Sein Ruf verbreitete sich in der ganzen Umgebung von Gaza, man kannte ihn weitum und nannte ihn gelegentlich sogar mit dem verehrten, großen Beichtvater und Eremiten Dion Pugil zusammen, dessen Ruf allerdings schon um zehn Jahre älter war und auf ganz anderen Fähigkeiten beruhte, denn Vater Dion war gerade dadurch berühmt, daß er in den Seelen, die sich ihm anvertrauten, noch schärfer und rascher zu lesen verstand als in den ausgesprochenen Worten, so daß er einen zögernd Beichtenden nicht selten dadurch überraschte, daß er ihm seine noch nicht gebeichteten Sünden auf den Kopf zusagte. Dieser Seelenkenner, von welchem Josef hundert erstaunliche Geschichten hatte erzählen hören und mit welchem er sich selbst niemals zu vergleichen gewagt hätte, war auch ein begnadeter Berater irrender Seelen, war ein großer Richter, Bestrafer und Ordner; er auferlegte Bußen, Kasteiungen und Wallfahrten, stiftete Ehen, zwang Verfeindete zur Aussöhnung, und seine Autorität war gleich der eines Bischofs. Er lebte in der Nähe von Askalon, wurde aber von Bittstellern sogar aus Jerusalem, ja aus noch ferner gelegenen Orten aufgesucht.
Josephus Famulus hatte gleich den meisten Eremiten und Büßern lange Jahre eines leidenschaftlichen und aufreibenden Kampfes durchgemacht. Hatte er auch sein Weltleben verlassen, hatte er seine Habe und sein Haus weggegeben und die Stadt mit ihren vielfältigen Einladungen zur Welt- und Sinnenlust verlassen, so hatte er doch sich selbst mitnehmen müssen, und es waren in ihm alle Triebe des Leibes und der Seele vorhanden, welche einen Menschen in Not und Versuchung führen können. Er hatte zunächst vor allem den Leib bekämpft, er war streng und hart mit ihm gewesen, hatte ihn an Hitze und Kälte, an Hunger und Durst, an Narben und Schwielen gewöhnt, bis er langsam abgewelkt und abgedörrt war, aber auch noch in der hageren Asketenhülle konnte ihn der alte Adam durch die unsinnigsten Begierden und Gelüste, Träume und Vorgaukelungen schmählich überraschen und ärgern; wir wissen ja, daß den Weltflüchtigen und Büßern der Teufel eine ganz besondere Sorgfalt widmet. Als sodann gelegentlich Trostsuchende und Beichtbedürftige ihn aufgesucht hatten, erkannte er darin dankbar einen Ruf der Gnade und empfand zugleich darin eine Erleichterung seines Büßerlebens: er hatte einen über ihn selbst hinausweisenden Sinn und Inhalt bekommen, ein Amt war ihm erteilt worden, er konnte anderen dienen oder konnte Gott als Werkzeug dienen, um Seelen zu sich zu ziehen. Dies war ein wunderbares und wahrhaft erhebendes Gefühl gewesen. Aber im Fortgang hatte es sich gezeigt, daß auch die Güter der Seele noch dem Irdischen angehören und zu Versuchungen und Fallstricken werden können. Oft nämlich, wenn solch ein Wanderer gegangen oder geritten kam, vor seiner Felsengrotte haltmachte, um einen Schluck Wasser und hernach um das Anhören seiner Beichte bat, dann beschlich unsern Josef ein Gefühl von Befriedigung und Wohlgefallen, einem Wohlgefallen an sich selbst, einer Eitelkeit und Selbstliebe, über welche er, sobald er sie erkannte, tief erschrak. Nicht selten bat er Gott auf den Knien um Vergebung und bat ihn darum, daß kein Beichtkind mehr zu ihm, dem Unwürdigen, kommen möge, nicht aus den Hütten der büßenden Brüder in der Nachbarschaft und nicht aus den Dörfern und Städten der Welt. Indessen befand er sich auch dann, wenn wirklich die Beichter zuzeiten ausblieben, nicht viel besser, und wenn daraufhin dann wieder viele kamen, dann ertappte er sich bei einer neuen Versündigung: es begegnete ihm nun, daß er beim Anhören dieser oder jener Geständnisse Regungen der Kälte und Lieblosigkeit, ja der Verachtung gegen den Beichtenden empfand. Seufzend nahm er auch diese Kämpfe auf sich, und es gab Zeiten, wo er nach jeder angehörten Beichte sich einsamen Demütigungs- und Bußübungen unterzog. Außerdem machte er es sich zum Gesetz, alle Beichtenden nicht nur wie Brüder, sondern mit einer gewissen besonderen Ehrerbietung zu behandeln, und desto mehr, je weniger die Person eines solchen ihm gefallen wollte: er empfing sie als Boten Gottes, ausgesandt, um ihn zu prüfen. So fand er mit den Jahren, spät genug, als ein schon alternder Mann, eine gewisse Gleichmäßigkeit der Lebensführung, und jenen, welche in seiner Nähe lebten, schien er ein tadelfreier Mann zu sein, der den Frieden in Gott gefunden hat.
Indessen ist auch der Friede etwas Lebendiges, auch er wie alles Lebende muß wachsen und abnehmen, muß sich anpassen, muß Proben bestehen und Wandlungen durchmachen; so stand es auch um den Frieden des Josephus Famulus, er war labil, er war bald sichtbar, bald nicht, er war bald nah wie eine Kerze, die man in der Hand trägt, bald fern wie ein Stern am Winterhimmel. Und mit der Zeit war es eine besondere, neue Art von Sünde und Versuchung, welche ihm immer häufiger das Leben schwer machte. Es war nicht eine starke, leidenschaftliche Bewegung, Empörung oder Erhebung der Triebe, es schien eher das Gegenteil zu sein. Es war ein Gefühl, das in seinen ersten Stadien ganz leicht zu ertragen, ja kaum wahrzunehmen war, ein Zustand ohne eigentliche Schmerzen und Entbehrungen, ein flauer, lauer, langweiliger Seelenzustand, der sich eigentlich nur negativ bezeichnen ließ, als ein Hinwegschwinden, Abnehmen und schließliches Fehlen der Freude. So wie es Tage gibt, an welchen weder die Sonne strahlt noch der Regen strömt, sondern der Himmel still in sich selber versinkt und sich einspinnt, grau, doch nicht schwarz, schwül, doch nicht bis zur Gewitterspannung, so wurden allmählich die Tage des alternden Josef; es waren die Morgen von den Abenden, die Festtage von den gewöhnlichen, die Stunden des Aufschwungs von denen des Darniederliegens immer weniger zu unterscheiden, es lief alles trag in einer lahmen Müdigkeit und Unlust dahin. Es sei das Alter, dachte er traurig. Traurig war er, weil er vom Altwerden und vom allmählichen Erlöschen der Triebe und Leidenschaften sich eine Aufhellung und Erleichterung seines Lebens, einen Schritt weiter zur ersehnten Harmonie und reifen Seelenruhe versprochen hatte, und weil nun das Alter ihn zu enttäuschen und betrügen schien, indem es nichts brachte als diese müde, graue, freudlose öde, dies Gefühl unheilbarer Übersättigung. Übersättigt fühlte er sich von allem: vom bloßen Dasein, vom Atmen, vom Schlaf der Nacht, vom Leben in seiner Grotte am Rande der kleinen Oase, vom ewigen Abendwerden und Morgenwerden, vom Vorbeiziehen der Reisenden und Pilger, der Kamelreiter und Eselreiter und am meisten von jenen Leuten, deren Kommen und Besuch ihm selber galt, von jenen törichten, angstvollen und zugleich so kindisch gläubigen Menschen, deren Bedürfnis es war, ihm ihr Leben, ihre Sünden und Ängste, ihre Anfechtungen und Selbstanklagen zu erzählen. Es schien ihm zuweilen: wie in der Oase die kleine Wasserquelle sich im Steinbecken sammelte, durch Gras floß und einen kleinen Bach bildete, dann in die öde des Sandes hinausfloß und dort nach kurzem Lauf versiegte und erstarb, ebenso kämen alle diese Beichten, dieseSündenregister, diese Lebensläufe, diese Gewissensplagen, große wie kleine, ernste wie eitle, ebenso kämen sie in sein Ohr geflossen, Dutzende, Hunderte, immerdar neue. Aber das Ohr war nicht tot wie der Wüstensand, das Ohr war lebendig und vermochte nicht ewig zu trinken und zu schlucken und einzusaugen, es fühlte sich ermüdet, mißbraucht, überfüllt, es sehnte sich danach, daß das Fließen und Geplätscher der Worte, der Geständnisse, der Sorgen, der Anklagen, der Selbstbezichtigungen einmal aufhöre, daß einmal Ruhe, Tod und Stille an die Stelle dieses endlosen Fließens trete. Ja, er wünschte ein Ende, er war müde, er hatte genug und übergenug, schal und wertlos war sein Leben geworden, und es kam so weit mit ihm, daß er zuweilen sich versucht fühlte, seinem Dasein ein Ende zu machen, sich zu bestrafen und auszulöschen, so wie es Judas der Verräter getan hatte, als er sich erhängte. Wie ihm in früheren Stadien seines Büßerlebens der Teufel die Wünsche, Vorstellungen und Träume der Sinnen- und Weltlust in die Seele geschmuggelt hatte, so suchte er ihn jetzt heim mit Vorstellungen der Selbstvernichtung, so daß er jeden Ast eines Baumes daraufhin prüfen mußte, ob er geeignet sei, sich an ihm aufzuhängen, jeden steilen Felsen der Gegend, ob er steil und hoch genug sei, um sich von ihm zu Tode zu stürzen. Er widerstand der Versuchung, er kämpfte, er gab nicht nach, aber er lebte Tag und Nacht in einem Brand von Selbsthaß und Todesgier, das Leben war unerträglich und hassenswert geworden.