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»Nicht vollständig gesund! Na, mit Ihnen ist nichts anzufangen!« erwiderte der Dicke; er war vor Ärger dunkelrot geworden. »Sie haben sich wohl vorgenommen, mich gänzlich wütend zu machen! Haben sich das wohl schon gestern vorgenommen! Eine Verrückte ist sie, mein lieber Herr, wiederhole ich Ihnen, eine total Verrückte; von ›nicht vollständig gesund‹ kann gar nicht die Rede sein. Sie ist von klein auf liebestoll gewesen, und jetzt hat Cupido sie zum Äußersten verleitet. Aber von dem mit dem Spitzbärtchen wollen wir lieber gar nicht reden! Der wird von jetzt an gewiß in Saus und Braus leben, mit dem Geld klimpern und sich halbtot lachen.«

»Glauben Sie denn wirklich, daß er sie sofort verlassen wird?«

»Aber natürlich! Er wird doch ein solches Schätzchen nicht mit sich herumschleppen? Was soll er denn mit ihr anfangen? Er wird sie ausplündern, sie irgendwo an der Landstraße unter einem Busch sitzenlassen und sich davonmachen, und sie kann dann unter dem Busch sitzen und an den Blümchen riechen.«

»Na, du siehst das aber doch zu schwarz, Stepan; so wird es denn doch nicht werden!« rief mein Onkel. »Warum bist du denn übrigens so ärgerlich? Ich wundere mich über dich, Stepan; was hast du denn?«

»Na, als ob ich nicht auch ein Mensch wäre! Da muß man doch wütend werden, auch als Unbeteiligter. Aber vielleicht rede ich so, weil ich sie liebe... Ach, hol die ganze Welt der Deibel! Na, warum bin ich denn hierhergefahren? Warum bin ich denn von meinem Weg abgebogen? Was geht mich denn die ganze Geschichte an? Ja, was geht sie mich an?«

So räsonierte Herr Bachtschejew; aber ich hörte ihm nicht mehr zu und dachte an diejenige, die wir jetzt verfolgten, an Tatjana Iwanowna. Hier ist ihre kurze Biographie, wie ich sie mir später nach den zuverlässigsten Quellen zusammengestellt habe; sie dürfte zum Verständnis der Abenteuer dieses Mädchens unentbehrlich sein. Als armes Waisenkind, das in einem fremden, ungastlichen Haus aufwuchs, dann als armes junges Mädchen und zuletzt als arme alte Jungfer hatte Tatjana Iwanowna ihr ganzes armseliges Leben hindurch den bis zum Rand gefüllten Becher des Leides, der Vereinsamung, der Erniedrigung und der Vorwürfe leeren müssen und die ganze Bitterkeit fremden Brotes gründlich kennengelernt. Da sie von Natur aus einen außerordentlich vergnügten, heiteren, leichtsinnigen Charakter hatte, so konnte sie anfangs ihr trauriges Los noch einigermaßen ertragen und sogar manchmal munter und sorglos lachen; aber als sie älter wurde, forderte das Schicksal schließlich seinen Tribut. Allmählich wurde Tatjana Iwanowna gelb und mager und von einer krankhaften Reizbarkeit und Empfindlichkeit; auch ergab sie sich schrankenlosen Träumereien, die oft von reichlichen Tränenergüssen und krampfhaftem Schluchzen unterbrochen wurden. Je weniger irdische Genüsse ihr die Wirklichkeit gewährte, um so mehr ergötzte und tröstete sie sich durch ihre Einbildungen. Je sicherer und unwiederbringlicher ihre letzten wirklichen Hoffnungen dahinschwanden und ganz vergingen, um so mehr berauschte sie sich an ihren Träumereien, die sich nie verwirklichen konnten. Unerhörte Reichtümer, nie verwelkende Schönheit, elegante, reiche, vornehme Freier, lauter Fürsten und hohe Herren, die für sie ihre Herzen in jungfräulicher Reinheit bewahrt hatten und zu ihren Füßen vor grenzenloser Liebe starben, und endlich er – er, das Ideal von Schönheit, er, der alle möglichen Vorzüge in sich vereinigte und von leidenschaftlicher Liebe zu ihr erfüllt war, ein Künstler, ein Dichter, ein vornehmer Herr – alles zusammen oder abwechselnd das eine oder das andere: all das stand ihr nicht nur im Traum, sondern sogar beinahe im Wachen vor Augen. Ihr Verstand begann bereits zu leiden und vertrug diese Opiumdosen der geheimen ununterbrochenen Träumereien nicht... Und auf einmal trieb das Schicksal in besonders folgenschwerer Weise seinen Scherz mit ihr. Auf der tiefsten Stufe der Erniedrigung, mitten in der traurigsten, herzbeklemmenden Wirklichkeit, als Gesellschafterin einer alten, zahnlosen, mürrischen Dame, die sie für alles schalt und ihr jeden Bissen Brot und jedes abgetragene Kleidungsstück vorhielt, von jedem, der dazu Lust hatte, gekränkt und von niemandem beschützt, von ihrem traurigen Leben niedergedrückt und im stillen in den Wonnen der sinnlosesten, glühendsten Phantasien schwelgend – erhielt sie auf einmal die Nachricht von dem Tod eines entfernten Verwandten, dem schon längst (sie hatte sich in ihrer Leichtfertigkeit niemals darum gekümmert) alle seine näheren Verwandten weggestorben waren, eines sonderbaren Menschen, der wie ein Einsiedler irgendwo weit weg in einem kleinen Nest ein einsames, verdrossenes stilles Leben geführt und sich mit Phrenologie und Wuchergeschäften abgegeben hatte. Und siehe da, ein gewaltiger Reichtum fiel wie durch ein Wunder plötzlich vom Himmel und bildete vor Tatjana Iwanownas Füßen einen Goldhaufen: denn es stellte sich heraus, daß sie die einzige gesetzmäßige Erbin des verstorbenen Verwandten war. Fast vierhunderttausend Silberrubel wurden ihr mit einemmal zuteil. Dieser Hohn des Schicksals gab ihr vollends den Rest. In der Tat, wie sollte ihr ohnehin schon geschwächter Verstand nicht an die Wahrheit der Phantasien glauben, wenn dieselben faktisch sich zu verwirklichen anfingen? Und so verlor die arme Person endgültig den letzten ihr verbliebenen Rest von gesundem Menschenverstand. Ganz benommen von ihrem Glück, versank sie unrettbar in ihre bezaubernde Welt unmöglicher Phantasien und verführerischer Visionen. Weg mit allen Überlegungen, mit allen Zweifeln, mit allen Schranken der Wirklichkeit, mit allen unübertretbaren, sonnenklaren Gesetzen derselben. Ein Lebensalter von fünfunddreißig Jahren und die Einbildung, blendend schön zu sein, ein traurig kalter Lebensherbst und der Wahn von unendlicher Liebeswonne: diese Dinge existierten nun in ihrem Wesen nebeneinander, sogar ohne miteinander zu kollidieren. Etwas von ihren Träumereien hatte sich schon in ihrem Leben verwirklicht; warum sollte dasselbe nicht mit allem der Fall sein? Warum sollte ›er‹ nicht erscheinen? Tatjana Iwanowna überlegte nicht, sie glaubte. Aber während sie auf ihn, auf ihr Ideal wartete, wimmelte es jetzt auf einmal ihrer Meinung nach um sie von Bewerbern: da waren Herren mit allerlei Orden und Herren ohne solche, Zivilisten und Militärs, Linienoffiziere und Chevaliergardisten, Würdenträger und einfache Dichter, Leute, die in Paris, und solche, die nur in Moskau gewesen waren, Männer mit Vollbart und ohne Vollbart, mit Spitzbärtchen und ohne Spitzbärtchen, Spanier und Nichtspanier (aber vorzugsweise Spanier). Alle diese standen ihr Tag und Nacht vor Augen, und zwar in einer erschreckenden Anzahl, die bei ihrer Umgebung ernsthafte Befürchtungen hervorrief; es fehlte nur noch ein Schritt bis zum Irrenhaus. In glänzender Kette drängten sich jetzt all diese schönen Truggestalten liebestrunken um sie. Und das wirkliche Leben faßte sie in derselben phantastischen Weise auf: jeder, den sie ansah, war in sie verliebt; jeder Vorübergehende war ein Spanier; jeder, der starb, war unzweifelhaft aus Liebe zu ihr gestorben. Obendrein fand all dies in ihren Augen noch dadurch seine Bestätigung, daß tatsächlich Dutzende von Leuten wie Obnoskin und Misintschikow, alle mit den gleichen Absichten, sich um sie bemühten. Alle hatten auf einmal begonnen, ihr gefällig zu sein, ihr Liebenswürdigkeiten zu erweisen, ihr zu schmeicheln. Die arme Tatjana Iwanowna wollte nicht argwöhnen, daß das alles um des Geldes willen geschah. Sie war vollständig davon überzeugt, daß alle Menschen plötzlich auf jemandes Wink hin sich gebessert hatten und sämtlich heiter, liebenswürdig, freundlich und gutherzig geworden waren. ›Er‹ war allerdings noch nicht erschienen; aber es unterlag keinem Zweifel, daß er erscheinen werde, und das derzeitige Leben war auch ohnedies so hübsch, so verführerisch, so voll von allerlei Zerstreuungen und fröhlicher Geselligkeit, daß sie gut und gern noch warten konnte. Tatjana Iwanowna naschte Konfekt, pflückte die Blumen des Vergnügens und las Romane. Die Romane entflammten ihre Phantasie noch mehr und wurden gewöhnlich schon bei der zweiten Seite hingeworfen. Sie brachte es nicht fertig, weiterzulesen, da gleich die ersten Zeilen, die unbedeutendste Anspielung auf die Liebe, manchmal schon die bloße Beschreibung einer Örtlichkeit, eines Zimmers, eines Kleidungsstücks, sie in Träumereien versinken ließen. Unaufhörlich wurden ihr neue Kostüme, Spitzen, Hüte, Häubchen, Bänder, Muster, Schnittbogen, Dessins, Konfekt, Blumen und Schoßhündchen gebracht. Drei Mädchen waren in der Mädchenstube tagaus, tagein mit Nähen beschäftigt; das Fräulein aber probierte vom Morgen bis zum Abend und sogar noch in der Nacht ihre Taillen und Falbelröcke an und drehte sich vor dem Spiegel hin und her. Sie war nach der Erbschaft sogar gewissermaßen jünger und hübscher geworden. Ich weiß bis auf den heutigen Tag nicht, auf welche Weise sie eigentlich mit dem verstorbenen General Krachotkin verwandt war. Ich bin immer davon überzeugt gewesen, daß diese Verwandtschaft lediglich eine Erfindung der Generalin war, die den Wunsch hegte, Tatjana Iwanowna in ihre Gewalt zu bekommen und dann um jeden Preis meinen Onkel mit dem Geld derselben zu verheiraten. Herr Bachtschejew hatte recht, wenn er von Cupido sprach, der sie zum Äußersten verleite; daß aber mein Onkel, sobald er von ihrer Flucht mit Obnoskin hörte, ihr nachzusetzen und sie, nötigenfalls mit Gewalt, zurückzuholen beschloß, war durchaus vernünftig. Die arme Person war nicht imstande, ohne Obhut zu leben, und würde sofort zugrunde gegangen sein, wenn sie in schlechte Hände geraten wäre.