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Der Abschied von Eschholz bedeutete in Knechts Leben einen deutlichen Einschnitt. Hatte er bisher in einer glücklichen Kindheit, in einer willigen und beinahe problemlosen Einordnung und Harmonie gelebt, so begann jetzt eine Periode des Kampfes, der Entwicklungen und der Problematik. Er war etwa siebzehn Jahre alt, als ihm seine baldige Versetzung in eine höhere Schulstufe angekündigt wurde, ihm und einer Reihe von Kommilitonen, und jetzt gab es auf eine kurze Weile keine wichtigere und mehr diskutierte Frage für die Ausgewählten als die nach dem Ort, an den jeder von ihnen verpflanzt werden würde. Er wurde einem jeden der Tradition gemäß erst in den letzten Tagen vor der Abreise mitgeteilt, und in der Frist zwischen Entlassungsfest und Abreise waren Ferien. In diese Ferien nun fiel für Knecht ein schönes und bedeutendes Ereignis: der Musikmeister lud ihn ein, ihn auf einer Fußreise zu besuchen und einige Tage sein Gast zu sein. Das war eine große und seltene Ehre. Mit einem ebenfalls promovierten Kameraden – denn Knecht gehörte noch zu Eschholz, und den Schülern dieser Stufe war Alleinreisen nicht erlaubt – wanderte er eines frühen Morgens dem Wald und den Bergen entgegen, und als die beiden nach drei Stunden des Steigens im Waldschatten auf eine freie Kuppe gelangten, sahen sie unter sich schon klein und leicht überblickbar ihr Eschholz liegen, weithin kenntlich an der dunklen Masse der fünf Riesenbäume, am rasendurchzogenen Rechteck mit den spiegelnden Weihern, mit dem hohen Schulhaus, der Ökonomie, dem Dörfchen, dem berühmten Eschengehölz. Die beiden Jünglinge standen und blickten hinab; mancher von uns hat diesen lieblichen Blick in Erinnerung, er war damals nicht sehr vom heutigen verschieden, denn die Gebäude sind nach dem großen Brande beinahe unverändert wieder errichtet worden, und von den hohen Bäumen haben drei den Brand überlebt. Da sahen sie ihre Schule liegen, ihre Heimat seit Jahren, von der sie nun bald Abschied nehmen sollten, und beide fühlten sich von dem Anblick im Herzen ergriffen.

»Ich glaube, ich habe noch nie richtig gesehen, wie schön es ist,« sagte Josefs Begleiter. »Ach ja, es mag davon kommen, daß ich es zum erstenmal als etwas sehe, was ich verlassen und wovon ich Abschied nehmen muß.«

»Das ist es,« sagte Knecht, »du hast recht, es geht auch mir so. Aber wenn wir auch von hier fortgehen werden, eigentlich und richtig verlassen wir Eschholz ja doch nicht. Richtig verlassen haben es nur jene, die für immer fortgegangen sind, jener Otto zum Beispiel, der so wunderbare lateinische Juxverse machen konnte, oder unser Charlemagne, der so lang unter Wasser hat schwimmen können, und die anderen. Die haben wirklich Abschied genommen und sich losgelöst. Ich habe lange nicht mehr an sie gedacht, jetzt fallen sie mir wieder ein. Lache mich nur aus, aber diese Abgefallenen haben trotz allem für mich etwas Imponierendes, so wie der abtrünnige Engel Luzifer etwas Großes hat. Sie haben vielleicht das Falsche getan, vielmehr, sie haben ganz ohne Zweifel das Falsche getan, aber immerhin: sie haben etwas getan, sie haben etwas vollzogen, sie haben einen Sprung gewagt, es gehörte Mut dazu. Wir andern, wir haben Fleiß und Geduld gehabt, und Vernunft, aber getan haben wir nichts, gesprungen sind wir nicht!«

»Ich weiß nicht,« meinte der andre, »manche von ihnen haben weder etwas getan noch gewagt, sondern sie haben einfach gebummelt, bis man sie fortgeschickt hat. Aber vielleicht verstehe ich dich nicht ganz. Was meinst du denn mit dem Springen?«

»Damit meine ich das Loslassenkönnen, das Ernstmachen, nun eben – das Springen! Ich wünsche mir nicht, in meine frühere Heimat und in mein früheres Leben zurückzuspringen, sie zieht mich nicht, ich habe sie beinah vergessen. Aber ich wünsche mir: einmal, wenn die Stunde kommt und es notwendig sein wird, mich auch losmachen und springen zu können, bloß nicht zurück ins Geringere, sondern vorwärts und ins Höhere.«

»Nun, dem gehen wir ja entgegen. Eschholz war eine Stufe, die nächste wird höher sein, und schließlich erwartet uns der Orden.«

»Ja, aber das meinte ich nicht. Wir wollen weiterziehen, amice, das Wandern ist so schön, es wird mich wieder froh machen. Wir sind ja ganz trübsinnig geworden.«

In dieser Stimmung und diesen Worten, die jener Kamerad uns überliefert hat, meldet sich die stürmische Epoche von Knechts Jugendzeit schon an.

Zwei Tage waren die Wanderer unterwegs, bis sie am damaligen Wohnort des Musikmeisters anlangten, dem hochgelegenen Monteport, wo der Meister im ehemaligen Kloster gerade einen Kurs für Dirigenten abhielt. Der Kamerad wurde im Gästehaus untergebracht, während Knecht eine kleine Zelle in der Wohnung des Magisters bekam. Er hatte dort kaum seinen Rucksack ausgepackt und sich gewaschen, da kam schon sein Wirt herein. Der ehrwürdige Mann gab dem Jüngling die Hand, setzte sich mit einem kleinen Seufzer auf einen Stuhl nieder, schloß für ein paar Augenblicke die Augen, wie er es tat, wenn er sehr müde war, dann sagte er freundlich aufblickend:

»Entschuldige mich, ich bin kein sehr guter Wirt. Du kommst eben von der Fußreise und wirst müde sein, und ehrlich gesagt bin ich es auch, mein Tag ist etwas überfüllt – aber wenn du nicht etwa schon schläfrig bist, möchte ich dich gleich jetzt für eine Stunde mit in meine Stube nehmen. Du kannst zwei Tage hierbleiben, und morgen kannst du auch deinen Begleiter zu mir zu Tisch einladen, aber viel Zeit habe ich leider nicht für dich, darum müssen wir sehen, wie wir die paar Stunden herausbringen, die ich für dich brauche. Wir fangen also gleich an, nicht?«

Er führte Knecht in eine gewölbte große Zelle, darin stand nichts von Hausrat als ein altes Klavier und zwei Stühle. In die setzten sie sich.

»Du kommst bald in eine andere Stufe,« sagte der Meister. »Dort wirst du allerlei Neues lernen, es ist viel Hübsches dabei, auch am Glasperlenspiel wirst du wohl bald zu nippen beginnen. Das alles ist schön und ist wichtig, aber eines ist wichtiger als alles andre: du wirst das Meditieren lernen. Scheinbar lernen es ja alle, aber man darf nicht immer nachprüfen. Von dir wünsche ich, daß du es richtig und gut lernest, ebenso gut wie die Musik; alles andre kommt dann von selbst. Darum möchte ich dir die zwei oder drei ersten Lektionen selbst geben, das war der Grund meiner Einladung. Wir wollen also heut und morgen und übermorgen je eine Stunde zu meditieren versuchen, und zwar über Musik. Du bekommst jetzt einen Becher Milch, damit Durst und Hunger dich nicht stören, die Abendmahlzeit wird uns erst später gebracht.«

Es pochte an der Tür, und ein Becher Milch wurde gebracht.

»Trinke langsam, langsam,« mahnte er, »laß dir Zeit, und sprich nicht dazu.« Ganz langsam trank Knecht seine kühle Milch, ihm gegenüber saß der verehrte Mann und hielt wieder die Augen geschlossen, sein Gesicht sah recht alt, aber freundlich aus, es war voll Friede, er lächelte in sich hinein, als sei er in seine eigenen Gedanken hinabgestiegen wie ein Ermüdeter in ein Fußbad. Es strömte Ruhe von ihm aus. Knecht spürte es und wurde selbst beruhigt.

Jetzt drehte sich der Magister auf seinem Stuhle um und legte die Hände auf das Klavier. Er spielte ein Thema und trieb es variierend vorwärts, es schien ein Stück von einem italienischen Meister zu sein. Er wies seinen Gast an, sich den Gang dieser Musik wie einen Tanz, wie eine ununterbrochene Reihe von Gleichgewichtsübungen vorzustellen, wie eine Folge von kleineren oder größeren Schritten von der Mitte einer Symmetrieachse aus, und auf nichts andres zu achten als auf die Figur, welche diese Schritte bildeten. Er spielte die Takte nochmals, sann ihnen schweigend nach, spielte sie noch einmal, und blieb, die Hände auf den Knien, ganz still sitzen, die Augen halb geschlossen, ohne jede Regung, in sich innen die Musik wiederholend und betrachtend. Auch der Schüler horchte ihr in seinem Innern nach, sah Bruchstücke von Notenlinien vor sich, sah etwas sich bewegen, etwas schreiten, tanzen und schweben, und suchte die Bewegung zu erkennen und zu lesen wie die Kurven der Linie eines Vogelfluges. Sie verwirrten und verloren sich wieder, er mußte von vorn beginnen, einen Augenblick verließ ihn die Konzentration, er war im Leeren, blickte verlegen um sich und sah das stille versunkene Angesicht des Meisters blaß in der Dämmerung schweben, fand sich nun wieder in jenen geistigen Raum zurück, dem er entglitten war, hörte die Musik wieder darin tönen, sah sie darin schreiten, sah sie die Linie ihrer Bewegung hinschreiben, sah und sann den tanzenden Füßen der Unsichtbaren nach …

Es schien ihm eine lange Zeit vergangen zu sein, als er dem Raum wieder entglitt, als er den Stuhl unter sich wieder fühlte, den mattenbedeckten Steinboden, das schwach gewordene Dämmerlicht hinter den Fenstern. Er spürte, daß jemand ihn ansehe, blickte auf und sah in den Blick des Musikmeisters, der ihn aufmerksam betrachtete. Der Meister nickte ihm kaum merklich zu, spielte mit einem Finger pianissimo die letzte Variation jener italienischen Musik und erhob sich.

»Bleibe hier sitzen,« sagte er, »ich werde wiederkommen. Suche die Musik in dir noch einmal auf, achte auf die Figur! Aber zwinge dich nicht, es ist bloß ein Spiel. Wenn du drüber einschläfst, so schadet es auch nichts.«

Er ging, es wartete noch eine Arbeit auf ihn, die der überfüllte Tag ihm übriggelassen hatte, keine leichte und angenehme Arbeit, keine, die er sich wünschte. Es war einer unter den Schülern des Dirigentenkurses, ein begabter, aber eitler und hochfahrender Mensch, mit dem er noch sprechen, dem er Unarten legen, Unrecht beweisen, dem er Sorge wie Überlegenheit, Liebe wie Autorität zeigen mußte. Er seufzte. Daß es keine endgültige Ordnung, kein Aufräumen mit erkannten Irrtümern gab! Daß man immer und immer wieder dieselben Fehler bekämpfen, dieselben Unkräuter ausraufen mußte! Das Talent ohne Charakter, das Virtuosentum ohne Hierarchie, das einst im Feuilletonzeitalter das Musikleben beherrscht hatte, das in der musikalischen Renaissance ausgerottet und abgetan worden war – da grünte es schon wieder und trieb Knospen.

Als er von seinem Gange wiederkam, um mit Josef das Abendbrot einzunehmen, fand er ihn still, aber vergnügt, gar nicht mehr müde. »Es war sehr schön,« sagte der Knabe träumerisch. »Die Musik ist mir darüber ganz entschwunden, sie hat sich verwandelt.«

»Laß sie in dir nachschwingen,« sagte der Meister und führte ihn in ein kleines Gemach, wo ein Tisch mit Brot und Obst bereit stand. Sie aßen, und der Meister lud ihn ein, morgen eine Weile dem Dirigierkurs beizuwohnen.

Ehe er sich zurückzog und den Gast in seine Zelle brachte, sagte er zu ihm: »Du hast beim Meditieren etwas gesehen, die Musik ist dir als Figur erschienen. Versuche, wenn du dazu Lust hast, sie nachzuschreiben.«

In der Gastzelle fand Knecht einen Bogen Papier auf dem Tische liegen und Stifte, und ehe er zur Ruhe ging, versuchte er die Figur zu zeichnen, in welche sich ihm jene Musik verwandelt hatte. Er zog eine Linie, und von der Linie schräg wegstrebend in rhythmischen Zwischenräumen kurze Seitenlinien; es erinnerte etwa an die Ordnung der Blätter an einem Baumzweig. Es befriedigte ihn nicht, was dabei entstand, aber er fühlte Lust, es noch einmal und nochmals zu versuchen, und zuletzt bog er im Spielen die Linie zu einem Kreis, von welchem die Seitenlinien ausstrahlten, ähnlich wie vom Kreis eines Kranzes die Blumen. Dann ging er zu Bett und schlief schnell ein. Im Traum kam er wieder auf jene Hügelkuppe über den Wäldern, wo er gestern mit seinem Kameraden gerastet hatte, und sah unter sich das liebe Eschholz liegen, und indem er hinabschaute, zog das Rechteck der Schulgebäude sich zu einem Oval und dann zum Kreis auseinander, einem Kranz, und der Kranz begann sich langsam zu drehen, drehte sich mit zunehmender Geschwindigkeit, drehte sich zuletzt rasend schnell und barst und flog in funkelnden Sternen auseinander.