Auch heute blickten sie wie immer, nur sehr hell und wie scharfgeschliffen in der straffen, dünnen Luft, aber er fand nicht die Ruhe in sich, sich ihnen hinzugeben, es zog aus unbekannten Räumen her eine Macht an ihm, schmerzte in den Poren, sog an den Augen, wirkte still und stetig, ein Strom, eine warnende Bebung. Nebenan in der Hütte glomm trübrot das warme schwache Licht der Herdglut, floß das kleine warme Leben, klang ein Zuruf, ein Lachen, ein Gähnen, atmete Menschengeruch, Hautwärme, Mütterlichkeit, Kinderschlaf, und schien durch seine harmlose Nähe die angebrochene Nacht noch zu vertiefen, die Sterne noch weiter zurück in die unbegreifliche Ferne und Höhe zu treiben.
Und jetzt, während Knecht in der Hütte drinnen die Stimme Adas, ein Kind beruhigend, melodisch tief sumsen und brummen hörte, begann am Himmel die Katastrophe, deren das Dorf noch jahrelang gedenken sollte. Es trat in dem stillen blanken Netz der Sterne da und dort ein Flimmern und Flackern ein, als zuckten die sonst unsichtbaren Fäden dieses Netzes flammend auf, es fielen, wie Steine geworfen, aufglühend und rasch wieder erlöschend, einzelne Sterne schräg durch den Raum, hier einer, dort zwei, hier ein paar, und noch hatte das Auge den ersten entschwundenen Fallstern nicht losgelassen, noch hatte das Herz, vom Anblick versteinert, nicht wieder zu schlagen begonnen, da jagten sich die schräg und in leicht gekrümmter Linie durch den Himmel fallenden oder geschleuderten Lichter schon in Schwärmen von Dutzenden, von Hunderten, in unzählbaren Scharen trieben sie wie von einem stummen Riesensturm getragen quer durch die schweigende Nacht, als habe ein Weltenherbst alle Sterne wie welke Blätter vom Himmelsbaum gerissen und jage sie lautlos dahin, ins Nichts. Wie welke Blätter, wie wehende Schneeflocken flohen sie. Tausende und Tausende, in schauerlicher Stille dahin und hinab, hinter den südöstlichen Waldbergen verschwindend, wo noch niemals seit Menschengedenken ein Stern untergegangen war, irgendwohin ins Bodenlose hinab.
Erstarrten Herzens, mit flimmernden Augen stand Knecht, den Kopf in den Nacken gedrückt, entsetzten und doch unersättlichen Blicks in den verwandelten und verwunschenen Himmel schauend, seinen Augen mißtrauend und doch des Schrecklichen nur allzu gewiß. Wie alle, denen dieser nächtliche Anblick geworden war, glaubte er die wohlbekannten Sterne selbst wanken, dahinstieben und hinabstürzen zu sehen und erwartete das Gewölbe, falls nicht vorher die Erde ihn verschlänge, in Bälde schwarz und ausgeleert zu sehen. Nach einer Weile freilich erkannte er, was andere zu erkennen nicht fähig waren, daß die wohlbekannten Sterne hier und dort und überall noch vorhanden waren, daß das Sterngestiebe nicht unter den alten, vertrauten Sternen ein schreckliches Wesen trieb, sondern im Zwischenraum zwischen Erdboden und Himmel, und daß diese fallenden oder geworfenen, neuen, so schnell erscheinenden und so schnell schwindenden Lichter in einem etwas anders gefärbten Feuer glühten als die alten, die richtigen Sterne. Dies war ihm tröstlich und half ihm sich wiederfinden, aber mochten das nun auch neue, vergängliche, andre Sterne sein, deren Gestöber die Luft erfüllte: grausig und böse, Unheil und Unordnung war es doch, tiefe Seufzer aus Knechts vertrockneter Kehle. Er blickte erdwärts, er horchte umher, um zu erfahren, ob ihm allein dies geisterhafte Schauspiel erscheine oder ob auch andre es sähen. Bald hörte er von anderen Hütten her Stöhnen, Kreischen und Ausrufe des Schreckens; auch andre hatten es gesehen, hatten es weitergeschrien, hatten die Ahnungslosen und die Schläfer alarmiert, im Nu würde Angst und Panik das ganze Dorf ergriffen haben. Tief aufseufzend nahm es Knecht auf sich. Ihn vor allen andern traf es, dies Unglück, ihn, den Regenmacher; ihn, der gewissermaßen verantwortlich war für die Ordnung am Himmel und in den Lüften. Noch immer hatte er große Katastrophen voraus erkannt oder gespürt: Überschwemmung, Hagel, große Stürme, hatte jedesmal die Mütter und Ältesten vorbereitet und gewarnt, hatte das Ärgste verhütet, hatte sich, sein Wissen und seinen Mut und sein Vertrauen zu den oberen Mächten zwischen das Dorf und die Verzweiflung gestellt. Warum hatte er diesmal nichts vorausgewußt und angeordnet? Warum hatte er von dem dunkeln, warnenden Vorgefühl, das er allerdings gehabt, keinem Menschen ein Wort gesagt?
Er lüpfte die Matte des Hütteneingangs und rief leise den Namen seiner Frau. Sie kam, ihr Jüngstes an der Brust, er nahm ihr das Kleine ab und legte es auf die Streu, er nahm Adas Hand, legte einen Finger auf die Lippen, Schweigen fordernd, führte sie aus der Hütte und sah, wie alsbald ihr geduldig stilles Gesicht von Angst und Schrecken entstellt wurde.
»Die Kinder sollen schlafen, sie sollen das nicht sehen, hörst du?« flüsterte er heftig. »Du darfst keines herauslassen, auch Turu nicht. Und auch du selber bleibst drinnen.«
Er zögerte, ungewiß, wieviel er sagen, wieviel von seinen Gedanken er verraten solle, und fügte dann mit Festigkeit hinzu: »Es wird dir und den Kindern nichts geschehen.«
Sie glaubte es ihm alsbald, obwohl damit ihr Gesicht und Gemüt noch nicht wieder vom erlittenen Schrecken genesen war.
»Was ist es denn?« fragte sie, wieder an ihm vorbei in den Himmel starrend. »Ist es sehr schlimm?«
»Es ist schlimm,« sagte er sanft, »ich glaube wohl, daß es sehr schlimm ist. Aber es gilt nicht dir und den Kleinen. Bleibet in der Hütte, halte die Matte gut geschlossen. Ich muß zu den Leuten, mit ihnen reden. Geh hinein, Ada.«
Er drängte sie durch das Hüttenloch, zog die Matte sorgfältig zu, stand noch einige Atemzüge lang, das Gesicht dem fortdauernden Sternregen zugewandt, dann senkte er den Kopf, seufzte nochmals aus schwerem Herzen und ging nun schnell dorfeinwärts durch die Nacht, zur Hütte der Ahnmutter.
Hier war das halbe Dorf schon versammelt, in einem gedämpften Getöse, einem durch die Angst gelähmten und halb unterdrückten Taumel von Schrecken und Verzweiflung. Es gab Weiber und Männer, welche sich dem Gefühl von Entsetzen und Untergangsnähe mit einer Art von Wut und Wollust hingaben, die wie Verzückte steif standen oder mit unbeherrschten Gliedern um sich fuchtelten, eine hatte Schaum vor dem Munde, tanzte für sich allein einen verzweifelten und zugleich obszönen Tanz und riß sich dabei die langen Haare in ganzen Büscheln aus. Knecht sah: es war alles schon im Gange, sie waren schon beinahe alle an den Rausch verloren, von den fallenden Sternen behext und verrückt gemacht, es würde vielleicht eine Orgie von Irrsinn, Wut und Selbstvernichtungslust geben, es war höchste Zeit, die paar Mutigen und Besonnenen zu sammeln und zu stärken. Die uralte Ahnmutter war ruhig; sie glaubte das Ende aller Dinge gekommen, wehrte sich aber nicht dagegen und zeigte dem Schicksal ein festes, hartes, in seiner herben Gekniffenheit beinah spöttisch aussehendes Gesicht. Er brachte sie dazu, ihn anzuhören. Er versuchte ihr zu demonstrieren, daß die alten, die immer dagewesenen Sterne noch vorhanden seien, doch vermochte sie das nicht aufzunehmen, sei es, daß ihre Augen die Kraft nicht mehr hatten, es zu erkennen, sei es, daß ihre Vorstellung von den Sternen und ihr Verhältnis zu ihnen von denen des Regenmachers allzu verschieden waren, als daß man einander hätte verstehen können. Sie schüttelte den Kopf und behielt ihr tapferes Grinsen bei, und als Knecht sie nun beschwor, die Leute in ihrem Angstrausch nicht sich selber und den Dämonen zu überlassen, war sie sogleich einverstanden. Es bildete sich um sie und den Wettermacher eine kleine Gruppe von geängstigten, aber nicht verrückt gewordenen Menschen, die bereit waren, sich führen zu lassen.