt und klug begegnete oder gar ihm zu schmeicheln versuchte, er war in manchen Fällen schon verworfen, noch ehe eine Prüfung begonnen hatte.

Der Schüler Knecht nun hatte dem alten Musikmeister gefallen, sehr gut hatte er ihm gefallen, noch auf der Weiterreise dachte er vergnügt an ihn zurück; er hatte sich keinerlei Notizen und Zeugnisse über ihn ins Heft geschrieben, sondern nahm die Erinnerung an den frischen, bescheidenen Knaben mit sich und schrieb nach der Rückkehr mit eigener Hand seinen Namen in die Liste der Schüler, welche von einem Mitglied der obersten Behörde selbst geprüft und der Aufnahme würdig befunden waren.

Von dieser Liste – sie hieß unter den Lateinschülern »das goldene Buch,« es gab gelegentlich für sie aber auch die respektlose Bezeichnung »Streberkatalog« – hatte Josef in der Schule gelegentlich reden hören, und in ganz verschiedenen Tonarten. Wenn ein Lehrer diese Liste erwähnte, und sei es nur, um einem Schüler vorzuhalten, daß ein Bursche wie er natürlich niemals daran denken könne, es so weit zu bringen, dann war etwas von Feierlichkeit, von Respekt und auch von Wichtigtuerei in seinem Ton. Sprachen aber die Schüler einmal vom Streberkatalog, dann taten sie es meistens auf schnoddrige Art und mit etwas übertriebener Gleichgültigkeit. Einmal hatte Josef einen Schüler sagen hören: »Ach was, ich spucke euch auf diesen blöden Streberkatalog! Wer ein Kerl ist, der kommt nicht dort hinein, darauf kann man sich verlassen. Dorthin schicken die Lehrer bloß die allerdicksten Schanzer und Kriecher.«

Es folgte eine merkwürdige Zeit auf das schöne Erlebnis. Er wußte vorerst nichts davon, daß er jetzt zu den »electi,« zur »flos juventutis« gehöre, wie im Orden die Eliteschüler heißen; er dachte zunächst keineswegs an praktische Folgen und spürbare Auswirkungen des Erlebnisses in seinem Schicksal und Alltag, und während er für seine Lehrer schon ein Ausgezeichneter und Abschiednehmender war, erlebte er selbst seine Berufung beinahe nur als einen Vorgang im eigenen Innern. Auch so war es ein scharfer Einschnitt in seinem Leben. Wenn auch die Stunde mit dem Zaubermann in seinem Herzen schon Geahntes erfüllte oder näherrückte, es war dennoch durch eben jene Stunde das Gestern vom Heute, das Gewesene vom Jetzigen und Kommenden deutlich getrennt, so wie ein aus dem Traum Erweckter auch dann, wenn er in derselben Umgebung aufwacht, die er im Traum gesehen hat, an seinem Wachsein nicht zweifeln kann. Es gibt viele Arten und Formen der Berufung, der Kern und Sinn des Erlebnisses aber ist immer derselbe: es wird die Seele dadurch erweckt, verwandelt oder gesteigert, daß statt der Träume und Ahnungen von innen plötzlich ein Anruf von außen, ein Stück Wirklichkeit dasteht und eingreift. Hier nun war das Stück Wirklichkeit die Gestalt des Meisters gewesen: der nur als ferne, ehrwürdig halbgöttliche Figur gekannte Musikmeister, ein Erzengel aus dem obersten der Himmel, war leibhaftig erschienen, hatte allwissende blaue Augen gehabt, hatte auf einem Stühlchen am Übungsklavier gesessen, hatte mit Josef musiziert, wunderbar musiziert, hatte ihm beinahe ohne Worte gezeigt, was eigentlich Musik sei, hatte ihn gesegnet und war wieder verschwunden. Was alles daraus vielleicht folgen und sich ergeben könne, darüber nachzusinnen war Knecht vorerst gar nicht fähig, weil er vom unmittelbaren, inneren Nachhall des Ereignisses viel zu sehr erfüllt und beschäftigt war. Wie eine junge Pflanze, die bisher still und zögernd sich entwickelte, plötzlich heftiger zu atmen und zu wachsen beginnt, als sei ihr in einer Stunde des Wunders mit einemmal das Gesetz ihrer Gestalt bewußt geworden und sie strebe nun innig nach seiner Erfüllung, so begann der Knabe, nachdem ihn die Hand des Zauberers berührt, rasch und sehnlich seine Kräfte zu sammeln und anzuspannen, fühlte sich verändert, fühlte sich wachsen, fühlte neue Spannungen, neue Harmonien zwischen sich und der Welt, konnte zu manchen Stunden in der Musik, im Latein, in der Mathematik Aufgaben bewältigen, die seinem Alter und seinen Kameraden noch fernlagen, und sich dabei zu jeder Leistung fähig fühlen, und konnte in anderen Stunden alles vergessen und mit einer ihm neuen Weichheit und Hingabe träumen, dem Wind oder Regen zuhören, in eine Blume oder ins ziehende Flußwasser starren, nichts begreifend, alles ahnend, hingenommen von Sympathie, von Neugierde, von Verstehenwollen, fortgezogen vom eigenen Ich zum anderen, zur Welt, zum Geheimnis und Sakrament, zum schmerzlich-schönen Spiel der Erscheinungen.