Bei der Ankunft wurde nach kastalischer Sitte der Knabe nicht von einem Schuldiener empfangen und vor einen Rektor oder ein Lehrerkollegium geführt, sondern es empfing ihn ein Kamerad, ein hübscher, großgewachsener Knabe, in blaues Leinen gekleidet, ein paar Jahre älter als Josef, der gab ihm die Hand und sagte: »Ich bin Oskar, der älteste vom Haus Hellas, wo du wohnen wirst, und es ist mein Auftrag, dich bei uns willkommen zu heißen und einzuführen. In der Schule wirst du erst morgen erwartet, wir haben hübsch Zeit, alles ein wenig anzusehen, du wirst dich schnell auskennen. Ich bitte dich auch, mich für die erste Zeit, bis du eingelebt bist, als deinen Freund und Mentor zu betrachten, und auch als deinen Beschützer, falls du einmal von den Kameraden belästigt werden solltest; manche meinen ja, sie müßten immer die Neuen ein wenig plagen. Schlimm wird es nicht sein, das kann ich versprechen. Jetzt führe ich dich zuerst nach Hellas, in unser Schülerhaus, damit du siehst, wo du wohnen wirst.«
So begrüßte, in der hergebrachten Weise, der vom Hausvorstand zu Josefs Mentor ernannte Oskar den Neuling, und in der Tat gab er sich Mühe, seine Rolle gut zu spielen; fast immer macht ja diese Rolle den Senioren Spaß, und wenn ein Fünfzehnjähriger sich Mühe gibt, einen Dreizehnjährigen durch leutseligen Kameradenton und leise Begönnerung zu berücken, so wird ihm das ja wohl immer gelingen. Josef wurde in seinen ersten Tagen vom Mentor durchaus als Gast behandelt, von dem man wünscht, er möge, sollte er etwa schon morgen wieder abreisen, vom Hause und vom Gastgeber einen guten Eindruck mitnehmen. Josef wurde in die Schlafstube geführt, die er mit zwei andern Knaben teilen sollte, er wurde mit Zwieback und einem Becher Fruchtsaft bewirtet, es wurde ihm das »Haus Hellas,« eine der Wohnparzellen des großen Rechtecks, gezeigt, es wurde ihm gezeigt, wo er im Luftbad sein Handtuch aufhängen und in welcher Ecke er Topfblumen halten könne, falls er dazu Lust habe, er wurde auch noch vor Abend zum Waschmeister ins Waschhaus geführt, wo man ihm einen blauen Leinenanzug aussuchte und anpaßte. Josef fühlte sich vom ersten Augenblick an wohl am Ort und ging vergnügt auf Oskars Ton ein; kaum war eine leise Verlegenheit an ihm zu spüren, wennschon der Ältere und schon längst in Kastalien Heimische natürlich ein Halbgott für ihn war. Auch die gelegentlichen kleinen Renommistereien und Schauspielereien gefielen ihm, etwa wenn Oskar ein kompliziertes griechisches Zitat in seine Rede flocht, um sich dann sofort höflich zu erinnern, daß der Neue ja freilich dies noch nicht verstehen könne, natürlich nicht, wer wollte das auch von ihm verlangen!
Im übrigen war für Knecht das Internatsleben nichts Neues; er ordnete sich ohne Mühe ein. Es sind auch aus seinen Eschholzer Jahren wichtige Ereignisse nicht überliefert; den furchtbaren Brand im Schulhause kann er nicht mehr miterlebt haben. Seine Zeugnisse, soweit sie noch aufzufinden waren, zeigen in der Musik und im Latein gelegentlich die höchsten Zahlen, in Mathematik und Griechisch hielten sie sich etwas über dem guten Durchschnitt, im »Hausbuch« finden sich je und je über ihn Eintragungen wie »Ingenium valde capex, studia non angusta, mores probantur« oder »ingenium felix et profectuum avidissimum, moribus placet officiosis.« Welche Strafen er in Eschholz empfing, läßt sich nicht mehr feststellen, das Strafenbuch ist mit so vielem andren dem Brande zum Opfer gefallen. Ein Mitschüler soll später versichert haben, Knecht sei in den vier Eschholzer Jahren nur ein einziges Mal (durch Entzug des Wochenausfluges) bestraft worden, und zwar, weil er sich hartnäckig geweigert habe, den Namen eines Kameraden anzugeben, der etwas Verbotenes getan hatte. Die Anekdote klingt glaubhaft, Knecht war ohne Zweifel stets ein guter Kommilitone und niemals liebedienerisch nach oben; daß aber jene Bestrafung wirklich in vier Jahren die einzige gewesen sei, ist doch recht wenig wahrscheinlich.
Da wir an Dokumenten über Knechts erste Eliteschulzeit so arm sind, ziehen wir eine Stelle aus seinen spätem Vorlesungen über das Glasperlenspiel heran. Allerdings liegen von Knecht eigene Manuskripte zu diesen für Anfänger gehaltenen Vorlesungen nicht vor, ein Schüler hat sie nach seinem freien Vortrag stenographiert. Knecht spricht an jener Stelle über Analogien und Assoziationen im Glasperlenspiel und unterscheidet bei den letztern zwischen »legitimen,« das heißt allgemeinverständlichen, und »privaten« oder subjektiven Assoziationen. Er sagt dort: »Um euch ein Beispiel für diese privaten Assoziationen zu geben, welche ihren privaten Wert dadurch nicht verlieren, daß sie im Glasperlenspiel unbedingt verboten sind, erzähle ich euch von einer solchen Assoziation aus meiner eigenen Schülerzeit. Ich war etwa vierzehn Jahre alt, und es war im Vorfrühling, im Februar oder März, da lud ein Kamerad mich ein, eines Nachmittags mit ihm auszugehen, um ein paar Holunderstämmchen zu schneiden, die wollte er als Röhren beim Bau einer kleinen Wassermühle benutzen. Wir zogen also aus, und es muß ein besonders schöner Tag in der Welt oder in meinem Gemüt gewesen sein, denn er ist mir im Gedächtnis geblieben und hat mir ein kleines Erlebnis gebracht. Das Land war feucht, aber schneefrei, an den Wasserläufen grünte es schon stark, im kahlen Gesträuch gaben Knospen und erste aufbrechende Kätzchen schon einen Hauch von Farbe, und die Luft war voll Geruch, einem Geruch voll Leben und voll Widerspruch, es duftete nach feuchter Erde, faulendem Laub und jungen Pflanzenkeimen, jeden Augenblick erwartete man schon die ersten Veilchen zu riechen, obschon es noch keine gab. Wir kamen zu den Holundern, sie hatten winzige Knospen, aber noch kein Laub, und als ich einen Zweig abschnitt, drang mir ein bittersüßer, heftiger Geruch entgegen, der alle die andern Frühlingsgerüche in sich gesammelt, summiert und potenziert zu haben schien. Ich war ganz benommen davon, ich roch an meinem Messer, roch an meiner Hand, roch an dem Holunderzweig; sein Saft war es, der so dringlich und unwiderstehlich duftete. Wir sprachen nicht darüber, aber auch mein Kamerad roch lang und nachdenklich an seinem Rohr, auch zu ihm sprach der Duft. Nun, jedes Erlebnis hat eben seine Magie, und hier bestand mein Erlebnis darin, daß der kommende Frühling, schon beim Gehen über die feucht schwappenden Wiesenböden, beim Duft der Erde und Knospen von mir stark und beglückend empfunden, sich nun im Fortissimo des Holunderduftes zu einem sinnlichen Gleichnis und einer Bezauberung konzentrierte und steigerte. Vielleicht hätte ich, auch wenn dies kleine Erlebnis für sich allein geblieben wäre, diesen Geruch niemals mehr vergessen; vielmehr, jede künftige Wiederbegegnung mit diesem Geruch hätte mir wahrscheinlich bis ins Alter stets die Erinnerung an jenes erste Mal aufgeweckt, da ich den Duft bewußt erlebt hatte. Nun kommt aber noch etwas Zweites hinzu. Ich hatte damals bei meinem Klavierlehrer einen alten Band Noten gefunden, der mich gewaltig anzog, es war ein Band Lieder von Franz Schubert. Ich hatte darin geblättert, als ich einmal etwas lange auf den Lehrer warten mußte, und auf meine Bitte hatte er ihn mir für einige Tage geliehen. In meinen Freistunden lebte ich ganz in der Wonne des Entdeckens, ich hatte bis dahin nichts von Schubert gekannt und war damals ganz von ihm bezaubert. Und nun entdeckte ich, am Tag jenes Holundergangs oder am Tage nachher, Schuberts Frühlingslied »Die linden Lüfte sind erwacht,« und die ersten Akkorde der Klavierbegleitung überfielen mich wie ein Wiedererkennen: diese Akkorde dufteten genau so wie der junge Holunder geduftet hatte, so bittersüß, so stark und gepreßt, so voll Vorfrühling! Von jener Stunde an ist für mich die Assoziation Vorfrühling – Holunderduft – Schubertakkord eine feststehende und absolut gültige, mit dem Anschlagen des Akkords rieche ich sofort und unbedingt den herben Pflanzengeruch wieder, und beides zusammen heißt: Vorfrühling. Ich besitze an dieser privaten Assoziation etwas sehr Schönes, etwas, das ich für nichts hergeben möchte. Aber die Assoziation, das jedesmalige Aufzucken zweier sinnlicher Erlebnisse beim Gedanken »Vorfrühling,« ist meine Privatsache. Sie läßt sich mitteilen, gewiß, so wie ich sie euch hier erzählt habe. Aber sie läßt sich nicht übertragen. Ich kann euch meine Assoziation verständlich machen, aber ich kann nicht machen, daß auch nur bei einem einzigen von euch meine private Assoziation gleichfalls zu einem gültigen Zeichen, zu einem Mechanismus wird, der auf Anruf unfehlbar reagiert und stets genau gleich abläuft.«