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Es wurden auch Vorträge gehalten, und wir müssen auch diese etwas vornehmere Abart des Feuilletons kurz zur Sprache bringen. Es wurden von Fachleuten sowohl wie von geistigen Buschkleppern den Bürgern jener Zeit, welche noch sehr an dem seiner einstigen Bedeutung beraubten Begriff der Bildung hingen, außer den Aufsätzen auch Vorträge in großer Zahl geboten, nicht etwa nur im Sinne von Festreden bei besonderen Anlässen, sondern in wilder Konkurrenz und kaum begreiflicher Masse. Es konnte damals der Bürger einer mittelgroßen Stadt oder seine Frau etwa jede Woche einmal, in großen Städten aber so ziemlich jeden Abend Vorträge anhören, in welchen er über irgendein Thema theoretisch belehrt wurde, über Kunstwerke, über Dichter, Gelehrte, Forscher, Weltreisen, Vorträge, in welchen der Zuhörer rein passiv blieb und welche irgendeine Beziehung des Hörers zum Inhalt, irgendeine Vorbildung, irgendeine Vorbereitung und Aufnahmefähigkeit stillschweigend voraussetzten, ohne daß diese in den meisten Fällen vorhanden war. Es gab da unterhaltende, temperamentvolle oder witzige Vorträge etwa über Goethe, in welchen er im blauen Frack aus Postkutschen stieg und Straßburger oder Wetzlarer Mädchen verführte, oder über arabische Kultur, in welchen eine Anzahl von intellektuellen Modeworten wie im Würfelbecher durcheinandergeworfen wurden und jeder sich freute, wenn er eines von ihnen annähernd wiedererkannte. Man hörte Vorträge über Dichter, deren Werke man niemals gelesen hatte oder zu lesen gesonnen war, ließ sich etwa dazu auch mit Lichtbildapparaten Abbildungen vorführen und kämpfte sich, genau wie im Feuilleton der Zeitungen, durch eine Sintflut von vereinzelten, ihres Sinnes beraubten Bildungswerten und Wissensbruchstücken. Kurz, man stand schon dicht vor jener grauenhaften Entwertung des Wortes, welche vorerst ganz im geheimen und in kleinsten Kreisen jene heroisch-asketische Gegenbewegung hervorrief, welche bald darauf sichtbar und mächtig und der Ausgang einer neuen Selbstzucht und Würde des Geistes wurde.

Die Unsicherheit und Unechtheit des geistigen Lebens jener Zeit, welche doch sonst in mancher Hinsicht Tatkraft und Größe zeigte, erklären wir Heutigen uns als ein Symptom des Entsetzens, das den Geist befiel, als er sich am Ende einer Epoche scheinbaren Siegens und Gedeihens plötzlich dem Nichts gegenüber fand: einer großen materiellen Not, einer Periode politischer und kriegerischer Gewitter und einem über Nacht emporgeschossenen Mißtrauen gegen sich selbst, gegen seine eigene Kraft und Würde, ja gegen seine eigene Existenz. Dabei fielen in jene Periode der Untergangsstimmung noch manche sehr hohe geistige Leistungen, unter anderm die Anfänge einer Musikwissenschaft, deren dankbare Erben wir sind. Aber so leicht es ist, beliebige Abschnitte der Vergangenheit in die Weltgeschichte schön und sinnvoll einzuordnen, so unfähig ist jede Gegenwart zu ihrer Selbsteinordnung, und so griff damals, bei raschem Sinken der geistigen Ansprüche und Leistungen bis zu einem sehr bescheidenen Niveau, gerade unter den Geistigen eine furchtbare Unsicherheit und Verzweiflung um sich. Soeben nämlich hatte man entdeckt (eine seit Nietzsche schon da und dort geahnte Entdeckung), daß es mit der Jugend und der schöpferischen Periode unsrer Kultur vorüber, daß das Alter und die Abenddämmerung angebrochen sei, und aus dieser plötzlich von allen gefühlten und von vielen schroff formulierten Einsicht erklärte man sich so viele beängstigende Zeichen der Zeit: die öde Mechanisierung des Lebens, das tiefe Sinken der Moral, die Glaubenslosigkeit der Völker, die Unechtheit der Kunst. Es war, wie in jenem wunderbaren chinesischen Märchen, die »Musik des Untergangs« erklungen, wie ein langdröhnender Orgelbaß schwang sie jahrzehntelang aus, rann als Korruption in die Schulen, die Zeitschriften, die Akademien, rann als Schwermut und Geisteskrankheit in die meisten der noch ernst zu nehmenden Künstler und Zeitkritiker, tobte sich als wilde und dilettantische Überproduktion in allen Künsten aus. Es gab verschiedene Haltungen diesem eingedrungenen und nicht mehr hinwegzuzaubernden Feinde gegenüber. Man konnte die bittere Wahrheit schweigend erkennen und sie stoisch ertragen, das taten manche der Besten. Man konnte sie wegzulügen versuchen, und dazu boten die literarischen Verkünder der Lehre vom Untergang der Kultur manchen bequemen Angriffspunkt; außerdem hatte, wer den Kampf gegen jene drohenden Propheten aufnahm, beim Bürger Gehör und Einfluß, denn daß die Kultur, die man noch gestern zu besitzen gemeint hatte und auf die man so stolz gewesen war, gar nicht mehr am Leben sein, daß die vom Bürger geliebte Bildung, die von ihm geliebte Kunst keine echte Bildung und keine echte Kunst mehr sein solle, das schien ihm nicht weniger frech und unerträglich als die plötzlichen Geldinflationen und als die Bedrohung seiner Kapitalien durch Revolutionen. Außerdem gab es gegen die große Untergangsstimmung noch die zynische Haltung, man ging tanzen und erklärte jede Sorge um die Zukunft für altväterische Torheit, man sang stimmungsvolle Feuilletons über das nahe Ende der Kunst, der Wissenschaft, der Sprache, man stellte mit einer gewissen Selbstmörder-Wollust in der Feuilleton-Welt, die man selber aus Papier gebaut hatte, eine vollständige Demoralisierung des Geistes, eine Inflation der Begriffe fest und tat, als sähe man mit zynischer Gelassenheit oder bacchantischer Hingerissenheit zu, wie nicht bloß Kunst, Geist, Sitte, Redlichkeit, sondern sogar Europa und »die Welt« unterging. Es herrschte bei den Guten ein still-düsterer, bei den Schlechten ein hämischer Pessimismus, und es mußte erst ein Abbau des Überlebten und eine gewisse Umordnung der Welt und der Moral durch Politik und Krieg vorangehen, ehe auch die Kultur einer wirklichen Selbstbetrachtung und neuen Einordnung fähig wurde.

Indessen hatte diese Kultur während der Jahrzehnte des Überganges nicht im Schlaf gelegen, sondern gerade während ihres Verfalls und ihrer scheinbaren Selbstaufgabe durch die Künstler, Professoren und Feuilletonisten gelangte sie im Gewissen einzelner zu schärfster Wachheit und Selbstprüfung. Schon mitten in der Blütezeit des Feuilletons gab es überall einzelne und kleine Gruppen, welche entschlossen waren, dem Geist treu zu bleiben und mit allen Kräften einen Kern von guter Tradition, von Zucht, Methode und intellektuellem Gewissen über diese Zeit hinwegzuretten. Soweit diese Vorgänge uns heute erkennbar sind, scheint der Prozeß der Selbstprüfung, der Besinnung und des bewußten Widerstandes gegen den Verfall sich hauptsächlich in zwei Gruppen vollzogen zu haben. Das Kulturgewissen der Gelehrten flüchtete sich in die Forschungen und Lehrmethoden der Musikgeschichte, denn diese Wissenschaft kam eben damals in die Höhe, und mitten in der Feuilletonwelt züchteten zwei berühmt gewordene Seminare eine vorbildlich saubere und gewissenhafte Arbeitsmethode hoch. Und als wolle das Schicksal diesen Bemühungen einer winzig kleinen tapferen Kohorte tröstlich zunicken, geschah mitten in der trübsten Zeit jenes holde Wunder, an sich ein Zufall, aber wirkend wie eine göttliche Bestätigung: die Wiederauffindung der elf Manuskripte von Johann Sebastian Bach aus dem einstigen Besitz seines Sohnes Friedemann! Ein zweiter Punkt des Widerstandes gegen die Entartung war der Bund der Morgenlandfahrer, dessen Brüder weniger eine intellektuelle als eine seelische Zucht, eine Pflege der Frömmigkeit und Ehrfurcht betrieben – von dieser Seite her gewann unsre heutige Form der Geistespflege und des Glasperlenspiels wichtige Antriebe, namentlich nach der kontemplativen Seite hin. Auch an den neuen Einsichten in das Wesen unsrer Kultur und in die Möglichkeiten ihres Fortbestehens hatten die Morgenlandfahrer Anteil, nicht so sehr durch wissenschaftlich-analytische Leistungen als durch ihre auf alten Geheimübungen beruhende Fähigkeit des magischen Eintretens in entlegene Zeiten und Kulturzustände. Es gab unter ihnen zum Beispiel Musikanten und Sänger, von welchen versichert wird, daß sie die Fähigkeit besaßen, Musiken früherer Epochen in der vollkommenen alten Reinheit auszuführen, also zum Beispiel eine Musik von 1600 oder 1650 genau so zu spielen und zu singen, als seien alle später hinzugekommenen Moden, Verfeinerungen, Virtuositäten noch unbekannt. Es war dies zu jener Zeit, wo die Sucht nach Dynamik und Steigerung alles Musizieren beherrschte und wo man über der Ausführung und der »Auffassung« des Dirigenten beinahe der Musik selbst vergaß, etwas Unerhörtes; es wird berichtet, daß die Zuhörer teils vollkommen verständnislos blieben, teils aber aufhorchten und zum erstenmal in ihrem Leben Musik zu hören glaubten, als ein Orchester der Morgenlandfahrer zum erstenmal öffentlich eine Suite aus der Zeit vor Händel vollkommen ohne Schwellungen und Abschwellungen spielte, mit der Naivität und Keuschheit einer ändern Zeit und Welt. Einer vom Bunde hat in der Bundeshalle zwischen Bremgarten und Morbio eine Bachorgel gebaut, vollkommen so, wie Johann Sebastian Bach sie sich hätte bauen lassen, wenn er die Mittel und Möglichkeit dazu besessen hätte. Der Orgelbauer hat nach einem bei seinem Bunde schon damals geltenden Grundsatz seinen Namen verborgen gehalten und sich Silbermann genannt, nach seinem Vorgänger im achtzehnten Jahrhundert.