Es hatte eine Weile den Anschein, als habe Knecht sich entschlossen, nichts als Musiker zu werden; alle im Belieben des Schülers stehenden Lehrfächer, darunter die erste Einführung ins Glasperlenspiel, versäumte er zugunsten der Musik so sehr, daß gegen Ende des ersten Semesters der Schulvorstand ihn darüber zur Rede stellte. Der Schüler Knecht ließ sich nicht einschüchtern, er stellte sich hartnäckig auf den Standpunkt der Schülerrechte. Er soll zum Vorstand gesagt haben: »Wenn ich in einem offiziellen Unterrichtsfach versage, so sind Sie im Recht, wenn Sie mich tadeln; ich habe Ihnen dazu aber keinen Anlaß gegeben. Ich dagegen bin im Recht, wenn ich von der Zeit, über die ich verfügen darf, drei Viertel oder auch vier Viertel der Musik widme. Ich berufe mich auf die Statuten.« Der Vorstand Zbinden war klug genug, nicht zu insistieren, merkte sich aber natürlich diesen Schüler und soll ihn lange Zeit mit kühler Strenge behandelt haben.
Länger als ein Jahr, vermutlich etwa anderthalb Jahre dauerte diese eigentümliche Periode in Knechts Schülerleben: normale, aber nicht glänzende Zeugnisse und stilles und – wie es nach dem Vorfall mit dem Vorstande scheint – etwas trotziges Sichzurückziehen, keine irgend auffallenden Freundschaften, dafür aber dieser ungewöhnlich leidenschaftliche Eifer im Musizieren, Enthaltung von fast allen Privatfächern, auch dem Glasperlenspiel. Einige Züge in diesem Jünglingsbild sind ohne Zweifel Merkmale der Pubertät; wahrscheinlich ist er in dieser Periode dem andern Geschlecht nur zufällig und mißtrauisch begegnet, vermutlich war er – gleich vielen Eschholzern, wenn sie nicht Schwestern zu Hause hatten – recht schüchtern. Gelesen hat er viel und besonders deutsche Philosophen: Leibniz, Kant und die Romantiker, von denen ihn Hegel weitaus am stärksten anzog.
Wir müssen nun etwas eingehender jenes anderen Mitschülers gedenken, der in Knechts Waldzeller Leben eine bestimmende Rolle gespielt hat, des Hospitanten Plinio Designori. Er war Hospitant, das heißt er durchlief die Eliteschulen gastweise, nämlich ohne die Absicht, dauernd in der pädagogischen Provinz zu verweilen und dem Orden beizutreten. Solche Hospitanten gab es je und je, freilich recht selten, denn die Erziehungsbehörde hat natürlich niemals Wert auf die Ausbildung von Schülern gelegt, welche nach Ablauf der Eliteschulzeit wieder ins Elternhaus und in die Welt zurückzukehren gedachten. Indessen gab es einige alte, um Kastalien in den Zeiten seiner Gründung hochverdiente patrizische Familien im Lande, in welchen die auch heute noch nicht völlig ausgestorbene Sitte bestand, jeweilen einen Sohn, falls seine Begabung dafür ausreichte, gastweise in den Eliteschulen erziehen zu lassen; das Recht dazu war in jenen paar Familien traditionell geworden. Diese Hospitanten nun, obwohl sie in jeder Hinsicht denselben Regeln wie alle Eliteschüler unterstanden, bildeten innerhalb der Schülerschaft schon dadurch eine Ausnahme, daß sie nicht gleich den andern von Jahr zu Jahr mehr ihrer Heimat und Familie sich entfremdeten, sondern alle Ferienzeiten dort verbrachten und inmitten ihrer Mitschüler stets Gäste und Fremdlinge blieben, da sie die Sitte und Denkart der Heimat beibehielten. Auf sie wartete Elternhaus, weltliche Laufbahn, Beruf und Heirat, und nur sehr wenige Male ist es geschehen, daß ein solcher Gastschüler, vom Geiste der Provinz ergriffen, mit Einwilligung seiner Familie am Ende doch in Kastalien verblieb und dem Orden beitrat. Dagegen sind mehrere in der Geschichte unsres Landes bekannte Staatsmänner in ihrer Jugend Gastschüler gewesen und sind in Zeiten, da die öffentliche Meinung aus diesen oder jenen Gründen den Eliteschulen und dem Orden kritisch gegenüberstand, kräftig für sie eingetreten.
Ein solcher Hospitant also war Plinio Designori, mit welchem der etwas jüngere Josef Knecht in Waldzell zusammentraf. Er war ein Jüngling von hohen Gaben, glänzend namentlich in Rede und Debatte, ein feuriger und etwas unruhiger Mensch, der dem Schulvorstand Zbinden viele Sorgen machte, denn er hielt sich als Schüler zwar gut und ließ sich nicht tadeln, war aber keineswegs darum bemüht, seine Ausnahmestellung als Hospitant zu vergessen und sich möglichst unauffällig einzureihen, sondern bekannte sich freimütig und kampflustig zu einer nichtkastalischen und weltlichen Gesinnung. Es konnte nicht ausbleiben, daß zwischen den beiden Schülern ein besonderes Verhältnis entstand: beide waren sie Hochbegabte und Berufene, das machte sie zu Brüdern, während sie in allem andern Gegensätze waren. Es hätte eines Lehrers von ungewöhnlich hoher Einsicht und Kunst bedurft, um aus der hier entstehenden Aufgabe die Quintessenz zu ziehen und nach den Regeln der Dialektik zwischen und über den Gegensätzen immer wieder die Synthese zu ermöglichen. Dem Vorstand Zbinden hätte es dazu an Gaben und an Willen nicht gefehlt, er gehörte nicht zu jenen Lehrern, welchen die Genies unbequem sind, aber es fehlte ihm für diesen Fall die wichtigste Voraussetzung: das Vertrauen der beiden Schüler. Plinio, der sich in der Rolle des Outsiders und Revolutionärs gefiel, blieb dem Vorstand gegenüber stets sehr auf der Hut; und mit Josef Knecht hatte es leider jene Verstimmung wegen seiner Privatstudien gegeben, auch er hätte sich nicht um Rat an Zbinden gewandt. Zum Glück gab es aber den Musikmeister. An ihn gelangte Knecht mit der Bitte um Beistand und Rat, und dieser weise alte Musikant nahm sich der Sache ernstlich an und hat das Spiel meisterhaft gelenkt, wie wir sehen werden. Unter den Händen dieses Meisters wurde die größte Gefahr und Versuchung im Leben des jungen Knecht zu einer auszeichnenden Aufgabe, und dieser zeigte sich ihr gewachsen. Die innere Geschichte der Freund-Feindschaft zwischen Josef und Plinio, oder dieser Musik über zwei Themata, oder dieses dialektischen Spieles zwischen zwei Geistern war etwa die folgende.
Zunächst war es natürlich Designori, der dem Gegenspieler auffiel und ihn anzog. Er war nicht nur der ältere, war nicht nur ein hübscher, feuriger und beredter Jüngling, vor allem andern war er einer »von draußen,« ein Nichtkastalier, einer aus der Welt, ein Mensch mit Vater und Mutter, Onkeln, Tanten, Geschwistern, einer, für den Kastalien samt allen seinen Gesetzen, Traditionen und Idealen nur eine Etappe, eine Wegstrecke, einen befristeten Aufenthalt bedeutete. Für diesen weißen Raben war Kastalien nicht die Welt, für ihn war Waldzell eine Schule wie andre, für ihn war die Rückkehr in die »Welt« keine Schmach und Strafe, auf ihn wartete nicht der Orden, sondern die Karriere, die Ehe, die Politik, kurz jenes »reale Leben,« von welchem mehr zu wissen jeder Kastalier ein heimliches Gelüste empfand, denn die »Welt« war für den Kastalier dasselbe, was sie einst für den Büßer und Mönch gewesen war: das Minderwertige und Verbotene zwar, aber nicht minder das Geheimnisvolle, Verführerische, Faszinierende. Und Plinio nun machte wirklich aus seiner Zugehörigkeit zur Welt kein Geheimnis, er schämte sich ihrer keineswegs, er war stolz auf sie. Mit einem halb noch knabenhaften und schauspielerischen, halb auch schon bewußten und als Programm empfundenen Eifer betonte er seine andere Art und benutzte jeden Anlaß, um seine weltlichen Auffassungen und Normen den kastalischen gegenüberzustellen und sie als besser, richtiger, natürlicher, menschlicher auszugeben. Er operierte dabei viel mit der »Natur« und mit dem »gesunden Menschenverstand,« den er dem verbildeten, lebensfremden Schulgeist gegenüberstellte, und war mit Schlagworten und großen Tönen nicht sparsam, doch war er klug und hatte Geschmack genug, sich nicht mit groben Provokationen zu begnügen, sondern die in Waldzell gebräuchlichen Formen des Disputierens so ziemlich anzuerkennen. Er wollte die »Welt« und das naive Leben gegen die »hochmütig scholastische Geistigkeit« Kastaliens verteidigen, aber er wollte zeigen, daß er imstande sei, dies mit den Waffen der Gegner zu tun; keineswegs wollte er der Kulturlose sein, der blind im Blumengarten der geistigen Bildung herumtrampelt.