Wunderlich erschreckt durch die Frage, gab Josef keine Antwort. Er stand verlegen.
Dann sagte er: »Darf ich wenigstens hoffen, Euch wiederzusehen?«
Der alte Mann machte eine grüßende Gebärde und antwortete: »Ich werde hier schlafen und mich hier bis kurz nach Sonnenaufgang aufhalten. Gehet jetzt, Ihr seid müde und hungrig.«
Mit ehrerbietigem Gruß ging Josef weiter und kam mit Einbruch der Dämmerung in die kleine Siedlung. Es wohnten hier, ähnlich wie in einem Kloster, sogenannte Zurückgezogene, Christen aus verschiedenen Städten und Ortschaften, die sich hier in der Abgeschiedenheit eine Unterkunft geschaffen hatten, um ungestört sich einem einfachen, reinen Leben der Stille und Kontemplation zu ergeben. Man gab ihm Wasser, Speise und Nachtlager und verschonte ihn, da man sah, wie müde er war, mit Fragen und Unterhaltungen. Einer sprach ein Nachtgebet, an dem die anderen kniend teilnahmen, das Amen sprachen alle gemeinsam. Die Gemeinschaft dieser Frommen wäre zu einer anderen Zeit ein Erlebnis und eine Freude für ihn gewesen, aber jetzt hatte er nur eines im Sinn, und am frühesten Morgen eilte er dorthin zurück, wo er den alten Mann gestern verlassen hatte. Er fand ihn am Boden liegen und schlafen, in eine dünne Matte gerollt, und setzte sich abseits unter den Bäumen, um sein Erwachen zu erwarten. Schon bald wurde der Schläfer unruhig, erwachte, wickelte sich aus der Matte, stand schwerfällig auf und streckte die steifgewordenen Glieder, dann kniete er zu Boden und verrichtete sein Gebet. Als er sich wieder erhob, näherte sich Josef und verneigte sich stumm.
»Hast du schon gegessen?« fragte der Fremde.
»Nein. Ich habe die Gewohnheit, nur einmal am Tage und erst nach Untergang der Sonne zu essen. Seid Ihr hungrig, Ehrwürdiger?«
»Wir sind auf Wanderung,« sagte jener, »und wir sind beide keine jungen Leute mehr. Es ist besser, wir essen einen Bissen, ehe wir weiterziehen.«
Josef öffnete seinen Beutel und bot ihm von seinen Datteln an, auch hatte er von den freundlichen Leuten, bei denen er genächtigt, ein Hirsebrot mitbekommen, das er mit dem Alten teilte.
»Wir können gehen,« sagte der Alte, als sie gegessen hatten.
»Oh, wir werden zusammen gehen?« rief Josef erfreut.
»Gewiß. Du hast mich ja gebeten, dich zu Dion zu führen. Komm nur.«
Erstaunt und glücklich blickte ihn Josef an. »Wie gütig Ihr seid,« rief er und wollte in Danksagungen ausbrechen. Aber der Fremde machte ihn mit einer schroffen Handbewegung verstummen.
»Gütig ist Gott allein,« sagte er. »Wir gehen jetzt. Und sage du zu mir, wie ich es zu dir sage. Was sollen die Formen und Höflichkeiten zwischen zwei alten Büßern?«
Der große Mann schritt aus, und Josef schloß sich an, der Tag war angebrochen. Der Führer schien der Richtung und des Weges sicher zu sein und verhieß, sie würden gegen Mittag an einen schattigen Ort gelangen, wo sie für die Stunden der größten Sonnenglut Rast halten könnten. Weiter wurde auf dem Wege nicht gesprochen.
Erst als nach heißen Stunden der Rastort erreicht war und sie im Schatten zerklüfteter Felsen ausruhten, richtete Josef wieder das Wort an seinen Führer. Er fragte, wie viele Tagesmärsche sie wohl brauchen würden, um zu Dion Pugil zu kommen.
»Es kommt nur auf dich an,« sagte der Alte.
»Auf mich?« rief Josef. »Ach, wenn es nur auf mich ankäme, so stünde ich noch heute vor ihm.«
Der alte Mann schien auch jetzt nicht zu Gesprächen gelaunt.
»Wir werden sehen,« sagte er kurz, legte sich auf die Seite und schloß die Augen. Es war Josef unangenehm, ihn beim Schlummer beobachten zu können, er zog sich leise etwas abseits und legte sich, und unversehens entschlief auch er, der in der Nacht lange wach gelegen war. Sein Führer weckte ihn, als ihm die Zeit zum Abmarsch gekommen schien.
Am Spätnachmittag kamen sie zu einem Lagerplatz mit Wasser, Bäumen und Graswuchs, hier tranken sie, wuschen sich, und der Alte beschloß, hier zu bleiben. Josef war nicht einverstanden und erhob schüchtern Einspruch.
»Du sagtest heute,« meinte er, »es liege nur an mir, wie früh oder spät ich zu Vater Dion kommen werde. Ich bin bereit, noch viele Stunden zu gehen, wenn ich ihn wirklich schon heute oder morgen erreichen kann.«
»Ach nein,« sagte der andre, »für heute sind wir weit genug gekommen.«
»Verzeih,« sagte Josef, »aber kannst du meine Ungeduld nicht verstehen?«
»Ich verstehe sie. Doch wird sie dir nichts nützen.«
»Warum sagtest du dann, es liege an mir?«
»Es ist so, wie ich sagte. Sobald du deines Willens zum Beichten sicher bist und dich bereit und reif weißt, die Beichte abzulegen, wirst du sie ablegen können.«
»Auch heute noch?«
»Auch heute noch.«
Staunend blickte Josef in das stille, alte Gesicht.
»Ist es möglich?« rief er überwältigt. »Bist du selbst Vater Dion?«
Der Alte nickte.
»Ruhe dich hier unter den Bäumen aus,« sagte er freundlich, »aber schlafe nicht, sondern sammle dich, und auch ich will mich ausruhen und sammeln. Dann magst du mir sagen, was du zu sagen begehrst.«
So sah sich Josef plötzlich am Ziel und begriff jetzt kaum mehr, daß er den ehrwürdigen Mann nicht früher erkannt und verstanden habe, neben dem er einen ganzen Tag einhergegangen war. Er zog sich zurück, kniete und betete und richtete dann alle seine Gedanken auf das, was er dem Beichtvater zu sagen habe. Nach einer Stunde kehrte er zurück und fragte, ob Dion bereit sei.
Und nun durfte er beichten. Nun floß all das, was er seit Jahren gelebt und was seit langer Zeit mehr und mehr seinen Wert und Sinn verloren zu haben schien, von seinen Lippen als Erzählung, Klage, Frage, Selbstanklage, die ganze Geschichte seines Christen- und Büßerlebens, das als eine Läuterung und Heiligung gemeint und unternommen und das am Ende so sehr zu Verwirrung, Verdunklung und Verzweiflung geworden war. Auch das jüngst Erlebte verschwieg er nicht, seine Flucht und das Gefühl von Lösung und Hoffnung, das diese Flucht ihm gebracht hatte, die Entstehung seines Entschlusses, zu Dion zu reisen, seine Begegnung mit ihm, und wie er zu ihm, dem Älteren, zwar alsbald ein Vertrauen und eine Liebe gefaßt, ihn aber im Verlauf dieses Tages auch mehrmals als kalt und wunderlich, ja launisch beurteilt habe.
Die Sonne stand schon tief, als er zu Ende gesprochen hatte. Der alte Dion hatte mit unermüdlicher Aufmerksamkeit zugehört und sich jeder Unterbrechung und Frage enthalten. Und auch jetzt, wo die Beichte zu Ende war, kam kein Wort von seinen Lippen. Er erhob sich schwerfällig, blickte Josef mit großer Freundlichkeit an, neigte sich zu ihm, küßte ihn auf die Stirn und machte das Kreuz über ihm. Erst später fiel es Josef ein, daß dies ja dieselbe stumme, brüderliche und auf Urteilsspruch verzichtende Gebärde war, mit welcher er selbst so viele Beichtende entlassen hatte.
Bald darauf aßen sie, sprachen das Nachtgebet und legten sich nieder. Josef sann noch eine Weile und grübelte, er hatte eigentlich eine Verdammung und Strafpredigt erwartet, und war dennoch nicht enttäuscht oder unruhig, der Blick und Bruderkuß Dions hatte ihm genügt, es war still in ihm, und bald sank er in wohltätigen Schlaf.
Ohne Worte zu verschwenden, nahm ihn am Morgen der Alte mit, sie machten eine ziemlich große Tagesreise und noch vier oder fünf, dann waren sie bei Dions Klause angelangt. Da wohnten sie nun, Josef war Dion bei den kleinen Tagesarbeiten behilflich, lernte dessen tägliches Leben kennen und teilen, es war nicht so sehr verschieden von dem, das er selbst viele Jahre geführt hatte. Nur war er jetzt nicht mehr allein, er lebte im Schatten und Schutz eines andern, und so war es denn doch ein vollkommen anderes Leben. Und es kamen aus den umliegenden Siedlungen, aus Askalon und von noch weiter her immer wieder Ratsuchende und Beichtbedürftige. Anfangs zog Josef sich jedesmal, wenn solche Besucher kamen, eilig zurück und ließ sich erst wieder sehen, wenn sie gegangen waren. Aber immer häufiger rief Dion ihn zurück, so wie man einen Diener ruft, hieß ihn Wasser bringen oder sonst eine Handreichung tun, und nachdem er es einige Zeit so gehalten, gewöhnte er Josef daran, je und je einer Beichte als Mithörer beizuwohnen, wenn nicht der Beichtende sich dagegen sträubte. Vielen aber, ja den meisten war es nicht unlieb, dem gefürchteten Pugil nicht allein gegenüber zu stehen oder zu sitzen oder zu knien, sondern diesen stillen, freundlich blickenden und dienstwilligen Gehilfen mit dabei zu haben. So lernte er allmählich die Weise kennen, auf welche Dion Beichte hörte, die Art seines tröstlichen Zuspruchs, die Art seines Zugreifens und Schaltens, die Art seines Strafens und Ratgebens. Selten erlaubte er sich eine Frage, wie etwa damals, als ein Gelehrter oder Schöngeist auf der Durchreise vorsprach.