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Noch im Augenblick vor seinem Eintreffen hatte Knecht gehofft, der Panik durch Vorbild, Vernunft, Rede, Erklärung und Zuspruch steuern zu können. Schon das kurze Gespräch mit der Ahnfrau belehrte ihn, daß es dafür zu spät sei. Er hatte gehofft, die andern an seinem eignen Erlebnis teilhaben lassen, es ihnen zum Geschenk machen und auf sie übertragen zu können, er hatte gehofft, unter seinem Zuspruch würden sie vor allem einsehen, daß nicht die Sterne selber, oder doch nicht alle, herunterfielen und vom Weltsturm davongetragen würden, und damit, daß sie vom hilflosen Schrecken und Staunen zum tätigen Beobachten fortschritten, würden sie der Erschütterung standhalten können. Aber es wären, das sah er schnell, im ganzen Dorf nur sehr wenige dieser Beeinflussung zugänglich gewesen, und bis man auch nur sie gewonnen hätte, wären die andern vollends ganz dem Irrsinn verfallen. Nein, es war hier, wie so oft, mit der Vernunft und den klugen Worten gar nichts zu erreichen. Zum Glück gab es andre Mittel. Wenn es unmöglich war, die Todesangst aufzulösen, indem man sie mit Vernunft durchsetzte, so war es doch möglich, die Todesangst zu leiten, zu organisieren, ihr Form und Gesicht zu geben und aus dem hoffnungslosen Durcheinander von Tollgewordenen eine feste Einheit, aus den unbeherrschten wilden Einzelstimmen einen Chor zu machen. Alsbald setzte es Knecht ins Werk, alsbald schlug das Mittel an. Er trat vor die Leute, schrie die wohlbekannten Gebetsworte, mit welchen sonst die öffentlichen Trauer- und Bußübungen eröffnet wurden, die Totenklage um eine Ahnfrau oder das Opfer- und Bußfest bei öffentlichen Gefahren wie Seuchen und Überschwemmung. Er schrie die Worte im Takt und unterstützte den Takt durch Händeklatschen, und im selben Takt, schreiend und händeklatschend, bückte er sich bis fast zum Erdboden, erhob sich wieder, bückte sich wieder, erhob sich, und schon machten zehn und zwanzig andere die Bewegungen mit, die greise Dorfmutter stand, murmelte rhythmisch und deutete mit kleinen Verneigungen die rituellen Bewegungen an. Wer noch von den anderen Hütten her sich einfand, ordnete sich ohne weiteres in den Takt und Geist der Zeremonie ein, die paar ganz Besessenen brachen entweder bald mit erschöpften Kräften zusammen und lagen regungslos, oder sie wurden vom Chorgemurmel und Verneigungsrhythmus der gottesdienstlichen Handlung bezwungen und mitgerissen. Es war gelungen. Statt einer verzweifelten Horde von Verrückten stand da ein Volk von Opfer- und bußgewillten Andächtigen, deren jedem es wohltat und das Herz stärkte, seine Todesfurcht und sein Entsetzen nicht in sich zu verschließen oder für sich allein hinauszubrüllen, sondern im geordneten Chor der vielen, taktmäßig, sich einer beschwörenden Zeremonie einzuordnen. Viele geheime Mächte sind in einer solchen Übung wirksam, ihr stärkster Trost ist die Gleichförmigkeit, das Gemeinschaftsgefühl verdoppelnd, und ihre unfehlbarste Arznei ist Maß und Ordnung, ist Rhythmus und Musik.

Während noch immer der ganze Nachthimmel vom Heer der fallenden Sternschnuppen wie von einer lautlos stürzenden Kaskade aus Lichttropfen bedeckt war, welche wohl zwei Stunden lang weiter ihre großen rötlichen Feuertropfen verschwendete, verwandelte das Grauen des Dorfes sich in Ergebung und Devotion, in Anrufung und Bußgefühl, und den aus ihrer Ordnung geratenen Himmeln trat die Angst und Schwäche der Menschen als Ordnung und kultische Harmonie entgegen. Noch ehe der Sternenregen anfing zu ermüden und dünner zu strömen, war das Wunder vollzogen und strahlte Heilkraft aus, und als der Himmel langsam sich zu beruhigen und zu genesen schien, hatten die todmüden Büßer alle das erlösende Gefühl, mit ihrer Übung die Mächte besänftigt und den Himmel wieder in Ordnung gebracht zu haben.

Die Schreckensnacht wurde nicht vergessen, man sprach noch den ganzen Herbst und Winter hindurch von ihr, aber bald tat man es schon nicht mehr flüsternd und beschwörend, sondern im alltäglichen Ton und mit der Genugtuung, welche auf ein brav bestandenes Unheil, eine mit Erfolg bekämpfte Gefahr zurückblickt. Man erlabte sich an den Einzelheiten, jeder war auf seine Weise von dem Unerhörten überrascht worden, jeder wollte es als erster entdeckt haben, über einige besonders Furchtsame und Überwältigte wagte man sich lustig zu machen, und noch lange hielt eine gewisse Angeregtheit im Dorfe vor: man hatte etwas erlebt, Großes war geschehen, es war etwas los gewesen!

An dieser Stimmung und am allmählichen Abflauen und Vergessen des großen Ereignisses hatte Knecht keinen Teil. Für ihn blieb das unheimliche Erlebnis eine unvergeßliche Mahnung, ein nicht mehr zur Ruhe kommender Stachel, und für ihn war es dadurch, daß es vorübergegangen und durch Prozession, Gebet und Bußübung besänftigt worden war, keineswegs abgetan und abgewendet. Es gewann sogar, je länger es vergangen war, für ihn desto größere Bedeutung, denn er erfüllte es mit Sinn, er wurde an ihm vollends zum Grübler und Deuter. Für ihn war schon das Ereignis an sich, das wunderhafte Naturschauspiel, ein unendlich großes und schwieriges Problem mit vielen Perspektiven: einer, der dies gesehen hatte, konnte wohl ein Leben lang darüber nachsinnen. Nur ein einziger im Dorf hätte den Sternenregen mit ähnlichen Voraussetzungen und ähnlichen Augen wie er selbst betrachtet, sein eigener Sohn und Schüler Turu, nur dieses einen Zeugen Bestätigungen oder Korrekturen hätten Wert für Knecht gehabt. Aber diesen Sohn hatte er schlafen lassen, und je länger er darüber nachgrübelte, warum er das eigentlich getan, warum er bei dem unerhörten Geschehnis auf den einzigen ernst zu nehmenden Zeugen und Mitbeobachter verzichtet hatte, desto mehr verstärkte sich in ihm der Glaube, daß er da gut und richtig gehandelt und einer weisen Ahnung gehorcht habe. Er hatte die Seinen vor dem Anblick behüten wollen, auch seinen Lehrling und Kollegen, und sogar ihn ganz besonders, denn niemandem war er so zugetan wie ihm. Darum hatte er ihm den Sternenfall verheimlicht und unterschlagen, denn einmal glaubte er an die guten Geister des Schlafes, zumal des jugendlichen, und ferner hatte er, wenn die Erinnerung ihn nicht täuschte, eigentlich schon in jenem Augenblick, gleich nach dem Beginn der Himmelszeichen, weniger an eine augenblickliche Lebensgefahr für alle gedacht als an ein Vorzeichen und sich meldendes Unheil in der Zukunft, und zwar an eines, das keinen so nahe anging und betreffen würde wie ihn allein, den Wettermacher. Es war da etwas im Anzug, eine Gefahr und Bedrohung aus jener Sphäre her, mit welcher sein Amt ihn verband, und sie würde, in welcher Gestalt immer, vor allem und ausdrücklich ihm selber gelten. Sich dieser Gefahr wach und entschlossen entgegenzustellen, sich in der Seele auf sie vorzubereiten, sie hinzunehmen, aber sich nicht von ihr kleinmachen und entwürdigen zu lassen, das war die Mahnung und der Entschluß, welche er aus dem großen Vorzeichen zog. Es würde dies kommende Schicksal einen reifen und mutigen Mann erfordern, darum wäre es nicht gut gewesen, den Sohn mit hineinzuziehen, ihn als Mitleidenden oder nur als Mitwisser zu haben, denn so gut er von ihm dachte, war es doch ungewiß, ob ein junger und unerprobter Mensch ihm würde gewachsen sein.

Der Sohn Turu freilich war sehr unzufrieden damit, daß er das große Schauspiel versäumt und verschlafen hatte. Mochte es nun so oder so gedeutet werden, eine große Sache war es in jedem Fall, und vielleicht würde in seinem ganzen Leben sich Ähnliches nicht mehr zeigen, es war ihm ein Erlebnis und Weltwunder entgangen, eine ganze Weile schmollte er deswegen mit dem Vater. Nun, dies Schmollen wurde überwunden, denn der Alte entschädigte ihn durch vermehrte zärtliche Aufmerksamkeit und zog ihn mehr als je zu allen Verrichtungen seines Amtes heran, sichtlich gab er im Vorgefühl kommender Dinge sich gesteigerte Mühe, in Turu vollends einen möglichst vollkommenen und eingeweihten Nachfolger zu erziehen. Sprach er auch nur selten mit ihm über jenen Sternregen, so nahm er ihn doch immer rückhaltloser in seine Geheimnisse, seine Praktiken, sein Wissen und Forschen mit auf, ließ sich von ihm auch bei Gängen, Versuchen, Naturbelauschungen begleiten, die er bisher mit niemand geteilt hatte.