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Ein solcher Hospitant also war Plinio Designori, mit welchem der etwas jüngere Josef Knecht in Waldzell zusammentraf. Er war ein Jüngling von hohen Gaben, glänzend namentlich in Rede und Debatte, ein feuriger und etwas unruhiger Mensch, der dem Schulvorstand Zbinden viele Sorgen machte, denn er hielt sich als Schüler zwar gut und ließ sich nicht tadeln, war aber keineswegs darum bemüht, seine Ausnahmestellung als Hospitant zu vergessen und sich möglichst unauffällig einzureihen, sondern bekannte sich freimütig und kampflustig zu einer nichtkastalischen und weltlichen Gesinnung. Es konnte nicht ausbleiben, daß zwischen den beiden Schülern ein besonderes Verhältnis entstand: beide waren sie Hochbegabte und Berufene, das machte sie zu Brüdern, während sie in allem andern Gegensätze waren. Es hätte eines Lehrers von ungewöhnlich hoher Einsicht und Kunst bedurft, um aus der hier entstehenden Aufgabe die Quintessenz zu ziehen und nach den Regeln der Dialektik zwischen und über den Gegensätzen immer wieder die Synthese zu ermöglichen. Dem Vorstand Zbinden hätte es dazu an Gaben und an Willen nicht gefehlt, er gehörte nicht zu jenen Lehrern, welchen die Genies unbequem sind, aber es fehlte ihm für diesen Fall die wichtigste Voraussetzung: das Vertrauen der beiden Schüler. Plinio, der sich in der Rolle des Outsiders und Revolutionärs gefiel, blieb dem Vorstand gegenüber stets sehr auf der Hut; und mit Josef Knecht hatte es leider jene Verstimmung wegen seiner Privatstudien gegeben, auch er hätte sich nicht um Rat an Zbinden gewandt. Zum Glück gab es aber den Musikmeister. An ihn gelangte Knecht mit der Bitte um Beistand und Rat, und dieser weise alte Musikant nahm sich der Sache ernstlich an und hat das Spiel meisterhaft gelenkt, wie wir sehen werden. Unter den Händen dieses Meisters wurde die größte Gefahr und Versuchung im Leben des jungen Knecht zu einer auszeichnenden Aufgabe, und dieser zeigte sich ihr gewachsen. Die innere Geschichte der Freund-Feindschaft zwischen Josef und Plinio, oder dieser Musik über zwei Themata, oder dieses dialektischen Spieles zwischen zwei Geistern war etwa die folgende.

Zunächst war es natürlich Designori, der dem Gegenspieler auffiel und ihn anzog. Er war nicht nur der ältere, war nicht nur ein hübscher, feuriger und beredter Jüngling, vor allem andern war er einer »von draußen,« ein Nichtkastalier, einer aus der Welt, ein Mensch mit Vater und Mutter, Onkeln, Tanten, Geschwistern, einer, für den Kastalien samt allen seinen Gesetzen, Traditionen und Idealen nur eine Etappe, eine Wegstrecke, einen befristeten Aufenthalt bedeutete. Für diesen weißen Raben war Kastalien nicht die Welt, für ihn war Waldzell eine Schule wie andre, für ihn war die Rückkehr in die »Welt« keine Schmach und Strafe, auf ihn wartete nicht der Orden, sondern die Karriere, die Ehe, die Politik, kurz jenes »reale Leben,« von welchem mehr zu wissen jeder Kastalier ein heimliches Gelüste empfand, denn die »Welt« war für den Kastalier dasselbe, was sie einst für den Büßer und Mönch gewesen war: das Minderwertige und Verbotene zwar, aber nicht minder das Geheimnisvolle, Verführerische, Faszinierende. Und Plinio nun machte wirklich aus seiner Zugehörigkeit zur Welt kein Geheimnis, er schämte sich ihrer keineswegs, er war stolz auf sie. Mit einem halb noch knabenhaften und schauspielerischen, halb auch schon bewußten und als Programm empfundenen Eifer betonte er seine andere Art und benutzte jeden Anlaß, um seine weltlichen Auffassungen und Normen den kastalischen gegenüberzustellen und sie als besser, richtiger, natürlicher, menschlicher auszugeben. Er operierte dabei viel mit der »Natur« und mit dem »gesunden Menschenverstand,« den er dem verbildeten, lebensfremden Schulgeist gegenüberstellte, und war mit Schlagworten und großen Tönen nicht sparsam, doch war er klug und hatte Geschmack genug, sich nicht mit groben Provokationen zu begnügen, sondern die in Waldzell gebräuchlichen Formen des Disputierens so ziemlich anzuerkennen. Er wollte die »Welt« und das naive Leben gegen die »hochmütig scholastische Geistigkeit« Kastaliens verteidigen, aber er wollte zeigen, daß er imstande sei, dies mit den Waffen der Gegner zu tun; keineswegs wollte er der Kulturlose sein, der blind im Blumengarten der geistigen Bildung herumtrampelt.

Je und je schon hatte Josef Knecht als schweigsamer, aber aufmerksamer Zuhörer sich im Hintergrund irgendeiner kleinen Schülergruppe aufgehalten, deren Mittelpunkt und Redner Designori war. Mit Neugierde, mit Erstaunen und Bangigkeit hatte er von diesem Redner Sätze sprechen hören, in welchen alles vernichtend kritisiert wurde, was in Kastalien Autorität und heilig war, in welchen alles bezweifelt, ins Fragwürdige gezogen oder lächerlich gemacht wurde, woran er selbst glaubte. Er bemerkte zwar, daß längst nicht alle Zuhörer diese Reden ernst nahmen, manche hörten sichtlich nur spaßeshalber zu, wie man einem Jahrmarktredner zuhört, auch hörte er häufig Erwiderungen, in denen Plinios Angriffe ironisiert oder ernsthaft zurückgewiesen wurden. Immer aber waren einige Kameraden um diesen Plinio versammelt, immer war er Mittelpunkt, und ob sich nun gerade ein Opponent fand oder nicht, immerzu übte er Anziehungskraft und etwas wie Verführung aus. Und so, wie es den andern erging, die um den lebhaften Redner Gruppen bildeten und seine Tiraden mit Staunen oder mit Gelächter anhörten, so ging es auch Josef; trotz jenes Gefühls von Bangigkeit, ja von Angst, das er bei solchen Reden empfand, fühlte er sich von ihnen auf eine unheimliche Art angezogen, und nicht nur, weil sie amüsant waren, nein, sie schienen ihn auch im Ernst etwas anzugehen. Nicht daß er innerlich dem kühnen Redner zugestimmt hätte, aber es gab Zweifel, von deren Existenz oder Möglichkeit man nur zu wissen brauchte, um an ihnen zu leiden. Es war vorerst kein schlimmes Leiden, es war nur ein Angerührtsein und eine Unruhe, ein Gefühl, gemischt aus heftigem Drang und schlechtem Gewissen.

Die Stunde mußte kommen, und sie kam, in der Designori bemerkte, daß er unter seinen Zuhörern einen hatte, dem seine Worte mehr bedeuteten als anregende oder auch anstößige Unterhaltungen und Befriedigungen der Disputierlust, einen schweigsamen blonden Knaben, der hübsch und fein, aber etwas schüchtern aussah und der denn auch rot wurde und verlegene, knappe Antworten gab, als er ihn freundlich ansprach. Offenbar war dieser Junge ihm schon länger nachgegangen, dachte Plinio, und dachte ihn nun mit einer freundschaftlichen Gebärde zu belohnen und vollends zu gewinnen: er lud ihn für den Nachmittag zu einem Besuch auf seiner Stube ein. So leicht war dieser schüchterne und spröde Knabe nicht zu haben. Plinio mußte zu seiner Verwunderung erleben, daß er ihm auswich und nicht Rede stehen wollte, auch die Einladung nahm er nicht an; dies wieder reizte den Älteren, und er begann von dem Tag an um den schweigsamen Josef zu werben, anfangs wohl nur aus Eigenliebe, später im Ernst, denn er spürte hier einen Gegenspieler, vielleicht einen künftigen Freund, vielleicht das Gegenteil. Immer wieder sah er Josef in seiner Nähe erscheinen und spürte sein intensives Zuhören, und immer wieder zog der Scheue sich zurück, sobald er ihm nähertreten wollte.

Dieses Verhalten hatte seine Ursachen. Längst hatte Josef gespürt, daß ihn bei diesem andern etwas Wichtiges erwarte, vielleicht etwas Schönes, eine Erweiterung seines Horizontes, eine Erkenntnis, eine Aufklärung, vielleicht auch eine Versuchung und Gefahr, jedenfalls etwas, was es zu bestehen galt. Er hatte die ersten Regungen von Zweifel und Kritiklust, die Plinios Reden in ihm geweckt hatten, seinem Freunde Ferromonte mitgeteilt, aber dieser hatte wenig darauf geachtet, er hatte Plinio für einen eingebildeten und wichtigtuerischen Kerl erklärt, auf den man nicht zu hören brauche, und sich alsbald wieder in seine musikalischen Übungen vertieft. Ein Gefühl sagte Josef, daß der Vorstand die Instanz wäre, vor welche er seine Zweifel und Beunruhigungen hätte bringen müssen; nun hatte er aber seit jener kleinen Auseinandersetzung kein herzliches und offenes Verhältnis mehr zu ihm: er fürchtete, von ihm nicht verstanden zu werden, und noch mehr fürchtete er, eine Aussprache über den Rebellen Plinio würde vom Vorstand am Ende als eine Art von Denunziation aufgefaßt werden. In dieser Verlegenheit, die durch Plinios Versuche zu freundschaftlicher Annäherung immer peinlicher wurde, wandte er sich nun an seinen Gönner und guten Geist, den Musikmeister, in einem sehr langen Brief, der uns erhalten ist. Er schrieb darin unter andrem: »Es ist mir noch nicht klar, ob Plinio in mir einen Gesinnungsgenossen zu gewinnen hofft oder nur einen Gesprächspartner. Ich hoffe das letztere, denn mich zu seinen Auffassungen bekehren, hieße ja mich zur Untreue verführen und mein Leben zerstören, das nun einmal in Kastalien verwurzelt ist; ich habe keine Eltern und Freunde draußen, zu denen ich zurückkehren könnte, wenn ich wirklich einmal diesen Wunsch haben sollte. Aber auch wenn Plinios respektlose Reden gar keine Bekehrung und Beeinflussung bezwecken, bin ich ihnen gegenüber in Verlegenheit. Denn um Ihnen gegenüber, verehrter Meister, ganz aufrichtig zu sein: es tritt mir in Plinios Denkart etwas entgegen, dem ich nicht einfach mit einem Nein antworten kann, er appelliert an eine Stimme in mir, die zuweilen sehr dazu neigt, ihm recht zu geben. Vermutlich ist es die Stimme der Natur, und sie steht zu meiner Erziehung und der uns geläufigen Anschauungsweise in grellem Widerspruch. Wenn Plinio unsre Lehrer und Meister als Priesterkaste bezeichnet und uns Schüler als gegängelte und kastrierte Herde, so sind das natürlich derbe und übertreibende Worte, aber irgend etwas Wahres enthalten sie vielleicht doch, sonst könnten sie mich ja auch nicht so beunruhigen. Plinio kann so erstaunliche und entmutigende Sachen sagen. Etwa: das Glasperlenspiel sei ein Rückfall in die feuilletonistische Epoche, ein bloßes verantwortungsloses Spielen mit den Buchstaben, in welche wir die Sprachen der verschiedenen Künste und Wissenschaften aufgelöst hätten; es bestehe aus lauter Assoziationen und spiele mit lauter Analogien. Oder: beweisend für den Unwert unsrer ganzen geistigen Bildung und Haltung sei unsre resignierte Unfruchtbarkeit. Wir analysieren zum Beispiel, sagt er, die Gesetze und Techniken aller Stilarten und Zeiten der Musik und bringen selber keine neue Musik hervor. Wir lesen und erläutern, sagt er, den Pindar oder den Goethe und schämen uns, selber Verse zu machen. Das sind Vorwürfe, über die ich nicht lachen kann. Und sie sind noch nicht die schlimmsten, nicht die, die mich am meisten verwunden. Schlimm ist es, wenn er etwa sagt, wir Kastalier führten das Leben von künstlich gezüchteten Singvögeln, ohne unser Brot selber zu verdienen, ohne die Not und den Kampf des Lebens zu kennen, ohne von dem Teil der Menschheit etwas zu wissen und wissen zu wollen, dessen Arbeit und Armut die Grundlage für unsere Luxusexistenz sei.« Und der Brief schloß mit den Worten: »Ich habe vielleicht Ihre Freundlichkeit und Güte mißbraucht, Reverendissime, und ich bin darauf gefaßt, von Ihnen ausgescholten zu werden. Schelten Sie mich nur, und erlegen Sie mir Bußen auf, ich werde Ihnen dafür danken. Aber eines Rates bin ich äußerst bedürftig. Ich kann den jetzigen Zustand noch eine kleine Weile so hinhalten. Ihm zu einer wirklichen und fruchtbaren Entwicklung verhelfen kann ich nicht, dazu bin ich zu schwach und unerfahren, und was vielleicht das schlimmste ist, unsrem Herrn Schulvorstand kann ich mich nicht anvertrauen, es sei denn, daß Sie es mir ausdrücklich beföhlen. Darum habe ich Sie mit der Sache, die für mich eine große Not zu werden beginnt, belästigt.«

Es wäre uns überaus wertvoll, die Antwort des Meisters auf diesen Hilferuf ebenfalls schwarz auf weiß zu besitzen. Diese Antwort ist aber mündlich erfolgt. Kurze Zeit nach Knechts Brief traf der Magister Musicae selbst in Waldzell ein, um eine Musikprüfung zu leiten, und hat sich während der Tage seines dortigen Aufenthaltes seines kleinen Freundes aufs beste angenommen. Wir wissen davon aus späteren Erzählungen Knechts. Leicht hat er es ihm nicht gemacht. Er begann damit, daß er Knechts Schulzeugnisse sowie namentlich seine Privatstudien einer genauen Prüfung unterzog und diese Studien allzu einseitig fand, hierin gab er dem Waldzeller Vorstand recht und bestand auch darauf, daß Knecht dies dem Vorstand gegenüber zugab. Für Knechts Verhalten gegen Designori gab er genaue Richtlinien und reiste nicht ab, ehe auch diese Frage mit dem Vorstand Zbinden besprochen war. Die Folge war nicht nur das merkwürdige und allen Miterlebenden unvergeßliche Kampfspiel zwischen Designori und Knecht, sondern auch ein ganz neues Verhältnis zwischen diesem und dem Vorstand. Dies Verhältnis war nach wie vor kein herzliches und geheimnisvolles, wie etwa das zum Musikmeister, aber ein geklärtes und entspanntes.