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Die Rolle, welche Knecht nun zugefallen war, bestimmte sein Leben für längere Zeit. Es war ihm erlaubt, Designoris Freundschaft anzunehmen, sich seinem Einfluß und seinen Angriffen zu stellen, ohne Einmischung oder Überwachung von selten der Lehrer. Die ihm vom Mentor gestellte Aufgabe aber war, Kastalien gegen seinen Kritiker zu verteidigen und die Auseinandersetzung der Anschauungen auf das höchste Niveau zu bringen; das bedeutete unter andrem, daß Josef sich die Grundlagen der Ordnung, die in Kastalien und im Orden herrschte, intensiv zu eigen machen und immer wieder vergegenwärtigen mußte. Die Redekämpfe zwischen den beiden befreundeten Gegnern wurden bald berühmt, man drängte sich, sie zu hören. Designoris aggressiver und ironischer Ton wurde feiner, seine Formulierungen strenger und verantwortlicher, seine Kritik sachlicher. Bisher war Plinio der Bevorzugte in diesem Kampf gewesen; er kam aus der »Welt,« er hatte ihre Erfahrung, ihre Methoden, ihre Angriffsmittel und auch etwas von ihrer Unbedenklichkeit, er kannte aus den Gesprächen mit den Erwachsenen zu Hause alles, was die Welt gegen Kastalien einzuwenden hatte. Jetzt zwangen ihn Knechts Repliken einzusehen, daß er zwar die Welt recht gut kenne, besser als jeder Kastalier, daß er aber keineswegs Kastalien und seinen Geist ebenso gut kenne wie die, die hier zu Hause waren und deren Heimat und Schicksal Kastalien war. Er lernte einsehen und lernte allmählich auch zugeben, daß er hier ein Gast sei, kein Einheimischer, und daß es nicht nur draußen, sondern auch hier in der pädagogischen Provinz jahrhundertealte Erfahrungen und Selbstverständlichkeiten gebe, auch hier eine Tradition, ja eine »Natur,« die er nur zum Teil kannte und die ihren Anspruch auf Achtung nun durch ihren Sprecher Josef Knecht kundgab. Knecht hingegen, um seiner Rolle als Apologet zu genügen, war genötigt, mit Hilfe von Studium, Meditation und Selbstzucht sich das, was zu verteidigen er dastand, immer deutlicher und inniger zu eigen und bewußt zu machen. Im Rhetorischen blieb Designori der Überlegene, außer dem Feuer und Ehrgeiz seiner Natur kam ihm da eine gewisse Weltschulung und Gewitztheit zu Hilfe, er verstand namentlich auch im Unterliegen noch an die Zuhörer zu denken und sich einen würdigen oder doch witzigen Abgang zu sichern, während Knecht, wenn ihn der Gegner in die Enge getrieben hatte, etwa sagen konnte: »Darüber muß ich erst noch nachdenken, Plinio. Warte ein paar Tage, ich werde dich wieder daran erinnern.«

Wenn nun dies Verhältnis auch in eine würdige Form gebracht war, ja für die Teilnehmer und Zuhörer der Dispute ein unentbehrliches Element des damaligen Wald-zeller Schullebens wurde, so war doch für Knecht die Not und der Konflikt kaum leichter geworden. Kraft des hohen Maßes von Vertrauen und Verantwortlichkeit, die ihm damit auferlegt waren, bewältigte er die Aufgabe, und es ist ein Beweis für die Kraft und Wohlbeschaffenheit seiner Natur, daß er sie ohne sichtbare Schädigung durchgeführt hat. Im stillen aber hatte er viel zu leiden. Wenn er für Plinio Freundschaft empfand, so empfand er sie ja nicht nur für den gewinnenden und witzigen Kameraden, für den weit- und redegewandten Plinio, sondern nicht minder für jene fremde Welt, welche sein Freund und Gegner vertrat, die er in seiner Gestalt und in seinen Worten und Gebärden kennen oder ahnen lernte, jene sogenannte »reale« Welt, in der es zärtliche Mütter und Kinder, Hungernde und Armenhäuser, Zeitungen und Wahlkämpfe gab, jene primitive und zugleich raffinierte Welt, in welche Plinio zu allen Ferienzeiten zurückkehrte, um Eltern und Geschwister zu besuchen, Mädchen den Hof zu machen, Arbeiterversammlungen beizuwohnen oder Gast in vornehmen Klubs zu sein, während Knecht in Kastalien blieb, mit Kameraden wanderte und schwamm, Frobergersche Ricercari übte oder Hegel las.

Es war keine Frage für Josef, daß er nach Kastalien gehöre und zu Recht das kastalische Leben führe, ein Leben ohne Familie, ohne mancherlei sagenhafte Zerstreuungen, ein Leben ohne Zeitungen, ein Leben auch ohne Not und Hunger – übrigens hatte ja auch Plinio, der den Eliteschülern ihr Drohnendasein so eindringlich vorhalten konnte, niemals bisher gehungert oder sich sein Brot selber verdient. Nein, jene Plinio-Welt war nicht die bessere und richtigere. Aber sie war da, es gab sie, und sie war, wie er aus der Weltgeschichte wußte, immer dagewesen und immer ähnlich gewesen wie heute, und viele Völker hatten keine andre Welt gekannt als sie, wußten nichts von Eliteschulen und pädagogischer Provinz, von Orden, Meistern und Glasperlenspiel. Die große Mehrzahl aller Menschen auf der ganzen Erde lebte anders, als man in Kastalien lebte, einfacher, primitiver, gefährlicher, unbehüteter, ungeordneter. Und diese primitive Welt war jedem Menschen eingeboren, man spürte etwas von ihr im eigenen Herzen, etwas von Neugierde nach ihr, von Heimweh nach ihr, von Mitleid mit ihr. Ihr gerecht zu werden, ihr ein gewisses Heimatrecht im eigenen Herzen zu bewahren, aber dennoch nicht an sie zurückzufallen, war die Aufgabe. Denn es gab neben und über ihr die zweite Welt, die kastalische, die geistige, eine künstliche, eine geordnetere, geschütztere, aber der beständigen Aufsicht und Übung bedürftige Welt, die Hierarchie. Ihr zu dienen, ohne doch jener andern Welt unrecht zu tun oder sie gar zu verachten, auch ohne mit irgendeinem unklaren Verlangen oder Heimweh nach ihr zu schielen, müßte das Richtige sein. Denn die kleine kastalische diente ja der großen anderen Welt, sie gab ihr Lehrer, Bücher, Methoden, sie sorgte für die Reinhaltung der geistigen Funktionen und Moral, und sie stand als Schule und Zuflucht jener kleinen Zahl von Menschen offen, deren Bestimmung es schien, ihr Leben dem Geist und der Wahrheit zu widmen. Warum nur lebten die beiden Welten anscheinend nicht harmonisch und brüderlich neben- und ineinander, warum konnte man sie nicht beide in sich hegen und vereinen?

Einst fiel einer der seltenen Besuche des Musikmeisters in eine Zeit, wo Josef, von seiner Aufgabe ermüdet und zermürbt, große Mühe hatte, das Gleichgewicht zu bewahren. Der Meister konnte es aus einigen Andeutungen des Jünglings schließen, las es aber weit deutlicher aus seinem überanstrengten Aussehen, seinen unruhigen Blicken, seinem etwas fahrigen Wesen. Er stellte einige forschende Fragen, stieß auf Unlust und Hemmungen, gab das Fragen auf und nahm, dadurch ernstlich besorgt geworden, ihn mit in eine Übungskammer, unter dem Vorwand, ihm eine kleine musikalische Entdeckung mitteilen zu wollen. Er hieß ihn ein Klavichord bringen und stimmen und verwickelte ihn so lange in ein Privatissimum über die Entstehung der Sonatenform, bis der Schüler seine Nöte einigermaßen vergaß, sich hingab und entspannt und dankbar seinen Worten und seinem Spiele zuhörte. Geduldig ließ er sich Zeit, ihn in den Zustand der Bereitschaft und Empfänglichkeit zu versetzen, den er an ihm vermißt hatte. Und als es gelungen war, als er seinen Vortrag beendet und zum Schluß eine der Gabrielischen Sonaten gespielt hatte, stand er auf, ging langsam in der kleinen Stube auf und ab und erzählte:

»Diese Sonate hat mich vor langen Jahren einmal sehr beschäftigt. Es war noch in den Jahren meines freien Studiums, noch ehe ich zum Lehrer und später dann zum Musikmeister berufen wurde. Ich hatte damals den Ehrgeiz, eine Geschichte der Sonate mit neuen Gesichtspunkten auszuarbeiten, aber es kam da eine Zeit, in der ich nicht nur nicht mehr vorwärtskam, sondern mehr und mehr daran zu zweifeln anfing, ob alle diese musikalischen und historischen Forschungen denn überhaupt einen Wert hätten, ob sie wirklich mehr seien als ein leeres Spiel für müßige Leute und ein flitterhafter, geistig-künstlerischer Ersatz für echtes, gelebtes Leben. Kurz, ich hatte eine von den Krisen durchzumachen, in denen alles Studium, alle geistige Bemühung, aller Geist überhaupt uns zweifelhaft und entwertet wird und wo wir dazu neigen, jeden pflügenden Bauern und jedes abendliche Liebespaar zu beneiden oder auch jeden Vogel, der im Baume singt, und jede Zikade, die im Sommergrase zirpt, denn sie scheinen uns so natürlich, so erfüllt und glücklich zu leben, und von ihren Nöten und von den Härten, Gefahren und Leiden ihres Lebens wissen wir ja nichts. Kurz, ich hatte das Gleichgewicht so ziemlich verloren, es war kein hübscher Zustand, er war sogar recht schwer erträglich. Ich dachte mir die wunderlichsten Möglichkeiten zu Flucht und Befreiung aus, ich dachte daran, als Musikant in die Welt hinauszuziehen und tanzenden Hochzeitsgesellschaften aufzuspielen, und wäre wie in alten Romanen ein ausländischer Werber erschienen und hätte mich eingeladen, eine Uniform anzuziehen und einer beliebigen Truppe in einen beliebigen Krieg zu folgen, ich wäre mitgegangen. Und so ging es denn, wie es bei solchen Zuständen oft zu gehen pflegt: ich verlor mich so sehr, daß ich allein nicht mehr fertig wurde und eine Hilfe brauchte.«

Er blieb einen Augenblick stehen und lachte vor sich hin. Dann fuhr er fort: »Natürlich hatte ich einen Studienberater, wie es Vorschrift ist, und natürlich wäre es vernünftig und richtig und meine Pflicht gewesen, mir bei ihm Rat zu holen. Aber es ist nun einmal so, Josef: gerade wenn man in Schwierigkeiten gerät und vom Weg abgekommen ist und eine Korrektur am nötigsten brauchte, gerade dann hat man die größte Abneigung dagegen, auf den normalen Weg zurückzukehren und die normale Korrektur aufzusuchen. Mein Studienberater war mit meinem letzten Quartalsbericht nicht zufrieden gewesen, er hatte mir ernstliche Einwendungen gemacht, ich aber hatte geglaubt, auf dem Weg zu neuen Entdeckungen oder Einsichten zu sein, und hatte ihm seine Einwände einigermaßen übelgenommen. Kurz, ich mochte zu ihm nicht gehen, ich mochte nicht zu Kreuze kriechen und zugeben, daß er recht gehabt habe. Auch meinen Kameraden wollte ich mich nicht anvertrauen, aber es gab da einen Sonderling in meiner Nachbarschaft, den ich nur vom Sehen und Hörensagen kannte, einen Sanskritgelehrten mit dem Spitznamen »der Yogin.« In einer Stunde, in der mein Zustand mir genügend unerträglich geworden war, ging ich zu diesem Manne hin, dessen etwas einsame und absonderliche Gestalt ich ebensooft belächelt wie heimlich bewundert hatte. Ich suchte ihn in seiner Zelle auf, wollte ihn anreden, fand ihn aber in der Versenkung, er hatte dabei die rituelle indische Haltung inne und war nicht erreichbar, er schwebte leise lächelnd in einer vollkommenen Abseitigkeit, ich konnte nichts tun, als bei der Tür stehenbleiben und warten, bis er aus der Versunkenheit zurückkehre. Dies dauerte sehr lange, es dauerte eine Stunde und zwei Stunden, ich wurde schließlich müde und ließ mich zu Boden gleiten; dort saß ich, an die Wand gelehnt, und wartete weiter. Am Ende sah ich den Mann langsam erwachen, er bewegte den Kopf ein wenig, er reckte die Schultern, er schlug langsam die gekreuzten Beine auseinander, und indem er sich zum Aufstehen anschickte, fiel sein Blick auf mich. »Was willst du?« fragte er. Ich erhob mich und sagte, ohne etwas überlegt zu haben und ohne recht zu wissen, was ich sagte: »Es sind die Sonaten von Andrea Gabrieli.« Er stand vollends auf, setzte mich in seinen einzigen Stuhl, nahm auf dem Tischrande Platz und sagte: »Gabrieli? Was hat er dir denn getan mit seinen Sonaten?« Ich fing an, ihm zu erzählen, wie es mir gegangen war, zu beichten, wie es um mich stehe. Er fragte mich mit einer Genauigkeit, die mir pedantisch schien, nach meiner Geschichte aus, nach den Studien um Gabrieli und die Sonate, er wollte wissen, wann ich aufgestanden, wie lang ich gelesen, wieviel ich musiziert, zu welchen Stunden ich gegessen und mich schlafen gelegt habe. Ich hatte mich ihm anvertraut, ja aufgedrängt, so mußte ich seine Fragen dulden und beantworten, aber sie beschämten mich, sie gingen immer unerbittlicher ins einzelne, es wurde mein geistiges und mein moralisches Leben in den letzten Wochen und Monaten analysiert. Dann schwieg er plötzlich, der Yogin, und als ich auch daraus nicht klug wurde, zuckte er mit den Schultern und sagte: »Siehst du es denn nicht selber, wo der Fehler liegt?« Nein, ich konnte es nicht sehen. Und jetzt rekapitulierte er erstaunlich genau alles, was er aus mir herausgefragt hatte, bis zurück zu den ersten Anzeichen von Ermüdung, Widerwillen und geistiger Verstopfung, und wies mir nach, daß dies nur einem allzu frei drauflos Studierenden habe passieren können und daß es hohe Zeit für mich gewesen sei, die mir verlorengegangene Kontrolle über mich und meine Kräfte mit fremder Hilfe wiederzufinden. Ich hätte, so wies er mir nach, wenn ich mir schon die Freiheit genommen hatte, auf regelmäßige Meditationsübungen zu verzichten, doch wenigstens gleich bei den ersten üblen Folgen mich dieser Versäumnis erinnern und sie wiedergutmachen sollen. Und er hatte vollkommen recht. Ich hatte nicht nur eine ganze Zeit lang das Meditieren unterlassen, hatte keine Zeit gehabt, war immer zu unlustig und zerstreut oder allzu studienbeflissen und angeregt gewesen – ich hatte sogar mit der Zeit ganz das Bewußtsein meiner dauernden Unterlassungssünde verloren, und hatte mich jetzt, da ich beinah gescheitert und verzweifelt war, erst durch einen andern an sie erinnern lassen müssen. Und in der Tat hatte ich dann die größte Mühe, mich aus der Verwahrlosung herauszureißen, ich mußte zu den Schul- und Anfängerübungen im Meditieren zurückkehren, um nur die Fähigkeit zu Sammlung und Versenkung allmählich mir wieder anzueignen.«