Übrigens waren die Ausdrücke der christlichen Theologie, soweit sie klassisch formuliert und damit allgemeines Kulturgut zu sein schienen, natürlich mit in die Zeichensprache des Spieles aufgenommen, und es konnte etwa einer der Hauptbegriffe des Glaubens oder der Wortlaut einer Bibelstelle, ein Satz aus einem Kirchenvater oder aus dem lateinischen Messetext ebenso leicht und exakt ausgedrückt und in das Spiel mit aufgenommen werden wie ein Axiom der Geometrie oder eine Mozartmelodie. Es ist kaum übertrieben, wenn wir zu sagen wagen: für den engen Kreis der echten Glasperlenspieler war das Spiel nahezu gleichbedeutend mit Gottesdienst, während es sich jeder eigenen Theologie enthielt.
Im Kampf um ihren Bestand inmitten der ungeistigen Weltmächte nun waren sowohl die Glasperlenspieler wie die Römische Kirche allzusehr aufeinander angewiesen, als daß man es hätte auf eine Entscheidung zwischen beiden ankommen lassen, obwohl dazu häufige Anlässe sich gefunden hätten, denn bei beiden Mächten trieben die intellektuelle Redlichkeit und der echte Drang nach scharfer, eindeutiger Formulierung zu einer Scheidung. Vollzogen wurde sie jedoch niemals. Rom begnügte sich damit, dem Spiele bald wohlwollender, bald ablehnender gegenüberzustehen, es gehörten ja auch in den Kongregationen und im höheren und höchsten Klerus manche der besten Begabungen mit zu den Spielern. Und das Spiel selbst stand, seit es öffentliche Spiele und einen Ludi Magister gab, unter dem Schutz des Ordens und der Erziehungsbehörden, welche beide Rom gegenüber stets die Höflichkeit und Ritterlichkeit selbst waren. Papst Pius XV, der noch als Kardinal ein guter und eifriger Glasperlenspieler gewesen war, nahm als Papst nicht nur, gleich seinen Vorgängern, für immer vom Spiele Abschied, sondern versuchte auch ihm den Prozeß zu machen; es war damals nahe daran, daß den Katholiken das Spiel verboten worden wäre. Aber der Papst starb, ehe es dazu kam, und eine vielgelesene Biographie dieses nicht unbedeutenden Mannes stellte sein Verhältnis zum Glasperlenspiel als das einer tiefen Leidenschaft dar, welcher er als Papst nur noch in feindseliger Form Herr zu werden wußte.
Seine öffentliche Organisation erfuhr das Spiel, das früher von einzelnen und von Kameradschaften frei betrieben worden, aber allerdings schon lange von der Erziehungsbehörde freundlich gefördert worden war, zuerst in Frankreich und England, die übrigen Länder folgten ziemlich rasch nach. Es wurden nun in jedem Lande eine Spielkommission und ein oberster Spielleiter bestimmt, mit dem Titel Ludi Magister, und es wurden offizielle, unter der persönlichen Leitung des Magisters durchgeführte Spiele zu geistigen Feierlichkeiten erhoben. Der Magister blieb natürlich, wie alle hohen und höchsten Funktionäre der Geistespflege, anonym; außer den paar Nächsten kannte niemand ihn mit seinem persönlichen Namen. Einzig den offiziellen, großen Spielen, für welche der Ludi Magister verantwortlich war, standen die offiziellen und internationalen Verbreitungsmittel wie Rundfunk und so weiter zur Verfügung. Außer der Leitung der öffentlichen Spiele gehörte zu den Pflichten des Magisters die Förderung der Spieler und Spielschulen, vor allem aber hatten die Magister aufs strengste über die Weiterbildung des Spieles zu wachen. Die Weltkommission aller Länder allein entschied über die (heute kaum mehr vorkommende) Aufnahme neuer Zeichen und Formeln in den Bestand des Spieles, über etwaige Erweiterungen der Spielregeln, über die Wünschbarkeit oder Entbehrlichkeit neu einzubeziehender Gebiete. Betrachtet man das Spiel als eine Art Weltsprache der Geistigen, so sind die Spielkommissionen der Länder unter Leitung ihrer Magister in ihrer Gesamtheit die Akademie, welche den Bestand, die Fortbildung, die Reinhaltung dieser Sprache überwacht. Jede Landeskommission ist im Besitz des Spielarchives, das heißt sämtlicher bis anher geprüften und zugelassenen Zeichen und Schlüssel, deren Zahl längst eine sehr viel höhere geworden ist als die Zahl der alten chinesischen Schriftzeichen. Im allgemeinen gilt als genügende Vorbildung für einen Glasperlenspieler das Schlußexamen der gelehrten höheren Schulen, namentlich aber der Eliteschulen, doch wurde und wird stillschweigend die überdurchschnittliche Beherrschung einer der führenden Wissenschaften oder der Musik vorausgesetzt. Es einmal bis zum Mitglied der Spielkommission oder gar zum Ludi Magister zu bringen, war der Traum beinahe jedes Fünfzehnjährigen in den Eliteschulen. Aber schon unter den Doktoranden war es nur noch ein winziger Teil, welcher noch ernstlich an dem Ehrgeiz festhielt, dem Glasperlenspiel und seiner Weiterbildung aktiv dienen zu dürfen. Dafür übten sich alle diese Liebhaber des Spiels fleißig in der Spielkunde und der Meditation und bildeten bei den »großen« Spielen jenen innersten Ring von andächtigen und hingegebenen Teilnehmern, welche den öffentlichen Spielen den feierlichen Charakter geben und sie vor dem Entarten zu bloß dekorativen Akten bewahren. Für diese eigentlichen Spieler und Liebhaber ist der Ludi Magister ein Fürst oder Hohepriester, beinahe eine Gottheit.
Für jeden selbständigen Spieler aber, und gar für den Magister, ist das Glasperlenspiel in erster Linie ein Musizieren, etwa im Sinn jener Worte, die Josef Knecht einmal über das Wesen der klassischen Musik gesagt hat:
»Wir halten die klassische Musik für den Extrakt und Inbegriff unsrer Kultur, weil sie ihre deutlichste, bezeichnendste Gebärde und Äußerung ist. Wir besitzen in dieser Musik das Erbe der Antike und des Christentums, einen Geist heiterer und tapferer Frömmigkeit, eine unübertrefflich ritterliche Moral. Denn eine Moral letzten Endes bedeutet jede klassische Kulturgebärde, ein zur Gebärde zusammengezogenes Vorbild des menschlichen Verhaltens. Es ist ja zwischen 1500 und 1800 mancherlei Musik gemacht worden, Stile und Ausdrucksmittel waren höchst verschieden, aber der Geist, vielmehr die Moral ist überall dieselbe. Immer ist die menschliche Haltung, deren Ausdruck die klassische Musik ist, dieselbe, immer beruht sie auf derselben Art von Lebenserkenntnis und strebt nach derselben Art von Überlegenheit über den Zufall. Die Gebärde der klassischen Musik bedeutet: Wissen um die Tragik des Menschentums, Bejahen des Menschengeschicks, Tapferkeit, Heiterkeit! Ob das nun die Grazie eines Menuetts von Händel oder von Couperin ist, oder die zu zärtlicher Gebärde sublimierte Sinnlichkeit wie bei vielen Italienern oder bei Mozart, oder die stille, gefaßte Sterbensbereitschaft wie bei Bach, es ist immer ein Trotzdem, ein Todesmut, ein Rittertum, und ein Klang von übermenschlichem Lachen darin, von unsterblicher Heiterkeit. So soll es auch in unsern Glasperlenspielen klingen, und in unsrem ganzen Leben, Tun und Leiden.«
Diese Worte wurden von einem Schüler Knechts aufgezeichnet. Mit ihnen beenden wir unsre Betrachtung über das Glasperlenspiel.
Lebensbeschreibung des Magister Ludi Josef Knecht
Die Berufung
Über Josef Knechts Herkunft ist uns nichts bekanntgeworden. Gleich vielen anderen Eliteschülern hat er entweder seine Eltern früh verloren oder ist von der Erziehungsbehörde aus ungünstigen Verhältnissen losgelöst und adoptiert worden. In jedem Falle ist ihm der Konflikt zwischen Eliteschule und Elternhaus erspart geblieben, der manchem anderen von seiner Art die Jugendjahre belastet und den Eintritt in den Orden erschwert hat und der in manchen Fällen hochbegabte junge Menschen zu schwierigen und problematischen Charakteren macht. Knecht gehört zu den Glücklichen, welche recht eigentlich für Kastalien, für den Orden und für den Dienst in der Erziehungsbehörde geboren und vorbestimmt scheinen; und wenn ihm auch die Problematik des geistigen Lebens keineswegs unbekannt geblieben ist, so war es ihm doch gegeben, die jedem geistgeweihten Leben eingeborene Tragik ohne persönliche Bitterkeit zu erleben. Es ist wohl auch nicht so sehr diese Tragik selbst, welche uns verlockt hat, der Persönlichkeit Josef Knechts unsre eingehende Betrachtung zu widmen; es ist vielmehr die stille, heitere, ja strahlende Art, mit welcher er sein Schicksal, seine Begabung, seine Bestimmung verwirklichte. Wie jeder bedeutende Mensch hat er sein Daimonion und seinen Amor fati, aber sein Amor fati zeigt sich uns frei von Düsterkeit und Fanatismus. Freilich wissen wir ja das Verborgene nicht und wollen nicht vergessen, daß Geschichte schreiben, auch wenn es noch so nüchtern und mit noch so gutem Willen zur Sachlichkeit getan wird, immer Dichtung bleibt und ihre dritte Dimension die Fiktion ist. So wissen wir, um große Beispiele zu wählen, ja keineswegs, ob etwa Johann Sebastian Bach oder Wolfgang Amadeus Mozart eigentlich auf eine heitere oder auf eine schwere Art gelebt haben. Mozart hat für uns die eigentümlich rührende und Liebe weckende Anmut der Frühvollendeten, Bach hat für uns die erbaulich-tröstliche Ergebenheit in das Leidenmüssen und Sterbenmüssen als in Gottes väterlichen Willen, aber wir lesen dies doch eigentlich keineswegs aus ihren Biographien und den überlieferten Tatsachen aus ihrem Privatleben, sondern wir lesen es einzig aus ihrem Werk, aus ihrer Musik. Ferner addieren wir zu dem Bach, dessen Biographie wir kennen und dessen Bild wir uns nach seiner Musik vorstellen, unwillkürlich auch noch sein postumes Schicksaclass="underline" wir lassen ihn gewissermaßen in unsrer Phantasie schon als Lebenden darum wissen, lassen ihn darüber lächeln und schweigen, daß sein gesamtes Werk gleich nach seinem Tode vergessen wurde und seine Handschriften als Makulatur untergingen, daß statt seiner einer seiner Söhne der »große Bach« wurde und Erfolge erntete, daß sein Werk dann nach seiner Wiedererweckung mitten in die Mißverständnisse und Barbareien der Feuilletonepoche geriet, und so weiter. Und ebenso sind wir geneigt, dem noch lebenden und in voller, gesunder Arbeit blühenden Mozart ein Wissen um seine Geborgenheit in Todeshand, einen Vorausbesitz seines Umschlossenseins vom Tode zuzuschreiben oder anzudichten. Wo ein Werk vorhanden ist, kann der Historiker gar nicht anders, er faßt es mit dem Leben seines Schöpfers als zwei untrennbare Hälften einer lebendigen Einheit zusammen. So tun wir mit Mozart oder mit Bach, so tun wir auch mit Knecht, obwohl er unsrer wesentlich unschöpferischen Epoche angehört und nicht ein »Werk« im Sinne jener Meister hinterlassen hat.