Von Josef Knecht sind drei solche Lebensläufe erhalten, wir werden sie wortgetreu mitteilen und halten sie für den vielleicht wertvollsten Teil unseres Buches. Ob er nur diese drei Lebensläufe geschrieben habe, ob nicht einer oder der andere verlorengegangen sei, darüber sind mancherlei Vermutungen möglich. Mit Bestimmtheit wissen wir nur, daß es Knecht nach der Überreichung seines dritten, des »indischen« Lebenslaufes von der Kanzlei der Erziehungsbehörde nahegelegt wurde, er möge einen etwaigen noch folgenden Lebenslauf in eine historisch näherliegende und reicher dokumentierte Epoche verlegen und sich mehr um das historische Detail bekümmern. Wir wissen aus Erzählungen und Briefen, daß er daraufhin in der Tat Vorstudien zu einem Lebenslauf aus dem achtzehnten Jahrhundert gemacht hat. Er wollte darin als schwäbischer Theologe auftreten, der den Kirchendienst später mit der Musik vertauscht, der ein Schüler Johann Albrecht Bengels, ein Freund Oetingers und eine Weile Gast der Gemeinde Zinzendorfs war. Wir wissen, daß er damals eine Menge alter, zum Teil entlegener Literatur über Kirchenverfassung, über Pietismus und Zinzendorf, über Liturgie und Kirchenmusik jener Zeit gelesen und exzerpiert hat. Wir wissen auch, daß er für die Gestalt des magischen Prälaten Oetinger eine richtige Verliebtheit, für die des Magisters Bengel eine echte Liebe und tiefe Verehrung empfand – sein Bildnis ließ er sich eigens photographieren und hatte es eine Weile auf dem Schreibtisch stehen – und sich um die Würdigung Zinzendorfs, der ihn ebenso interessierte wie abstieß, ehrlich bemüht hat. Am Ende ließ er diese Arbeit liegen, zufrieden mit dem, was er bei ihr gelernt hatte, erklärte sich aber für unfähig, daraus einen Lebenslauf zu machen, denn er habe viel zuviel Einzelstudien getrieben und Details gesammelt. Diese Aussage berechtigt uns vollends, in jenen ausgeführten drei Lebensläufen mehr die Schöpfungen und Bekenntnisse eines dichterischen Menschen und eines edlen Charakters als die Arbeiten eines Gelehrten zu sehen, womit wir ihnen nicht Unrecht zu tun meinen.
Für Knecht kam nun aber zu der Freiheit des in die selbstgewählten Studien entlassenen Schülers noch eine andere Freiheit und Entspannung hinzu. Er war ja nicht nur ein Zögling wie alle gewesen, hatte nicht nur die Ordnung der strengen Schulung, der genauen Tageseinteilung, der sorgfältigen Kontrolle und Beobachtung durch die Lehrer über sich gehabt und war allen Anstrengungen eines Eliteschülers ausgesetzt gewesen. Er war, neben diesem allem und weit darüber hinaus, durch sein Verhältnis zu Plinio zum Träger einer Rolle und einer Verantwortung geworden, die ihn geistig und seelisch bis an die Grenzen des Möglichen teils anspornte, teils belastete, einer aktiven sowohl wie repräsentativen Rolle, einer Verantwortung, welche eigentlich über seine Jahre und Kräfte ging und welche er, oft gefährdet genug, nur aus einem Überschuß an Willenskraft und Begabung bewältigt hatte und ohne den mächtigen Beistand aus der Ferne, den Musikmeister, überhaupt nicht hätte zu Ende führen können. Wir finden ihn, den etwa Vierundzwanzigjährigen, am Ende seiner ungewöhnlichen Waldzeller Schuljahre zwar über sein Alter gereift und etwas überanstrengt, erstaunlicherweise aber nicht erkennbar geschädigt. Wie tief dennoch sein ganzes Wesen durch jene Rolle und Last in Anspruch genommen, ja der Erschöpfung nahegebracht worden war, darüber fehlt es zwar an unmittelbaren Zeugnissen, wir erkennen es aber, sobald wir die Art betrachten, auf welche der den Schulen Entwachsene in den ersten Jahren von der errungenen und gewiß oft tief ersehnten Freiheit Gebrauch gemacht hat. Knecht, der während seiner letzten Schülerjahre an so sichtbarer Stelle gestanden und gewissermaßen schon der Öffentlichkeit angehört hatte, hat sich aus ihr sofort und vollkommen zurückgezogen; ja wenn man die Spuren seines damaligen Lebens aufsucht, hat man den Eindruck: am liebsten hätte er sich unsichtbar gemacht, keine Umgebung und Gesellschaft konnte ihm harmlos genug, keine Existenzform privat genug sein. So hat er auch auf einige lange und stürmische Briefe Designoris erst kurz und unlustig, dann gar nicht mehr geantwortet. Der berühmte Schüler Knecht verschwand und war nicht mehr aufzufinden; nur in Waldzell blühte sein Ruhm weiter und wurde mit der Zeit beinah zur Legende.
So hat er im Beginn seiner Studienjahre aus den genannten Gründen Waldzell gemieden, daraus ergab sich denn auch der vorläufige Verzicht auf die höheren und höchsten Kurse im Glasperlenspiel. Trotzdem aber, das heißt obwohl ein oberflächlicher Beobachter damals eine auffallende Vernachlässigung des Glasperlenspiels bei Knecht hätte feststellen können, wissen wir, daß im Gegenteil der ganze, scheinbar launische und zusammenhanglose, jedenfalls recht ungewöhnliche Gang seiner freien Studien vom Glasperlenspiel beeinflußt war und zu ihm und dem Dienst am Spiel zurückführte. Wir gehen darauf etwas ausführlicher ein, denn dieser Zug ist charakteristisch; Josef Knecht hat auf die wunderlichste, eigensinnigste Weise sich seiner Studierfreiheit bedient, auf eine verblüffende, jugendlich geniale Weise. Während seiner Waldzeller Jahre hatte er wie üblich die offizielle Einführung ins Glasperlenspiel und den Wiederholungskurs durchgemacht; dann war er, im Lauf des letzten Schuljahres und im Freundeskreis schon damals im Ruf eines guten Spielers stehend, von der Anziehungskraft des Spiels der Spiele mit solcher Heftigkeit ergriffen worden, daß er, nach Absolvierung eines weiteren Kurses, noch als Eliteschüler unter die Spieler der zweiten Stufe aufgenommen wurde, was eine recht seltene Auszeichnung bedeutet.
Einem Kameraden beim offiziellen Wiederholungskurs, seinem Freunde und spätem Gehilfen Fritz Tegularius, hat er einige Jahre später ein Erlebnis berichtet, das nicht nur seine Bestimmung zum Glasperlenspieler entschied, sondern auch auf den Gang seiner Studien von größtem Einfluß war. Der Brief ist erhalten, die Stelle lautet: »Laß mich dich aus jener Zeit, wo wir beide, derselben Gruppe zugeteilt, so eifrig an unsern ersten Dispositionen zu Glasperlenspielen arbeiteten, an einen bestimmten Tag und ein bestimmtes Spiel erinnern. Unser Gruppenleiter hatte uns verschiedene Anregungen gegeben und allerlei Themata zur Wahl gestellt; wir waren gerade bei dem heiklen Übergang von der Astronomie, Mathematik und Physik zu den Sprach- und Geschichtswissenschaften, und der Leiter war ein Virtuose in der Kunst, uns begierigen Anfängern Fallen zu stellen und uns auf das Glatteis unzulässiger Abstraktionen und Analogien zu locken, er schmuggelte uns verlockende etymologische und sprachvergleichende Spielereien in die Hände und hatte seinen Spaß daran, wenn einer von uns darauf hereinfiel. Wir zählten griechische Silbenlängen bis zur Ermüdung, um dann plötzlich den Boden unter den Füßen weggezogen zu bekommen, indem wir vor die Möglichkeit, ja Notwendigkeit eines akzentuierenden, statt des metrischen Skandierens gestellt wurden, und dergleichen mehr. Er machte seine Sache formal glänzend und ganz korrekt, wenn auch in einem Geist, der mir nicht angenehm war, er zeigte uns Irrgänge und verlockte uns zu Fehlspekulationen, zwar mit der guten Absicht, uns mit den Gefahren bekannt zu machen, aber ein wenig auch, um uns dumme Jungen auszulachen und gerade den Eifrigsten möglichst viel Skepsis in ihre Begeisterung zu gießen. Dennoch geschah es gerade unter ihm und bei einem seiner verzwickten Vexier-Experimente, daß ich, während wir tastend und ängstlich ein halbwegs taugliches Spielproblem zu entwerfen versuchten, plötzlich und mit einem Schlage vom Sinn und von der Größe unsres Spiels ergriffen und bis ins Innerste erschüttert wurde. Wir sezierten an einem sprachgeschichtlichen Problem herum und sahen gewissermaßen dem Höhepunkt und der Glanzzeit einer Sprache aus der Nähe zu, gingen in Minuten einen Weg mit ihr, zu dem sie einige Jahrhunderte gebraucht hatte, und mich packte das Schauspiel der Vergänglichkeit gewaltig an: wie da vor unsern Augen ein so komplizierter, alter, ehrwürdiger, in vielen Generationen langsam aufgebauter Organismus zu seiner Blüte kommt, und die Blüte schon den Keim des Verfalls enthält, und der ganze sinnvoll gegliederte Bau zu sinken, zu entarten, dem Untergang entgegenzuwanken beginnt – und zugleich durchfuhr es mich mit einem Zuck und freudigen Schrecken, daß dennoch der Verfall und Tod jener Sprache nicht ins Nichts geführt hatte, daß ihre Jugend, ihre Blüte, ihr Niedergang in unserem Gedächtnis, im Wissen um sie und ihre Geschichte, aufbewahrt und daß sie in den Zeichen und Formeln der Wissenschaft sowohl wie in den geheimen Formulierungen des Glasperlenspiels fortlebe und jederzeit wieder aufgebaut werden könne. Ich begriff plötzlich, daß in der Sprache oder doch mindestens im Geist des Glasperlenspiels tatsächlich alles allbedeutend sei, daß jedes Symbol und jede Kombination von Symbolen nicht hierhin oder dorthin, nicht zu einzelnen Beispielen, Experimenten und Beweisen führe, sondern ins Zentrum, ins Geheimnis und Innerste der Welt, in das Urwissen. Jeder Übergang von Dur zu Moll in einer Sonate, jede Wandlung eines Mythos oder eines Kultes, jede klassische, künstlerische Formulierung sei, so erkannte ich im Blitz jenes Augenblicks, bei echter meditativer Betrachtung, nichts andres als ein unmittelbarer Weg ins Innere des Weltgeheimnisses, wo im Hin und Wider zwischen Ein- und Ausatmen, zwischen Himmel und Erde, zwischen Yin und Yang sich ewig das Heilige vollzieht. Zwar hatte ich damals schon manches gut aufgebaute und gut durchgeführte Spiel als Zuhörer miterlebt, und es war mir manche große Erhebung und manche beglückende Einsicht dabei zuteil geworden; doch war ich bis dahin über den eigentlichen Wert und Rang des Spieles an sich immer wieder zu Zweifeln geneigt gewesen. Am Ende konnte ja jede gut gelöste Mathematikaufgabe geistigen Genuß bringen, jede gute Musik konnte beim Hören, und noch weit mehr beim Spielen, die Seele erheben und ins Große dehnen, und jede andächtige Meditation konnte das Herz beruhigen und es zum Einklang mit dem All stimmen; aber eben darum war doch vielleicht das Glasperlenspiel, so sagten meine Zweifel, nur eine formale Kunst, eine geistreiche Fertigkeit, eine witzige Kombination, und dann war es besser, dies Spiel nicht zu spielen, sondern sich mit sauberer Mathematik und guter Musik zu beschäftigen. Jetzt aber hatte ich zum erstenmal die innere Stimme des Spieles selbst vernommen, seinen Sinn, sie hatte mich erreicht und durchdrungen, und seit jener Stunde bin ich des Glaubens, daß unser königliches Spiel wirklich eine lingua sacra, eine heilige und göttliche Sprache ist. Du wirst dich erinnern, denn du selbst hast damals bemerkt, daß eine Wandlung in mir vorgegangen war und ein Ruf mich erreicht hatte. Ich kann ihn nur jenem unvergeßlichen Ruf vergleichen, der einst mein Herz und mein Leben verwandelt und emporgehoben hat, da ich als kleiner Knabe vom Magister Musicae geprüft und nach Kastalien berufen worden bin. Du hast es bemerkt, das spürte ich damals wohl, wenn du auch kein Wort darüber sagtest; wir wollen auch heute nichts weiter darüber sagen. Aber nun habe ich eine Bitte an dich, und um sie dir zu erklären, muß ich dir sagen, was sonst niemand weiß und wissen soll, nämlich, daß mein derzeitiges Herumstudieren keiner Laune entspringt, daß ihm vielmehr ein ganz bestimmter Plan zugrunde liegt. Du entsinnst dich, in großen Zügen wenigstens, jener Glasperlenspielübung, die wir damals als Schüler im dritten Kurs mit Hilfe des Leiters aufbauten und in deren Verlauf ich jene Stimme vernahm und meine Berufung zum Lusor erlebte. Nun, jenes Übungsspiel, das mit einer rhythmischen Analyse des Themas zu einer Fuge begann und in dessen Mitte ein angeblicher Satz des Kungtse stand, jenes ganze Spiel von Anfang bis zu Ende studiere ich jetzt, das heißt, ich arbeite mich durch jeden seiner Sätze durch, übersetze ihn aus der Spielsprache in seine Ursprache zurück, in Mathematik, in Ornamentik, in Chinesisch, in Griechisch usw. Ich will, wenigstens dies eine Mal im Leben, den ganzen Inhalt eines Glasperlenspiels fachmäßig nachstudieren und nachkonstruieren; den ersten Teil habe ich schon hinter mir und habe zwei Jahre dazu gebraucht. Es wird natürlich noch manche Jahre kosten. Aber da wir nun einmal unsre berühmte Studienfreiheit in Kastalien haben, will ich sie eben auf diese Art benützen. Die Einwände dagegen sind mir bekannt. Die meisten unsrer Lehrer würden sagen: wir haben in einigen Jahrhunderten das Glasperlenspiel erfunden und ausgebaut, als eine universale Sprache und Methode, um alle geistigen und künstlerischen Werte und Begriffe auszudrücken und auf ein gemeinsames Maß zu bringen. Nun kommst du und willst nachprüfen, ob das auch stimme! Du wirst dein Leben dazu brauchen und wirst es bereuen. Nun, ich werde nicht mein Leben dazu brauchen und hoffe es auch nicht zu bereuen. Und nun meine Bitte: da du zur Zeit im Spielarchiv arbeitest und ich aus besonderen Gründen Waldzell noch für eine gute Weile meiden möchte, sollst du mir je und je eine Anzahl Fragen beantworten, das heißt, mir in der nicht gekürzten Form jeweils die offiziellen Schlüssel und Zeichen für allerlei Themata aus dem Archiv mitteilen. Ich rechne auf dich und rechne darauf, daß du, sobald ich dir irgendwelche Gegendienste leisten kann, über mich verfügst.«