»Nun ja, nun ja. Wir sollten nicht so laut sein, die Leute wollen doch schlafen.«
Plötzlich kicherte er vergnügt vor sich hin. »Übrigens, etwas Drolliges hat man mir von ihm auch erzählt.«
»Von wem?«
»Von ihm, vom Büßer Josephus. Also der hat es so im Brauch, wenn einer ihm seine Sachen erzählt und gebeichtet hat, dann grüßt und segnet er ihn zum Abschied und gibt ihm einen Kuß auf die Wange oder auf die Stirn.«
»So, tut er? Komische Gewohnheiten hat er schon.«
»Und nun ist er ja so sehr scheu vor den Frauen, weißt du. Da soll einmal eine Hure aus der Gegend in Mannskleidern zu ihm gegangen sein, und er merkt nichts und hört sich ihre Lügengeschichten an und wie sie mit Beichten fertig ist, verneigt er sich vor ihr und gibt ihr feierlich einen Kuß.«
Der Alte setzte zu einem heftigen Gelächter an, der andere machte schnell »Bst, bst!,« und nun bekam Josef nichts mehr zu hören als eine Weile noch dies halb erstickte Lachen.
Er blickte zum Himmel, scharf und dünn stand die Mondsichel hinter den Kronen der Palmen, er schauerte von der Nachtkälte. Wunderlich wie in einem Zerrspiegel, und doch aufschlußreich, hatte ihm das Abendgespräch der Kamelführer seine eigene Person und die Rolle vor Augen gefühlt, der er untreu geworden war. Und eine Hure also hatte sich diesen Spaß mit ihm gemacht. Nun, dies war nicht das Schlimmste, wenn auch schlimm genug. Er hatte lange nachzudenken über die Unterhaltung der beiden fremden Männer. Und als er sehr spät endlich einschlafen konnte, konnte er es nur, weil sein Nachdenken nicht vergeblich gewesen war. Es hatte zu einem Ergebnis, zu einem Entschluß geführt, und mit diesem jungen Entschluß im Herzen schlief er tief und ungestört bis zum Tagesanbruch.
Sein Entschluß aber war eben jener, welchen der jüngere von den beiden Kameltreibern nicht hatte fassen können. Sein Entschluß war, dem Rat des älteren zu folgen und den Dion, genannt Pugil, aufzusuchen, von dem er ja längst schon wußte und dessen Lob ihm heut so eindringlich war gesungen worden. Dieser berühmte Beichtvater, Seelenrichter und Ratgeber würde auch für ihn einen Rat, ein Urteil, eine Strafe, einen Weg wissen; ihm wollte er sich stellen wie einem Vertreter Gottes und willig annehmen, was er ihm verordnen würde.
Anderntags verließ er schon den Rastplatz, als die beiden Männer noch schliefen, und erreichte an diesem Tag in mühevoller Wanderung einen Ort, den er von frommen Brüdern bewohnt wußte und von dem aus er auf den üblichen Reiseweg gegen Askalon zu gelangen hoffte.
Bei der Ankunft gegen Abend blickte eine kleine grüne Oasenlandschaft ihn freundlich an, er sah Bäume ragen und hörte eine Ziege meckern, glaubte im grünen Schatten die Umrisse von Hüttendächern zu entdecken und Menschennähe zu wittern, und als er zögernd näher trat, meinte er einen Blick auf sich gerichtet zu spüren. Er blieb stehen und spähte umher, da sah er unter den ersten Bäumen, an einen Stamm gelehnt, eine Gestalt sitzen, einen aufrecht sitzenden alten Mann mit einem eisgrauen Bart und einem würdigen, aber strengen und starren Gesicht, der blickte ihn an und mochte ihn schon eine Weile angeblickt haben. Der Blick des alten Mannes war fest und scharf, aber ohne Ausdruck, wie der Blick eines Mannes, der zu beobachten gewohnt, aber nicht neugierig und beteiligt ist, der die Menschen und Dinge an sich herankommen läßt und sie zu erkennen sucht, sie aber nicht herbeizieht und einlädt.
»Gelobt sei Jesus Christus,« sagte Josef. Mit einem Murmeln gab der Greis Antwort.
»Mit Verlaub,« sagte Josef, »seid Ihr ein Fremdling wie ich, oder seid Ihr ein Bewohner dieser schönen Siedlung?«
»Ein Fremder,« sagte der Weißbärtige.
»Ehrwürdiger, so könnet Ihr mir vielleicht sagen, ob es möglich ist, von hier aus auf den Weg nach Askalon zu kommen?«
»Es ist möglich,« sagte der Alte. Und nun richtete er sich langsam, mit etwas steifen Gliedern, auf, ein hagerer Riese. Er stand und blickte in die leere Weite hinaus. Josef fühlte, daß dieser greise Riese wenig Lust zu einem Redewechsel habe, aber eine Frage wollte er doch noch wagen.
»Erlaubet mir noch eine einzige Frage, Ehrwürdiger,« sagte er höflich und sah die Augen des Mannes wieder aus der Ferne zurückkehren. Kühl und aufmerksam blickten sie ihn an.
»Kennet Ihr vielleicht den Ort, wo Vater Dion zu finden ist, genannt Dion Pugil?«
Der Fremde zog die Brauen ein wenig zusammen, und sein Blick wurde noch kühler. »Ich kenne ihn,« sagte er knapp. »Ihr kennet ihn?« rief Josef. »Oh, dann saget ihn mir, denn dorthin, zu Vater Dion, geht meine Reise.«
Der große alte Mann schaute prüfend zu ihm hernieder. Er ließ ihn lange auf Antwort warten. Dann trat er zu seinem Baumstamm zurück, ließ sich langsam wieder zu Boden nieder und setzte sich, an den Stamm gelehnt, wie er vorher gesessen war. Mit einer kleinen Handbewegung forderte er Josef auf, sich ebenfalls niederzulassen. Gehorsam leistete dieser der Gebärde Folge, spürte im Niedersitzen einen Augenblick die große Müdigkeit in seinen Gliedern, vergaß sie aber alsbald wieder, um seine ganze Aufmerksamkeit dem Greise zuzuwenden. Dieser schien in Nachsinnen versunken, ein Zug von abweisender Strenge erschien auf seinem würdevollen Antlitz, über welchen jedoch noch ein anderer Ausdruck, ja ein anderes Gesicht, wie eine durchsichtige Maske gelegt schien, ein Ausdruck alten und einsamen Leides, dem der Stolz und die Würde keine Äußerung erlauben.
Es dauerte lange, bis der Blick des Ehrwürdigen sich ihm wieder zuwandte. Mit großer Schärfe prüfte ihn auch jetzt wieder dieser Blick, und plötzlich stellte der Alte in befehlendem Ton die Frage: »Wer seid Ihr denn, Mann?«
»Ich bin ein Büßer,« sagte Josef, »ich habe seit langen Jahren das Leben der Zurückgezogenen geführt.« »Das sieht man. Ich frage, wer Ihr seid.« »Ich heiße Josef, mit dem Zunamen Famulus.« Als Josef seinen Namen sagte, zog der Alte, der im übrigen regungslos blieb, die Brauen so stark zusammen, daß seine Augen für eine Weile beinah unsichtbar wurden, er schien betroffen, erschreckt oder enttäuscht zu sein über Josefs Mitteilung; oder vielleicht war es auch nur eine Ermüdung der Augen, ein Nachlassen der Aufmerksamkeit, irgendeine kleine Anwandlung von Schwäche, wie so alte Leute sie haben. Jedenfalls verharrte er in vollkommener Regungslosigkeit, hielt die Augen eine Weile eingekniffen, und als er sie wieder öffnete, schien sein Blick verändert oder schien, wenn es möglich war, noch älter, noch einsamer, versteinerter und abwartender geworden zu sein. Langsam tat er die Lippen voneinander, um zu fragen: »Ich habe von Euch gehört. Seid Ihr der, zu dem die Leute beichten gehen?«
Josef bejahte verlegen, das Erkanntwerden wie eine unliebsame Entblößung empfindend und von der Begegnung mit seinem Ruf nun schon zum zweitenmal beschämt.
Wieder fragte der Alte in seiner bündigen Weise; »Und jetzt wollet Ihr also den Dion Pugil aufsuchen? Was wollt Ihr von dem?«
»Ich möchte ihm beichten.«
»Was versprechet Ihr Euch davon?«
»Ich weiß nicht. Ich habe Vertrauen zu ihm, und es scheint mir sogar, als wäre es eine Stimme von oben, eine Führung, die mich zu ihm sendet.«
»Und wenn Ihr ihm gebeichtet haben werdet, was dann?«
»Dann werde ich das tun, was er mir befiehlt.«
»Und wenn er Euch etwas Falsches rät oder befiehlt?«
»Ich werde nicht untersuchen, ob es falsch sei oder nicht, sondern ich werde gehorchen.«
Der Greis ließ kein Wort mehr hören. Die Sonne war tief gerückt, ein Vogel schrie im Laub des Baumes. Da der Alte schweigsam blieb, erhob sich Josef. Schüchtern kam er nochmals auf sein Anliegen zurück.
»Ihr habet gesagt, daß Euch der Ort bekannt sei, an dem man den Vater Dion finden kann. Darf ich bitten, daß Ihr mir den Ort nennet und den Weg dorthin beschreibet?«
Der Alte zog seine Lippen zu einer Art von schwachem Lächeln zusammen. »Glaubet Ihr,« fragte er sanft, »daß Ihr ihm willkommen sein werdet?«