Einer von Knechts Mitschülern, der es später bis zum ersten Archivar des Glasperlenspiels gebracht hat, wußte zu erzählen, daß Knecht im ganzen ein stillfröhlicher Knabe gewesen sei, beim Musizieren habe er zuweilen einen wunderbar versunkenen oder seligen Ausdruck gehabt, heftig und leidenschaftlich habe man ihn nur selten gesehen, besonders beim rhythmischen Ballspiel, das er sehr liebte. Einige Male aber sei der freundliche, gesunde Knabe aufgefallen und habe Spott oder auch Besorgnis erregt, nämlich bei einigen Fällen von Schülerentlassungen, wie sie ja namentlich an den niedern Eliteschulen des öftern notwendig werden. Als es das erstemal vorkam, daß ein Klassenkamerad beim Unterricht und Spiel fehlte und auch andern Tages nicht wiederkam und es sich herumsprach, daß er nicht etwa krank, sondern entlassen und abgereist sei und nicht wiederkommen werde, da sei Knecht nicht nur traurig, sondern tagelang wie verstört gewesen. Er selbst habe sich später, um Jahre später, so darüber geäußert: »Wenn ein Schüler aus Eschholz zurückgeschickt wurde und uns verließ, empfand ich es jedesmal wie einen Todesfall. Hätte man mich nach dem Grund meiner Trauer gefragt, so hätte ich gesagt, es sei Mitleid mit dem Armen, der sich durch Leichtsinn und Trägheit seine Zukunft verdorben habe, und es sei auch Angst dabei, Angst, daß es auch mir vielleicht einmal so gehen könnte. Erst nachdem ich das gleiche schon des öftern erlebt hatte und im Grunde an die Möglichkeit, das gleiche Schicksal könne auch mich treffen, gar nicht mehr glaubte, begann ich etwas tiefer zu sehen. Jetzt empfand ich den Ausschluß eines Electus nicht mehr nur als Unglück und Strafe, es war mir ja jetzt auch bekannt, daß die Entlassenen selbst in manchen Fällen ganz gerne wieder nach Hause zogen. Ich spürte jetzt, daß es nicht bloß Gericht und Strafe gab, denen ein Leichtsinniger zum Opfer fallen konnte, sondern daß die »Welt« dort draußen, aus der wir Electi alle einst gekommen waren, nicht in dem Maße aufgehört habe zu existieren, wie es mir erschien, daß sie vielmehr für manche eine große Wirklichkeit voll Anziehungskraft war, die sie lockte und schließlich zurückrief. Und vielleicht war sie das nicht nur für einzelne, sondern für alle, vielleicht auch war es gar nicht ausgemacht, daß es die Schwächeren und Minderwertigen seien, welche die ferne Welt so sehr anzog: vielleicht war der scheinbare Rückfall, den sie erlitten, gar kein Fall und kein Erleiden, sondern ein Sprung und eine Tat, und vielleicht waren wir, die wir brav in Eschholz blieben, gerade die Schwachen und Feigen.« Wir werden sehen, daß diese Gedanken ihm etwas später sehr lebendig nahe traten.
Eine große Freude war für ihn jedes Wiedersehen mit dem Musikmeister. Der kam mindestens alle zwei bis drei Monate einmal nach Eschholz, besuchte und inspizierte die Musikstunden, war auch mit einem der dortigen Lehrer befreundet, dessen Gast er nicht selten für einige Tage war. Einmal leitete er persönlich die letzten Proben zur Aufführung einer Vesper von Monteverdi. Vor allem aber behielt er die Begabteren unter den Musikschülern im Auge, und Knecht gehörte zu denen, die er seiner väterlichen Freundschaft würdigte. Je und je saß er mit ihm eine Stunde in einer der Übungskammern am Klavier und nahm Werke seiner Lieblingsmusiker mit ihm durch oder ein Musterbeispiel aus den alten Kompositionslehren. »Mit dem Musikmeister einen Kanon zu bauen oder ihn einen schlechtgebauten ad absurdum führen zu hören, hatte oft eine Feierlichkeit oder auch eine Munterkeit wie nichts andres, manchmal konnte man kaum die Tränen zurückhalten, und manchmal kam man nicht aus dem Lachen heraus. Aus einer privaten Musikstunde bei ihm kam man wie aus einem Bad und einer Massage.«
Als Knechts Eschholzer Schülerzeit sich ihrem Ende näherte – er sollte zusammen mit etwa einem Dutzend andrer Schüler seiner Stufe in eine Schule der nächsten Stufe aufgenommen werden – hielt diesen Kandidaten einst der Rektor die übliche Rede, in welcher er den Promovierten nochmals den Sinn und die Gesetze der kastalischen Schulen vor Augen stellte und ihnen gewissermaßen im Namen des Ordens den Weg vorzeichnete, an dessen Ende sie das Recht haben würden, selbst in den Orden einzutreten. Diese solenne Rede gehört zum Programm eines Festtages, den die Schule ihren Promovierten gibt und an welchem diese von Lehrern und Mitschülern wie Gäste behandelt werden. Stets finden an diesen Tagen sorgfältig vorbereitete Aufführungen statt – diesmal war es eine große Kantate aus dem siebzehnten Jahrhundert – und der Musikmeister war selber gekommen, sie anzuhören. Nach des Rektors Rede, auf dem Wege zum geschmückten Speisesaal, näherte sich Knecht dem Meister mit einer Frage: »Der Rektor,« sagte er, »hat uns davon erzählt, wie es außerhalb von Kastalien, in den gewöhnlichen Schulen und Hochschulen, zugeht. Er hat gesagt, daß die dortigen Schüler sich auf ihren Universitäten den »freien« Berufen zuwenden. Es sind das, wenn ich ihn richtig verstanden habe, zum größern Teil Berufe, welche wir hier in Kastalien gar nicht kennen. Wie soll ich das nun verstehen? Warum nennt man jene Berufe »frei'? Und warum sollen gerade wir Kastalier von ihnen ausgeschlossen sein?«
Der Magister Musicae zog den Jüngling beiseite und blieb unter einem der Mammutbäume stehen. Ein beinahe listiges Lächeln zog die Haut um seine Augen in Fältchen, als er ihm Antwort gab: »Du trägst den Namen Knecht, mein Lieber, vielleicht hat darum das Wort »frei« so viel Zauber für dich. Nimm es aber nicht zu ernst in diesem Fall! Wenn die Nichtkastalier von freien Berufen sprechen, so wird das Wort vielleicht sehr ernsthaft und sogar pathetisch klingen. Von uns aber wird es ironisch gemeint. Eine Freiheit jener Berufe zwar besteht insofern, als der Lernende sich den Beruf selbst erwählt. Das gibt einen Anschein von Freiheit, obwohl in den meisten Fällen die Wahl weniger vom Schüler als von dessen Familie getroffen wird und mancher Vater sich lieber die Zunge abbisse, als seinem Sohn diese freie Wahl wirklich überließe. Aber vielleicht ist das Verleumdung; schalten wir diesen Einwand aus! Die Freiheit also sei da, aber sie beschränkt sich auf den einen, einzigen Akt der Berufswahl. Nachher ist es mit der Freiheit zu Ende. Schon bei den Studien an der Hochschule ist der Arzt, der Jurist, der Techniker in einen sehr starren Lehrgang gezwängt, der mit einer Reihe von Prüfungen endet. Hat er sie bestanden, dann bekommt er sein Patent und kann nun, wieder in scheinbarer Freiheit, seinem Beruf nachgehen. Er wird damit aber ein Sklave niedriger Mächte, er hängt vom Erfolg, vom Geld, von seinem Ehrgeiz, seiner Ruhmsucht, vom Gefallen ab, das die Menschen an ihm finden oder nicht finden. Er muß sich Wahlen unterziehen, er muß Geld verdienen, er nimmt teil am rücksichtslosen Wettkampf der Kasten, der Familien, der Parteien, der Zeitungen. Dafür hat er die Freiheit, erfolgreich und wohlhabend zu werden und von den Erfolglosen gehaßt zu werden oder umgekehrt. Mit dem Eliteschüler und spätem Mitglied des Ordens steht es in jeder Hinsicht umgekehrt. Er »wählt« sich keinen Beruf. Er glaubt nicht, seine Talente besser beurteilen zu können als die Lehrer. Er läßt sich innerhalb der Hierarchie immer an den Ort stellen und zu der Funktion bestimmen, welche die Oberen für ihn wählen – sofern nämlich die Sache nicht etwa umgekehrt läuft und die Eigenschaften, Gaben und Fehler des Schülers es sind, welche die Lehrer zwingen, ihn hierhin oder dorthin zu stellen. Inmitten dieser scheinbaren Unfreiheit nun genießt jeder Electus nach seinen ersten Kursen die denkbar größte Freiheit. Während der Mann der »freien« Berufe sich zur Ausbildung in seinem Fach einem engen und starren Lehrgang mit starren Prüfungen unterziehen muß, geht beim Electus, sobald er selbständig zu studieren beginnt, die Freiheit so weit, daß es viele gibt, welche ihr Leben lang nach eigener Wahl die entlegensten und oft fast närrischen Studien betreiben, und niemand stört sie darin, solange nur nicht ihre Sitten entarten. Der zum Lehrer Geeignete wird als Lehrer verwendet, der zum Erzieher Geeignete als Erzieher, der zum Übersetzer Geeignete als Übersetzer, jeder findet wie von selbst den Ort, an welchem er dienen und im Dienen frei sein kann. Und nun ist er außerdem für sein ganzes Leben jener »Freiheit« des Berufes entzogen, die so furchtbare Sklaverei bedeutet. Er weiß nichts vom Streben nach Geld, nach Ruhm, nach Rang, er kennt keine Parteien, keinen Zwiespalt zwischen Person und Amt, zwischen Privat und öffentlich, keine Abhängigkeit vom Erfolg. Du siehst wohl, mein Sohn: wenn man von freien Berufen spricht, so ist das »frei« ziemlich spaßhaft gemeint.«