Er wußte beim Erwachen nichts mehr davon, aber als ihn später bei einem Morgengang der Meister fragte, ob er einen Traum gehabt habe, war es ihm, als müsse er etwas Schlimmes oder Aufregendes im Traum erlebt haben, er sann nach, fand den Traum wieder, erzählte ihn und war verwundert über seine Harmlosigkeit. Aufmerksam hörte der Meister zu.
»Soll man denn auf Träume achten?« fragte Josef. »Kann man sie deuten?«
Der Meister sah ihm in die Augen und sagte kurz:
»Man soll auf alles achten, denn man kann alles deuten.«
Nach einigen Schritten aber fragte er väterlich: »In welche Schule möchtest du denn am liebsten kommen?« Jetzt errötete Josef. Schnell und leise sagte er: »Ich glaube, nach Waldzell.« Der Meister nickte. »Ich dachte es mir. Du kennst doch den alten Spruch: Gignit autem artificiosam…«
Noch rot im Gesicht, ergänzte Knecht den jedem Schüler wohlbekannten Spruch: Gignit autem artificiosam lusorum gentem Cella Silvestris. Zu deutsch: Waldzell aber bringt das kunstreiche Völkchen der Glasperlenspieler hervor.
Herzlich blickte ihn der Alte an. »Wahrscheinlich ist das dein Weg, Josef. Du weißt, daß nicht alle mit dem Glasperlenspiel einverstanden sind. Sie sagen, es sei ein Ersatz für die Künste, und die Spieler seien Belletristen, sie seien nicht mehr als eigentlich Geistige zu betrachten, sondern seien eben frei phantasierende und dilettierende Künstler. Du wirst ja sehen, was daran wahr ist. Vielleicht hast du selber Vorstellungen vom Glasperlenspiel, die ihm mehr zutrauen, als es dir halten wird, vielleicht auch umgekehrt. Daß das Spiel Gefahren hat, ist gewiß. Eben darum lieben wir es, auf gefahrlose Wege schickt man nur die Schwachen. Du sollst aber nie vergessen, was ich dir so oft gesagt habe: unsre Bestimmung ist, die Gegensätze richtig zu erkennen, erstens nämlich als Gegensätze, dann aber als die Pole einer Einheit. So ist es auch mit dem Glasperlenspiel. Die Künstlernaturen sind in dies Spiel verliebt, weil man darin phantasieren kann; die strengen Fachwissenschaftler verachten es – und auch manche Musiker tun es – weil ihm jener Grad der Strenge in der Disziplin fehle, den die Einzelwissenschaften erreichen können. Gut, du wirst diese Gegensätze kennenlernen und wirst mit der Zeit entdecken, daß es nicht Gegensätze der Objekte sind, sondern der Subjekte, daß zum Beispiel ein phantasierender Künstler die reine Mathematik oder Logik nicht deswegen meidet, weil er etwas von ihr erkannt und auszusagen hätte, sondern weil er instinktiv anderswohin neigt. Du kannst an solchen instinktiven und heftigen Neigungen und Abneigungen mit Sicherheit die kleineren Seelen erkennen. In Wirklichkeit, das heißt in den großen Seelen und überlegenen Geistern, gibt es diese Leidenschaften nicht. Jeder von uns ist nur ein Mensch, nur ein Versuch, ein Unterwegs. Er soll aber dorthin unterwegs sein, wo das Vollkommene ist, er soll ins Zentrum streben, nicht an die Peripherie. Merke dir: man kann strenger Logiker oder Grammatiker und dabei voll Phantasie und Musik sein. Man kann Musikant oder Glasperlenspieler und dabei ganz Hingabe an Gesetz und Ordnung sein. Der Mensch, den wir meinen und wollen, der zu werden unser Ziel ist, würde jeden Tag seine Wissenschaft oder Kunst mit jeder andern tauschen können, er würde im Glasperlenspiel die kristallenste Logik aufstrahlen lassen und in der Grammatik die schöpferischste Phantasie. So sollten wir sein, man sollte uns zu jeder Stunde auf einen andern Posten stellen können, ohne daß wir uns dagegen sträuben und uns verwirren lassen.«
»Ich glaube zu verstehen,« sagte Knecht. »Aber sind jene, die so starke Vorlieben und Aversionen haben, nicht eben einfach die leidenschaftlicheren Naturen, andre aber die ruhigeren und sanfteren?«
»Es scheint zu stimmen und stimmt doch nicht,« lachte der Meister. »Um für alles tüchtig zu sein und allem gerecht zu werden, braucht man gewiß nicht ein Minus an Seelenkraft und Schwung und Wärme, sondern ein Plus. Was du Leidenschaft nennst, ist nicht Seelenkraft, sondern Reibung zwischen Seele und Außenwelt. Es ist dort, wo die Leidenschaftlichkeit herrscht, nicht ein Plus an Kraft des Begehrens und Strebens vorhanden, sondern sie ist auf ein vereinzeltes und falsches Ziel gerichtet, daher die Spannung und Schwüle in der Atmosphäre. Wer die höchste Kraft des Begehrens ins Zentrum richtet, gegen das wahre Sein hin, gegen das Vollkommene, der scheint ruhiger als der Leidenschaftliche, weil man die Flamme seiner Glut nicht immer sieht, weil er zum Beispiel beim Disputieren nicht schreit und nicht mit den Armen fuchtelt. Aber ich sage dir: er muß glühen und brennen!«
»Ach, wenn man doch wissend werden könnte!« rief Knecht. »Wenn es doch eine Lehre gäbe, etwas, woran man glauben kann! Alles widerspricht einander, alles läuft aneinander vorbei, nirgends ist Gewißheit. Alles läßt sich so deuten und läßt sich auch wieder umgekehrt deuten. Man kann die ganze Weltgeschichte als Entwicklung und Fortschritt auslegen, und kann ebensowohl nichts als Verfall und Unsinn in ihr sehen. Gibt es denn keine Wahrheit? Gibt es keine echte und gültige Lehre?«
Der Meister hatte ihn noch nie so heftig reden hören. Er ging eine Strecke weiter, dann sagte er: »Es gibt die Wahrheit, mein Lieber! Aber die »Lehre,« die du begehrst, die absolute, vollkommen und allein weise machende, die gibt es nicht. Du sollst dich auch gar nicht nach einer vollkommenen Lehre sehnen, Freund, sondern nach Vervollkommung deiner selbst. Die Gottheit ist in dir, nicht in den Begriffen und Büchern. Die Wahrheit wird gelebt, nicht doziert. Mache dich auf Kämpfe gefaßt, Josef Knecht, ich sehe wohl, sie haben schon begonnen.«
In diesen Tagen sah Josef den geliebten Magister zum erstenmal in seinem Alltag und seiner Arbeit und bewunderte ihn sehr, obwohl er nur einen kleinen Teil seiner täglichen Leistung sehen konnte. Am meisten aber gewann ihn der Meister dadurch, daß er sich seiner so annahm, daß er ihn zu sich eingeladen hatte, daß inmitten seiner Arbeit der überbürdete und oft so müde aussehende Mann noch Stunden für ihn aussparte, und nicht nur die Stunden! Wenn ihm diese Einführung in die Meditation so tiefen und nachhaltigen Eindruck machte, so tat sie es, wie er später beurteilen lernte, nicht durch eine besonders feine oder eigenartige Technik, sondern nur durch die Person, durch das Beispiel des Meisters. Seine späteren Lehrer, bei welchen er im folgenden Jahr in der Meditation unterrichtet wurde, gaben mehr Anweisungen, genauere Lehren, kontrollierten schärfer, stellten mehr Fragen, wußten mehr zu korrigieren. Der Musikmeister, seiner Macht über diesen Jüngling sicher, sprach und lehrte beinahe gar nichts, er gab eigentlich nur die Themen an und ging mit seinem Beispiel voran. Knecht beobachtete, wie sein Meister oft so alt und mitgenommen aussah, wie er dann, mit halbgeschlossenen Augen, in sich versank, danach wieder so still, so kräftig, heiter und freundlich zu blicken vermochte – nichts hätte ihn inniger vom Weg zu den Quellen, vom Weg aus der Unruhe in die Ruhe überzeugen können. Was der Meister etwa darüber in Worten zu sagen hatte, davon erfuhr Knecht beiläufig dieses und jenes auf einem kurzen Spaziergang oder bei einer Mahlzeit.
Wir wissen, daß Knecht vom Magister damals auch einige erste Andeutungen und Wegleitungen für das Glasperlenspiel empfing, doch sind keine Worte überliefert. Eindruck machte es ihm, daß sein Wirt sich manche Mühe um Josefs Begleiter gab, damit er nicht zu sehr die Empfindung habe, nur Anhängsel zu sein. An alles schien dieser Mann zu denken.
Der kurze Aufenthalt in Monteport, die drei Meditationsstunden, das Zuschauen beim Dirigentenkurs, die paar Gespräche mit dem Meister bedeuteten viel für Knecht; mit Sicherheit hatte jener den wirksamsten Zeitpunkt für sein kurzes Eingreifen gewählt. Seine Einladung hatte hauptsächlich den Zweck gehabt, dem Jüngling die Meditation ans Herz zu legen, aber nicht weniger wichtig war diese Einladung an sich selbst, als Auszeichnung, als Zeichen dafür, daß man auf ihn achte und etwas von ihm erwarte: es war der zweite Grad der Berufung. Man hatte ihm Einblick in die innern Bezirke gegönnt; wenn einer der zwölf Meister einen Schüler dieser Stufe so nahe zu sich heranrief, so bedeutete das nicht nur ein persönliches Wohlwollen. Was ein Meister tat, war immer mehr als persönlich.
Beim Abschied bekamen beide Schüler kleine Geschenke, Josef ein Heft mit zwei Bachschen Choralvorspielen, der Kamerad eine zierliche Taschenausgabe des Horaz. Zu Knecht sagte der Meister, als er ihn entließ: »Du wirst in einigen Tagen erfahren, welcher Schule du zugeteilt bist. Ich werde dorthin weniger häufig kommen als nach Eschholz, aber wir werden uns auch dort wohl wiedersehen, wenn ich gesund bleibe. Wenn du Lust dazu hast, kannst du mir einmal im Jahr einen Brief schreiben, besonders über den Verlauf deiner musikalischen Studien. Kritik an deinen Lehrern soll dir nicht verboten sein, doch lege ich auf sie weniger Wert. Es wartet vieles auf dich, ich hoffe, daß du dich bewährst. Unser Kastalien soll nicht bloß eine Auslese sein, es soll vor allem eine Hierarchie sein, ein Bau, in dem jeder Stein seinen Sinn nur vom Ganzen bekommt. Aus diesem Ganzen heraus führt kein Weg, und wer höher steigt und größere Aufgaben bekommt, wird nicht freier, er wird nur immer verantwortlicher. Auf Wiedersehen, junger Freund, es war mir eine Freude, dich hier zu haben.«
Die beiden wanderten zurück, beide waren unterwegs heiterer und gesprächiger als auf dem Herwege, die paar Tage mit anderer Luft und anderen Bildern, die Berührung mit einem anderen Lebenskreise hatten sie aufgelockert, von Eschholz und von der dortigen Abschiedsstimmung freier gemacht und doppelt begierig auf den Wechsel und die Zukunft. Bei mancher Rast im Walde oder über einer der steilen Schluchten der Gegend von Monteport holten sie ihre hölzernen Flöten aus der Tasche und spielten zweistimmig ein paar Lieder. Und als sie jene Höhe über Eschholz mit der Aussicht auf Anstalt und Bäume wieder erreicht hatten, da schien ihnen beiden ihr Gespräch, das sie geführt, schon weit in der Vergangenheit zu liegen, die Dinge hatten alle einen neuen Aspekt gewonnen; sie sagten kein Wort, sie schämten sich ein wenig der Gefühle und Worte von damals, die so rasch überholt und inhaltlos geworden waren.
In Eschholz erfuhren sie schon am nächsten Tage ihre Bestimmung. Knecht war für Waldzell bestimmt.
Waldzell
»Waldzell aber bringt das kunstreiche Völkchen der Glasperlenspieler hervor,« heißt der alte Spruch über diese berühmte Schule. Unter den kastalischen Schulen der zweiten und dritten Stufe war es die am meisten musische, das heißt wenn an andren Schulen ganz ausgesprochen eine bestimmte Wissenschaft dominierte, wie etwa in Keuperheim die Altphilologie, in Porta die aristotelische und scholastische Denklehre, in Planvaste die Mathematik, so wurde umgekehrt in Waldzell traditionell eine Tendenz zur Universalität und zur Verschwisterung zwischen Wissenschaft und Künsten gepflegt, und oberstes Sinnbild dieser Tendenzen war das Glasperlenspiel. Dieses wurde zwar auch hier, wie in allen Schulen, keineswegs offiziell und als obligatorisches Fach gelehrt; dafür aber galten ihm die privaten Studien der Waldzeller Schüler fast ausschließlich, und dann war das Städtchen Waldzell ja auch der Sitz des offiziellen Glasperlenspiels und seiner Einrichtungen: hier war die berühmte Spielhalle für die feierlichen Spiele, hier das riesige Spielarchiv mit seinen Beamten und Bibliotheken, hier der Sitz des Ludi Magister. Und wenn auch diese Anstalten völlig für sich bestanden und die Schule ihnen in keiner Weise angegliedert war, so herrschte hier eben doch der Geist dieser Anstalten und hing etwas von der Weihe der großen öffentlichen Spiele in der Luft des Ortes. Das Städtchen selbst war sehr stolz darauf, nicht nur eine Schule, sondern auch das Spiel zu beherbergen; bei der Bevölkerung hießen die Schüler »Studenten,« die Studierenden und Gäste der Spielschule aber »Luser,« verdorben aus Lusores. Übrigens war die Waldzeller Schule die kleinste von allen kastalischen Schulen, die Schülerzahl war kaum jemals höher als etwa sechzig, und gewiß gab ihr auch dieser Umstand etwas Besonderes und Aristokratisches, ließ sie als etwas Ausgezeichnetes, als eine engste Elite innerhalb der Elite erscheinen; es waren denn auch aus dieser ehrwürdigen Schule in den letzten Jahrzehnten viele Magister und sämtliche Glasperlenspielmeister hervorgegangen. Allerdings war dieser glänzende Ruf von Waldzell keineswegs unumstritten: da und dort war man auch der Meinung, die Waldzeller seien eingebildete Schöngeister und verwöhnte Prinzen, und außer zum Glasperlenspiel zu nichts zu brauchen; zuzeiten waren an mehreren andern Schulen über die Waldzeller recht böse und bittere Worte in Mode, aber eben die Schärfe dieser Witze und Kritiken zeigt ja an, daß Gründe zu Eifersucht und Neid vorhanden waren. Alles in allem bedeutete die Versetzung nach Waldzell eine gewisse Auszeichnung; auch Josef Knecht wußte das, und obwohl er nicht ehrgeizig im vulgären Sinn war, nahm er die Auszeichnung doch mit einem freudigen Stolz entgegen.