Der Magister endete seinen Stubenspaziergang mit einem kleinen Seufzer und mit den Worten: »So ist es mir damals gegangen, und es beschämt mich noch heute ein wenig, davon zu sprechen. Aber es ist so, Josef: je mehr wir von uns verlangen, oder je mehr unsre jeweilige Aufgabe von uns verlangt, desto mehr sind wir auf die Kraftquelle der Meditation angewiesen, auf die immer erneute Versöhnung von Geist und Seele. Und – ich wüßte noch manche Beispiele dafür – je intensiver eine Aufgabe uns in Anspruch nimmt, uns bald erregt und steigert, bald ermüdet und niederdrückt, desto leichter kann es geschehen, daß wir diese Quelle vernachlässigen, so wie man beim Verbohrtsein in eine geistige Arbeit leicht dazu neigt, den Körper und seine Pflege zu vernachlässigen. Die wirklich großen Männer der Weltgeschichte haben alle entweder zu meditieren verstanden oder doch unbewußt den Weg dorthin gekannt, wohin Meditation uns führt. Die andern, auch die begabtesten und kräftigsten, sind alle am Ende gescheitert und unterlegen, weil ihre Aufgabe, oder ihr ehrgeiziger Traum, so von ihnen Besitz ergriff, sie so besaß und zu Besessenen machte, daß sie die Fähigkeit verloren, sich immer wieder vom Aktuellen zu lösen und zu distanzieren. Nun, du weißt dies ja, man lernt es ja schon bei den ersten Übungen. Es ist unerbittlich wahr. Wie unerbittlich wahr es ist, sieht man erst, wenn man den Weg einmal verloren hat.«
Es blieb von dieser Erzählung so viel in Josef wirksam, daß er die Gefahr, in der er selber stand, witterte und sich den Übungen mit erneuter Hingabe unterzog. Einen tiefen Eindruck machte es ihm, daß der Meister ihm zum erstenmal ein Stückchen aus seinem ganz persönlichen Leben gezeigt hatte, aus seiner Jugend und Studienzeit; zum erstenmal wurde ihm klar, daß auch ein Halbgott, ein Meister, einmal jung und auf Irrwegen habe sein können. Er empfand dankbar, welches Vertrauen der Verehrte ihm mit seinem Bekenntnis gezeigt hatte. Man konnte irrgehen, ermüden, Fehler machen, gegen Vorschriften verstoßen, und konnte doch wieder damit fertig werden, zurückfinden und am Ende noch ein Meister werden. Er überwand die Krise.
In den zwei bis drei Waldzeller Jahren, während die Freundschaft zwischen Plinio und Josef bestand, erlebte die Schule das Schauspiel dieser kämpferischen Freundschaft wie ein Drama mit, an welchem jeder ein wenig teilhatte, vom Vorstand bis zum jüngsten Schüler. Die beiden Welten, die beiden Prinzipien hatten sich in Knecht und Designori verkörpert, jeder steigerte den andern, jede Disputation wurde ein feierlicher und repräsentativer Wettkampf, der alle anging. Und wie Plinio aus jedem Ferienbesuch, aus jeder Umarmung seines Mutterbodens neue Kräfte mitbrachte, so sog Josef aus jedem Nachdenken, aus jeder Lektüre, aus jeder Versenkungsübung, aus jedem Wiedersehen mit dem Magister Musicae neue Kräfte, machte sich geeigneter zum Vertreter und Anwalt Kastaliens. Einst, als Kind noch, hatte er die erste Berufung erlebt. Jetzt erfuhr er die zweite, und diese Jahre schmiedeten und prägten ihn zur Gestalt des vollkommenen Kastaliers. Längst hatte er nun auch den ersten Unterricht im Glasperlenspiel absolviert und begann damals schon, in den Ferien und unter Kontrolle eines der Spielleiter, eigene Glasperlenspiele zu entwerfen. Hier nun entdeckte er eine der ergiebigsten Quellen der Freude und innern Entspannung; seit seinen unersättlichen Cembalo- und Klavichordübungen mit Carlo Ferromonte hatte nichts ihm so wohlgetan, ihn so gekühlt, gestärkt, bestätigt und beglückt wie diese ersten Vorstöße in die Sternenwelt des Glasperlenspiels.
Aus eben diesen Jahren nun stammen jene Gedichte des jungen Josef Knecht, die in der Abschrift Ferromontes sich erhalten haben; es ist wohl möglich, daß ihrer mehr waren, als auf uns gekommen sind, und es ist anzunehmen, daß auch diese Gedichte, deren früheste noch vor Knechts Einführung ins Glasperlenspiel entstanden sind, mitgeholfen haben, ihm die Durchführung seiner Rolle und das Überstehen jener kritischen Jahre zu ermöglichen. Jeder Leser wird da und dort in diesen zum Teil kunstvollen, zum Teil sichtlich rasch hingeschriebenen Versen Spuren der tiefen Erschütterung und Krise entdecken, welche Knecht damals unter Plinios Einfluß durchgemacht hat. Es klingt in mancher Zeile eine tiefe Beunruhigung, ein grundsätzlicher Zweifel an sich selbst und am Sinn seines Daseins, bis in dem Gedicht »Glasperlenspiel« die fromme Hingabe gelungen scheint. Übrigens lag ein gewisses Zugeständnis an die Welt Plinios, ein Stück Rebellion gegen gewisse kastalische Hausgesetze schon in der bloßen Tatsache, daß er diese Gedichte geschrieben und sie sogar mehreren Kameraden gelegentlich gezeigt hat. Denn wenn schon im allgemeinen Kastalien auf das Hervorbringen von Kunstwerken Verzicht geleistet hat (auch musikalisches Produzieren kennt und duldet man dort nur in der Form von stilistisch streng gebundenen Kompositionsübungen), so galt Gedichtemachen gar für das denkbar Unmöglichste, Lächerlichste, Verpönteste. Ein Spiel also, ein müßiges Schnitz- und Schnörkelwerk sind diese Gedichte nicht; es bedurfte eines hohen Drucks, um diese Produktivität in Fluß zu bringen, und es gehörte ein gewisser trotziger Mut dazu, diese Verse zu schreiben und sich zu ihnen zu bekennen.
Es bleibe nicht unerwähnt, daß auch Plinio Designori unter dem Einfluß seines Antagonisten erhebliche Wandlungen und Entwicklungen erfuhr, und zwar nicht nur im Sinn einer Erziehung zur Läuterung seiner Kampfmethoden. Während des kollegialen und kämpferischen Austausches jener Schuljahre sah er seinen Gegenspieler sich in stetiger Steigerung zum vorbildlichen Kastalier entwickeln, es trat ihm der Geist der Provinz in der Gestalt des Freundes immer sichtbarer und lebendiger entgegen, und ebenso wie er jenen bis zu einem gewissen Gärungsgrade mit der Atmosphäre seiner Welt infiziert hatte, atmete er selbst die kastalische Luft und erlag ihrem Reiz und Einfluß. Im letzten Jahr seiner Schulzeit, nach einer zweistündigen Disputation über die Ideale des Mönchtums und deren Gefahren, welche sie im Beisein der obersten Glasperlenspiel-Klasse ausgekämpft hatten, nahm er Josef zu einem Spaziergang mit und machte ihm auf diesem Gang ein Geständnis, das wir nach einem Brief Ferromontes zitieren: »Ich weiß natürlich längst, Josef, daß du der frommgläubige Glasperlenspieler und Provinzheilige nicht bist, dessen Rolle du so ausgezeichnet spielst. Jeder von uns beiden steht an exponierter Stelle in einem Kampf, und jeder von uns weiß ja wohl, daß das, wogegen er kämpft, zu Recht existiert und seine unbestrittenen Werte hat. Du stehst auf der Seite der Hochzucht des Geistes, ich auf der Seite des natürlichen Lebens. In unsrem Kampf hast du gelernt, die Gefahren des natürlichen Lebens auszuspüren und aufs Korn zu nehmen; dein Amt ist es, darauf hinzuweisen, wie das natürliche, naive Leben ohne geistige Zucht zum Sumpf werden und ins Tierische und noch weiter zurückführen muß. Und ich wieder muß immer wieder daran erinnern, wie gewagt, gefährlich und schließlich unfruchtbar ein Leben sei, das rein auf den Geist gestellt ist. Gut, jeder verteidigt das, an dessen Primat er glaubt, du den Geist, ich die Natur. Aber nimm es nicht übel, es will mir manchmal so vorkommen, als haltest du mich tatsächlich und naiv für so etwas wie einen Feind eures kastalischen Wesens, für einen Mann, dem eure Studien, Übungen und Spiele im Grunde nur Firlefanz bedeuten, wenn er sie auch aus diesen oder jenen Gründen eine Weile mitmacht. Ach, mein Lieber, wie sehr wärest du im Irrtum, wenn du das wirklich glauben solltest! Ich will dir bekennen, daß ich zu eurer Hierarchie eine ganz närrische Liebe habe, daß sie mich oft entzückt und verlockt wie das Glück selbst. Ich will dir auch bekennen, daß ich vor Monaten, als ich eine Weile zu Hause bei den Eltern war, eine Aussprache mit meinem Vater durchgekämpft und es erreicht habe, daß er mir erlaubt, Kastalier zu bleiben und in den Orden einzutreten für den Fall, daß am Ende meiner Schulzeit dies mein Wunsch und Entschluß sein sollte; und ich war glücklich, als er endlich seine Einwilligung dazu gab. Nun, ich werde keinen Gebrauch von ihr machen, das weiß ich seit kurzem. O nicht, daß ich die Lust dazu verloren hätte! Aber ich sehe mehr und mehr: für mich würde das Verbleiben bei euch eine Flucht bedeuten, eine anständige, eine edle Flucht vielleicht, aber eben doch eine Flucht. Ich werde zurückkehren und ein Weltmensch werden. Aber ein Weltmensch, der eurem Kastalien dankbar bleibt, einer, der manche eurer Übungen weiter üben und jedes Jahr das große Glasperlenspiel mitfeiern wird.«
Mit tiefer Bewegung teilte Knecht dies Geständnis Plinios seinem Freunde Ferromonte mit. Und dieser fügt der Erzählung in eben jenem Briefe die Worte bei: »Mir, dem Musiker, war dies Bekenntnis Plinios, dem ich nicht immer gerecht geworden war, wie ein musikalisches Erlebnis. Der Gegensatz: Welt und Geist, oder der Gegensatz: Plinio und Josef hatte sich vor meinen Augen aus dem Kampf zweier unversöhnlicher Prinzipien in ein Konzert sublimiert.«
Als Plinio seinen vierjährigen Schulkurs beendet hatte und nach Hause zurückkehren sollte, brachte er dem Vorstand einen Brief seines Vaters, der Josef Knecht für die Ferien einlud. Dies war ein ungewöhnliches Ansinnen. Urlaub zu Reisen und Aufenthalt außerhalb der pädagogischen Provinz gab es zwar, vor allem zu Studienzwecken, nicht allzu selten, doch war er allerdings eine Ausnahme und wurde nur älteren und bewährteren Studierenden, niemals aber Schülern gewährt. Schulvorstand Zbinden hielt immerhin die Einladung, da sie von einem so hochgeachteten Hause und Manne kam, für wichtig genug, um sie nicht von sich aus abzulehnen, sondern legte sie dem Ausschuß der Erziehungsbehörde vor, welche sie alsbald mit einem lakonischen Nein beantwortete. Die Freunde mußten Abschied voneinander nehmen.