»Wir werden es später wieder mit der Einladung versuchen,« sagte Plinio, »irgendeinmal wird es schon glücken. Du mußt einmal mein Vaterhaus und meine Leute kennenlernen und sehen, daß auch wir Menschen sind und nicht bloß so ein Geschmeiß von Welt- und Geschäftsleuten. Du wirst mir sehr fehlen. Und nun sieh zu, Josef, daß du in diesem komplizierten Kastalien bald nach oben kommst; du eignest dich zwar sehr zum Glied einer Hierarchie, aber nach meiner Meinung doch mehr zum Bonzen als zum Famulus, deinem Namen zum Trotz. Ich prophezeie dir eine große Zukunft, du wirst eines Tages Magister sein und zu den Erlauchten zählen.«
Josef sah ihn traurig an.
»Spotte nur!« sagte er, mit der Bewegung des Abschiednehmens kämpfend. »Ich bin nicht so ehrgeizig wie du, und wenn ich es jemals zu einem Amt bringe, so wirst du längst Präsident oder Bürgermeister, Hochschulprofessor oder Bundesrat sein. Denke freundlich an uns, Plinio, und an Kastalien, entfremde dich uns nicht ganz! Es muß doch bei euch draußen auch einige Leute geben, die von Kastalien mehr wissen als die Witze, die dort draußen über uns gemacht werden.«
Sie drückten einander die Hände, und Plinio reiste ab. Für sein letztes Waldzeller Jahr wurde es um Josef sehr still, seine exponierte und anstrengende Funktion als gewissermaßen öffentliche Persönlichkeit hatte plötzlich ein Ende, Kastalien brauchte keinen Verteidiger mehr. Seine Freizeit widmete er in diesem Jahr vorwiegend dem Glasperlenspiel, das ihn mehr und mehr anzog. Ein Heftchen Notizen aus jener Zeit über Bedeutung und Theorie des Spieles beginnt mit dem Satz: »Das Ganze des Lebens, des physischen wie des geistigen, ist ein dynamisches Phänomen, von welchem das Glasperlenspiel im Grunde nur die ästhetische Seite erfaßt, und zwar erfaßt es sie vorwiegend im Bild rhythmischer Vorgänge.«
Studienjahre
Josef Knecht war nun etwa vierundzwanzig Jahre alt. Mit der Entlassung aus Waldzell war seine Schülerzeit abgeschlossen, und es begannen die Jahre des freien Studierens; mit Ausnahme der harmlosen Eschholzer Knabenjahre sind sie wohl die heitersten und glücklichsten seines Lebens gewesen. Es ist ja auch immer aufs neue etwas Wunderbares und rührend Schönes um die schweifende Entdeckungs- und Eroberungslust eines Jünglings, der zum erstenmal frei vom Schulzwang sich den unendlichen Horizonten des Geistigen entgegen bewegt, dem noch keine Illusion zerflattert, kein Zweifel weder an der eigenen Fähigkeit zu unendlicher Hingabe, noch an der Unbegrenztheit der geistigen Welt gekommen ist. Gerade für Begabungen von Josef Knechts Art, welche nicht von einem Einzeltalent schon früh zur Konzentration auf ein Spezialfach gedrängt werden, sondern ihrem Wesen nach auf Ganzheit, auf Synthese und Universalität zielen, ist dieser Frühling der Studienfreiheit nicht selten eine Zeit intensiven Glückes, ja beinahe Rausches; ohne die vorangegangene Zucht der Eliteschule, ohne die seelische Hygiene der Meditationsübungen und ohne die mild geübte Kontrolle der Erziehungsbehörde wäre diese Freiheit für solche Begabungen eine schwere Gefahr und müßte vielen zum Verhängnis werden, wie sie es in den Zeiten vor unsrer heutigen Ordnung, in den vorkastalischen Jahrhunderten, unzähligen hohen Begabungen gewesen ist. An den Hochschulen jener Vorzeit hat es zu gewissen Zeiten von jungen faustischen Naturen geradezu gewimmelt, welche mit vollen Segeln aufs hohe Meer der Wissenschaften und der akademischen Freiheit fuhren und alle Schiffbrüche eines ungezügelten Dilettantismus erleiden mußten; Faust selber ist ja der Prototyp des genialen Dilettantismus und seiner Tragik. In Kastalien nun ist die geistige Freiheit der Studierenden noch unendlich viel größer, als sie es je an den Universitäten früherer Epochen war, denn die zur Verfügung stehenden Möglichkeiten zu Studien sind viel reichhaltiger, außerdem fehlt in Kastalien völlig die Beeinflussung und Beschränkung durch materielle Rücksichten, durch Ehrgeiz, Ängstlichkeit, Armut der Eltern, Aussichten auf Brot und Karriere und so weiter. In den Akademien, Seminaren, Bibliotheken, Archiven, Laboratorien der pädagogischen Provinz ist jeder Studierende, was seine Herkunft und was seine Aussichten betrifft, vollkommen gleichgestellt; die Hierarchie stuft sich lediglich aus den intellektuellen und charakterlichen Anlagen und Qualitäten der Schüler. In materieller und geistiger Hinsicht dagegen sind von den Freiheiten, Verlockungen und Gefahren, welchen an weltlichen Hochschulen viele Begabte zum Opfer fallen, in Kastalien die meisten nicht vorhanden; es besteht auch hier noch Gefahr, Dämonie und Verblendung genug – wo wäre das Menschendasein von ihnen frei? – aber der kastalische Student ist immerhin manchen Möglichkeiten der Entgleisung, der Enttäuschung und des Untergangs entzogen. Weder kann es ihm geschehen, daß er der Trunksucht verfällt, noch kann er seine Jugendjahre an die renommistischen oder geheimbündlerischen Gepflogenheiten gewisser Studentengenerationen der älteren Zeit verlieren, noch auch kann er eines Tages die Entdeckung machen, daß sein studentisches Reifezeugnis ein Irrtum war, daß er erst im Lauf seiner Studienzeit auf nicht wieder auszufüllende Lücken in seiner Vorbildung stößt; vor diesen Mißständen schützt ihn die kastalische Ordnung. Auch die Gefahr, sich an Frauen oder an sportliche Exzesse zu verschwenden, ist nicht eben groß. Was die Frauen betrifft, so kennt der kastalische Student weder die Ehe mit ihren Verlockungen und Gefahren, noch kennt er die Prüderie mancher vergangenen Epoche, welche den Studenten entweder zu geschlechtlicher Askese zwang oder ihn auf mehr oder weniger käufliche und dirnenhafte Weiber anwies. Da es für die Kastalier keine Ehe gibt, gibt es auch keine auf die Ehe hin gerichtete Liebesmoral. Da es für den Kastalier kein Geld und so gut wie kein Eigentum gibt, existiert auch die Käuflichkeit der Liebe nicht. Es ist in der Provinz Sitte, daß die Bürgertöchter nicht allzu früh heiraten, und in den Jahren vor der Ehe scheint ihnen der Student und Gelehrte als Geliebter ganz besonders begehrenswert; er fragt nicht nach Herkunft und Vermögen, ist gewohnt, geistige Fähigkeiten den vitalen mindestens gleichzustellen, hat meistens Phantasie und Humor und muß, da er kein Geld hat, mehr als andre mit dem Einsatz seiner selbst bezahlen. Die Studentenliebste in Kastalien kennt die Frage nicht: wird er mich heiraten? Nein, er wird sie nicht heiraten. Zwar ist tatsächlich auch dies schon geschehen; es hat sich je und je der seltene Fall ereignet, daß ein Elitestudent auf dem Weg der Heirat in die bürgerliche Welt zurückkehrte, unter Verzicht auf Kastalien und die Zugehörigkeit zum Orden. Doch spielen diese paar Fälle von Abtrünnigwerden in der Geschichte der Schulen und des Ordens kaum eine andre Rolle als die einer Kuriosität.
Der Grad an Freiheit und Selbstbestimmung, mit welchem der Eliteschüler nach der Entlassung aus den vorbereitenden Schulen sich allen Wissens- und Forschungsgebieten gegenübergestellt findet, ist in der Tat ein sehr hoher. Eingeschränkt wird diese Freiheit, soweit nicht die Begabungen und Interessen von Anfang an engere sind, lediglich durch die Verpflichtung jedes frei Studierenden zur Vorlage eines Studienplanes jeweils für ein Halbjahr, dessen Durchführung von den Behörden milde überwacht wird. Für die vielseitig Begabten und Interessierten – und zu ihnen gehörte Knecht – haben die paar ersten Studienjahre durch diese sehr weitgehende Freiheit etwas wunderbar Verlockendes und Entzückendes. Gerade diesen vielseitig Interessierten läßt die Behörde, wenn sie nicht etwa geradezu ins Bummeln geraten, eine beinahe paradiesische Freiheit; der Schüler mag nach Belieben sich in allen Wissenschaften umsehen, die verschiedensten Studiengebiete miteinander vermischen, sich in sechs oder acht Wissenschaften gleichzeitig verlieben oder von Anfang an sich an eine engere Auswahl halten; außer der Innehaltung der allgemeinen, für Provinz und Orden geltenden moralischen Lebensregeln wird nichts von ihm verlangt als jährlich einmal der Ausweis über die von ihm gehörten Vorlesungen, über seine Lektüre und seine Arbeit in Instituten. Die genauere Kontrolle und Prüfung seiner Leistungen beginnt erst dort, wo er fachwissenschaftliche Kurse und Seminare besucht, zu welchen auch die des Glasperlenspiels und der Musikhochschule gehören; hier freilich hat jeder Studierende sich den offiziellen Prüfungen zu stellen und die vom Seminarleiter verlangten Arbeiten zu leisten, wie es sich von selbst versteht. Aber niemand zwingt ihn in diese Kurse, er kann semesterlang und jahrelang nach Belieben auch nur in den Bibliotheken sitzen und Vorlesungen hören. Diese Studenten, die mit der Bindung an ein einzelnes Wissensgebiet sich lange Zeit lassen, zögern zwar damit ihre Aufnahme in den Orden hinaus, werden aber mit großer Duldung auf ihren Streifzügen durch alle möglichen Wissenschaften und Studienarten belassen, ja gefördert. Es wird von ihnen, außer dem moralischen Wohlverhalten, nichts an Leistung verlangt als jedes Jahr die Abfassung eines »Lebenslaufes.« Diese alte und oft bespöttelte Sitte ist es, der wir die drei während seiner Studienjahre geschriebenen Lebensläufe Knechts verdanken. Es handelt sich bei ihnen also nicht, wie bei den in Waldzell entstandenen Gedichten, um eine rein freiwillige und inoffizielle, ja heimliche und mehr oder weniger verbotene Art von literarischer Tätigkeit, sondern um eine normale und offizielle. Schon in den frühesten Zeiten der pädagogischen Provinz war die Sitte aufgekommen, die jungem Studierenden, das heißt die noch nicht in den Orden Aufgenommenen, je und je zur Abfassung einer besonderen Art von Aufsatz oder Stilübung anzuhalten, nämlich eines sogenannten »Lebenslaufes,« das heißt einer fiktiven, in eine beliebige Zeit zurückverlegten Selbstbiographie. Der Schüler hatte die Aufgabe, sich in eine Umgebung und Kultur, in das geistige Klima irgendeiner frühern Epoche zurückzuversetzen und sich darin eine ihm entsprechende Existenz auszudenken; je nach Zeit und Mode war das kaiserliche Rom, das Frankreich des siebzehnten oder das Italien des fünfzehnten Jahrhunderts, das perikleische Athen oder das Österreich der Mozartzeit bevorzugt, und bei den Philologen war es Sitte geworden, daß sie ihre Lebensromane in der Sprache und im Stil des Landes und der Zeit abfaßten, in welchen sie spielten; es gab zuzeiten höchst virtuose Lebensläufe im Kurialstil des päpstlichen Rom um das Jahr 1200, im Mönchslatein, im Italienisch der »Hundert Novellen,« im Französisch Montaignes, im Barockdeutsch des Schwans von Boberfeld. Es lebte ein Rest des alten asiatischen Wiedergeburts- und Seelenwanderungsglaubens in dieser freien und spielerischen Form hier fort; allen Lehrern und Schülern war die Vorstellung geläufig, daß ihrer jetzigen Existenz frühere vorangegangen sein könnten, in anderen Körpern, zu andern Zeiten, unter andern Bedingungen. Dies war nun freilich nicht etwa ein Glaube im strengen Sinn, noch viel weniger war es eine Lehre; es war eine Übung, ein Spiel der Imaginationskräfte, sich das eigene Ich in veränderten Lagen und Umgebungen vorzustellen. Man übte sich dabei, so wie man es in vielen stilkritischen Seminaren und so oft auch im Glasperlenspiele tat, im behutsamen Eindringen in vergangene Kulturen, Zeiten und Länder, lernte seine eigene Person als Maske, als vergängliches Kleid einer Entelechie betrachten. Die Sitte, solche Lebensläufe zu schreiben, hatte ihren Reiz und hatte manche Vorzüge, sie hätte sich sonst wohl auch nicht so lange erhalten. Übrigens war die Zahl der Studierenden gar nicht so sehr klein, welche nicht nur an die Idee der Reinkarnation mehr oder weniger glaubten, sondern auch an die Wahrheit ihrer eigenen erfundenen Lebensläufe. Denn natürlich waren die meisten dieser imaginierten Vorexistenzen nicht nur Stilübungen und historische Studien, sondern auch Wunschbilder und gesteigerte Selbstbildnisse: die Verfasser der meisten Lebensläufe schilderten sich in demjenigen Kostüm und als denjenigen Charakter, als welcher zu erscheinen und sich zu verwirklichen ihr Wunsch und Ideal war. Des weiteren waren die Lebensläufe, pädagogisch kein schlechter Gedanke, ein legitimer Kanal für das dichterische Bedürfnis des jugendlichen Alters. War auch seit Generationen das eigentliche, ernsthafte Dichten verpönt und teils durch die Wissenschaften, teils durch das Glasperlenspiel ersetzt, so war doch der Künstler- und Gestaltungstrieb des Jugendalters nicht erledigt; er fand in den Lebensläufen, welche sich oft bis zu kleinen Romanen erweiterten, ein erlaubtes Feld der Betätigung. Auch mochte mancher Verfasser dabei die ersten Schritte ins Land der Selbsterkenntnis tun. Übrigens kam es auch des öfteren vor und stieß bei den Lehrern meistens auf wohlwollendes Verständnis, daß Studierende ihre Lebensläufe zu kritischen und revolutionären Auslassungen über die heutige Welt und über Kastalien benutzten. Außerdem aber waren diese Aufsätze für die Lehrer gerade während der Zeit, in welcher die Studierenden die größte Freiheit genossen und keiner genauen Kontrolle unterlagen, sehr aufschlußreich und gaben ihnen über das geistige und moralische Leben und Befinden der Verfasser oft überraschend deutliche Auskunft.