»Und du... du verzeihst mir, Sergej?«
»Ach, lieber Onkel!...«
Er umarmte mich von neuem.
»Nun seien Sie aber auf der Hut, lieber Onkel; Sie haben alle gegen sich; Sie müssen allen widerstehen und energisch entgegentreten, und zwar gleich morgen.«
»Ja... ja, morgen!« wiederholte er etwas nachdenklich. »Weißt du, wir wollen uns mit Mannhaftigkeit, mit wahrer Seelengröße und mit Charakterfestigkeit ans Werk machen... besonders mit Charakterfestigkeit!«
»Werden Sie nur nicht zaghaft, lieber Onkel!«
»Nein, ich werde nicht zaghaft werden, lieber Sergej! Nur ein Bedenken habe ich: ich weiß nicht, wie ich es angreifen, wie ich dabei vorgehen soll!«
»Denken Sie darüber nicht weiter nach, lieber Onkel! Der morgige Tag wird das alles entscheiden. Beruhigen Sie sich heute! Je mehr man darüber nachdenkt, desto schlimmer. Und wenn Foma ein Wort dagegen sagt, so jagen Sie ihn sofort aus dem Haus und zermalmen Sie ihn zu Staub!«
»Ob es nicht auch geht, ohne daß ich ihn fortjage? Ich habe mir die Sache so zurechtgelegt, lieber Freund: gleich morgen früh bei Tagesanbruch will ich zu ihm gehen und ihm alles erzählen, so wie ich es jetzt dir erzählt habe; er muß mich doch verstehen, da er ein edler Mensch, der edelste aller Menschen ist! Aber eines beunruhigt mich: wie, wenn Mama heute schon Tatjana Iwanowna von dem morgigen Heiratsantrag in Kenntnis gesetzt hat? Das wäre doch recht schlimm!«
»Über Tatjana Iwanowna brauchen Sie sich keine Sorgen zu machen, lieber Onkel.«
Und ich erzählte ihm die Szene, die ich vor dem Pavillon mit Obnoskin gehabt hatte. Der Onkel war höchst erstaunt. Von Misintschikow sagte ich keine Silbe.
»Eine exaltierte Person! Wirklich eine exaltierte Person!« rief er aus. »Das arme Frauenzimmer! Da machen sich nun solche Menschen an sie heran und wollen ihre Einfalt ausnutzen! War es denn wirklich Obnoskin? Aber der war doch schon abgereist... Sonderbar, sehr sonderbar! Ich bin ganz überrascht, lieber Sergej... Das müssen wir gleich morgen untersuchen und die erforderlichen Maßnahmen treffen... Aber bist du auch ganz sicher, daß es Tatjana Iwanowna war?«
Ich antwortete, ich hätte zwar ihr Gesicht nicht gesehen, sei aber aus gewissen Gründen fest davon überzeugt, daß es Tatjana Iwanowna gewesen sei.
»Hm! Ist es nicht vielleicht doch eine Liebelei mit einem Gutsmädchen gewesen, und ist es dir vielleicht nur so vorgekommen, daß es Tatjana Iwanowna war? War es nicht etwa Dascha, die Tochter des Gärtners? Das ist ein leichtfertiges Ding! Sie ist bei dergleichen schon überrascht worden; darum spreche ich diese Vermutung aus. Anna Nilowna hat ihr nachgespürt!... Aber nein, das stimmt doch nicht! Er hat ja gesagt, er werde die Betreffende heiraten. Sonderbar, sonderbar!«
Endlich trennten wir uns. Ich umarmte meinen Onkel und segnete ihn.
»Morgen, morgen«, sagte er noch einmal, »wird sich alles entscheiden; noch ehe du aufstehst, wird es sich entscheiden. Ich werde zu Foma gehen, mich ihm gegenüber ritterlich benehmen und ihm wie einem leiblichen Bruder alle verborgensten Regungen meines Herzens, mein ganzes Inneres offenlegen. Gute Nacht, lieber Sergej! Lege dich schlafen: du bist müde; ich werde gewiß die ganze Nacht über kein Auge schließen.«
Er ging weg. Ich legte mich sogleich hin, da ich unglaublich müde und erschöpft war. Das war ein schwerer Tag gewesen. Meine Nerven waren stark angegriffen, und ehe ich endgültig einschlief, fuhr ich mehrere Male zusammen und wachte wieder auf. Aber wie seltsam auch meine Empfindungen beim Einschlafen waren, so war das doch nichts im Vergleich mit der Sonderbarkeit meines Erwachens am andern Morgen.
Zweiter und letzter Teil
I
Die Verfolgung
Ich schlief fest und traumlos. Auf einmal fühlte ich, daß sich eine Last von mehr als drei Zentnern auf meine Beine legte. Ich schrie auf und erwachte. Es war schon Tag; die Sonne schien hell durchs Fenster herein. Auf meinem Bett oder, richtiger gesagt, auf meinen Beinen saß Herr Bachtschejew.
Daran zu zweifeln war nicht möglich: er war es. Nachdem ich mit Mühe und Not meine Beine befreit hatte, richtete ich mich im Bett auf und sah ihn mit der stumpfen Verwunderung eines eben Aufgewachten an.
»Er sieht mich erst noch lange an!« schrie der Dicke. »Was starren Sie mich denn so an? Stehen Sie auf, lieber Freund, stehen Sie auf! Eine halbe Stunde lang wecke ich Sie schon; machen Sie endlich die Augen auf!«
»Was ist denn passiert? Wie spät ist es denn?«
»Es ist noch ziemlich früh, mein Bester; aber unsere holde Fee hat nicht abgewartet, bis es hell wurde, sondern ist ausgerissen. Stehen Sie auf; wir wollen uns an die Verfolgung machen!«
»Was für eine holde Fee?«
»Na unsere, die im Kopf ein bißchen dämlich ist! Ausgerissen ist sie! Schon vor Tagesanbruch ist sie ausgerissen! Ich bin zu Ihnen auf einen Augenblick reingekommen, mein Lieber, bloß um Sie zu wecken, und nun quäle ich mich mit Ihnen schon zwei Stunden lang herum! Stehen Sie auf, lieber Freund; auch Ihr Onkel wartet schon auf Sie. Ein netter Festtag ist das!« fügte er in gereiztem, schadenfrohem Ton hinzu.
»Aber von wem und wovon reden Sie denn?« fragte ich ungeduldig; ich begann übrigens bereits etwas zu erraten. »Doch nicht von Tatjana Iwanowna?«
»Aber gewiß doch! Gerade von ihr! Ich habe es ja vorhergesagt, habe es prophezeit; aber sie wollten nicht hören! Nun hat sie ihnen eine schöne Festtagsbescherung bereitet! Sie ist mannstoll; sie hat nichts anderes als Liebe im Kopf! Pfui Deibel! Und was sagen Sie zu dem Kavalier? Zu dem Kavalier mit dem Spitzbärtchen?«
»Also ist sie wirklich mit Misintschikow davongegangen?«
»Zum Deibel noch mal! Reiben Sie sich doch den Schlaf aus den Augen, mein Lieber, und werden Sie wenigstens jetzt zum hohen Festtag nüchtern! Sie müssen sich wohl gestern beim Abendessen gehörig betrunken haben, wenn Ihnen jetzt noch so wirr im Kopf ist! Wie wird sie denn mit Misintschikow davongegangen sein! Mit Obnoskin ist sie davongegangen, nicht mit Misintschikow! Iwan Iwanowitsch Misintschikow ist ein anständiger Mensch und macht sich jetzt mit uns zur Verfolgung auf.«
»Was Sie nicht sagen!« rief ich und machte sogar auf dem Bett einen Sprung in die Höhe; »also ist sie wirklich mit Obnoskin davongegangen?«
»Nein, Sie sind aber ein gräßlicher Mensch!« erwiderte der Dicke und sprang auf. »Ich komme zu ihm und will ihm als einem gebildeten Menschen das ungewöhnliche Ereignis mitteilen, und da zweifelt er noch! Na, mein Verehrter, wenn Sie mit uns mitwollen, dann stehen Sie auf und fahren Sie in die Hosen; ich habe keine Lust, hier bei Ihnen meine Zunge länger zu strapazieren; ich habe so schon viel kostbare Zeit bei Ihnen verloren!«
Höchst empört verließ er das Zimmer.
Von dieser Nachricht sehr aufgeregt, sprang ich aus dem Bett, zog mich eilig an und lief zum Gutshaus, wo ich meinen Onkel zu finden hoffte. Dort schienen alle noch zu schlafen und von dem Vorgefallenen nichts zu wissen; ich stieg behutsam die Stufen zur Haupttür hinan und stieß im Flur auf Nastasja. Sie trug einen eilig übergeworfenen Morgenrock oder Schlafrock; ihr Haar war in Unordnung: offenbar war sie eben erst aus dem Bett gesprungen; sie schien im Flur auf jemand zu warten.
»Sagen Sie, ist es wahr, daß Tatjana Iwanowna mit Obnoskin weggefahren ist?« fragte sie eilig mit stockender Stimme. Ihr Gesicht sah blaß und erschrocken aus.
»Es soll wahr sein. Ich suche meinen Onkel; wir wollen die beiden verfolgen.«
»Oh, bringen Sie Tatjana Iwanowna zurück, bringen Sie sie so schnell wie möglich zurück! Sie ist verloren, wenn Sie sie nicht zurückbringen!« »Aber wo ist mein Onkel denn?«